Dienstag, 10. Mai 2011

Manfred Roux über die Informatik-Ausbildung

Manfred Roux trat 1974 in den Bereich Softwareentwicklung der IBM ein und bekleidete dort ab 1979 verschiedene Aufgaben im Management. Seit 1995 leitete er die systemnahe Softwareentwicklung für Betriebssysteme, ab 1997 den Bereich Softwareentwicklung Information Management. Von 2003 bis zu seinem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst der IBM im Jahr 2005 war er verantwortlich für die Beziehungen der IBM zu Hochschulen in Deutschland, Österreich und der Schweiz.



Bertal Dresen (BD): Sie haben sich in den letzten Jahren Ihrer Berufstätigkeit sehr stark mit dem Verhältnis zwischen Industrie und Hochschulen befasst. Dabei spielte die Frage der idealen Ausbildung unseres Nachwuchses vermutlich eine zentrale Rolle. Sehe ich das richtig oder gab es andere gleichwertige Themen? 

Manfred Roux (MR): Die IBM Wissenschaftsbeziehungen – oder wie es jetzt heißt: die IBM Academic Initiative – hatte mehrere Stoßrichtungen. Das Thema der „Idealen Ausbildung“ spielte darin eigentlich bestenfalls eine untergeordnete Rolle.

Eine Zielsetzung der Academic Initiative war, die Ausbildung junger Menschen mit IBM Produktlinien zu fördern und zu unterstützen. Zu dem Zweck stellt die IBM Studenten und Hochschullehrern fast das gesamte Softwareproduktspektrum kostenlos zur Verfügung. So haben wir inzwischen in Deutschland eine sehr aktive Community, die zum Beispiel die Information-Management-Produkte der IBM in der Lehre einsetzt. Ziel ist es, mit der Qualität der Produkte zu überzeugen und die Entscheider von morgen mit den IBM Produkten und ihren Vorteilen vertraut zu machen. Ein wichtiger Nebeneffekt ist natürlich, dass die IBM an diesen Lehrstühlen Absolventen findet, die bereits mit den IBM Produkten vertraut sind und die relativ nahtlos in der Entwicklung oder Beratung eingesetzt werden können.

Die zweite Stoßrichtung war, die Kontakte zu Hochschulen zu intensivieren, um auf diesem Weg die „Besten der Besten“ mit Hilfe der Lehrstuhlinhaber zu identifizieren und später möglicherweise für die IBM zu gewinnen. Dazu gab es verschiedene Studentenprogramme, von denen das Projektpraktikum „Extreme Blue“ vermutlich das bekannteste war.

BD: Bei meinem letzten Besuch im IBM Labor im Oktober 2008 zeigte der damalige Laborleiter eine Statistik über die berufliche Zusammensetzung der Labor-Mitarbeiterschaft. Wenn ich mich recht erinnere, lagen Informatiker mit Abstand an der Spitze. Reflektiert dies nur die Umorientierung von einen ehemals auf Hardware-Entwicklung ausgerichteten Labors auf ein Software-Labor, oder spricht es generell dafür dass Informatik-Absolventen inzwischen auch in der Industrie geschätzt werden?

MR: Informatik-Absolventen werden selbstverständlich in der Industrie geschätzt; das sieht man schon allein daran, dass Informatiker problemlos angemessen bezahlte unbefristete Stellen finden. 

In der deutschen IBM Entwicklung ist es in der Tat ein Anzeichen für den Wandel von einer stark Hardware-lastigen zu einer Software-Entwicklungsorganisation. In den Zeiten vor 1990 gab es einen reinen Software-Entwicklungsbereich und Hardware-Entwicklungsbereiche, die sich unter anderem mit Prozessoren, Schaltkreisen, Druckern, Point-of-Sale Terminals und Bankautomaten beschäftigten. Heute hat das IBM Entwicklungszentrum in Böblingen mehrere Software-Entwicklungsbereiche, die mit Entwicklungsaktivitäten vom Betriebssystem Linux bis zu Websphere die IBM Software-Produktpalette abdecken, aber nur noch einen Hardware-Entwicklungsbereich. Zusätzlich gewinnt das Thema Services um diese Software-Produktpalette seit einigen Jahren an Bedeutung.

BD: Welche Erfahrungen mit Informatik-Absolventen lassen sich konstatieren? Wenn man sich ansieht, wie sich die Informatik-Absolventen auf die drei unterschiedlichen Bildungswege, Universität, Fachhochschule und Berufsakademie, verteilen, was besagt das? Stimmt mein Eindruck von früher auch heute noch, dass die BA-ler in gewissem Sinne die Nase vorn haben, da sie das Unternehmen bereits sehr früh kennen lernen?

MR: Ich denke, jeder der drei Wege bietet für die Studierenden gewisse Vorteile. Der BA-ler macht eine intensive Ausbildung mit und ist dabei eng ins Unternehmen eingebunden. Der FH-Absolvent macht ein relativ kurzes Studium mit ersten praktischen Erfahrungen in der Industrie und der Uni-Absolvent verfügt über ein stärkeres theoretisches Rüstzeug. 

Meine persönlichen Erfahrungen mit BA- und FH-Absolventen, die ich dem „Bachelor“ gleichsetzen würde, waren sehr gut. Nicht nur, dass diese Informatiker früher und jünger ins Unternehmen kamen, sie brachten auch weniger Ansprüche und eine stärkere Praxisorientierung mit. Ich habe aber auch Diplominformatiker mit Universitätsabschluss eingestellt, die sehr schnell produktiv wurden und ihr theoretisches Rüstzeug für Projekte sehr gewinnbringend einsetzen konnten.

Wenn ich heute mit meinen aktiven Kollegen spreche, dann gewinnen diese aus den Universitäten zum Teil Absolventen für die IBM, die durch die Kooperation zwischen IBM und den Hochschulen im Rahmen der Academic Initiative bereits interessantes Spezialwissen mitbringen und so einen sehr schnellen Start im Unternehmen haben.

Den Erfolg der BA-Ausbildung kann man auch in der IBM beobachten: Einer der Geschäftsführer der IBM Deutschland, Michael Diemer, ist Absolvent der Berufsakademie. Ich kenne aus dem Labor Beispiele von BA-Absolventen, die hohe technische Anerkennung als „Senior Technical Staff Member“ erreicht haben. Will heißen: Der Ausbildungsweg ist nicht notwendigerweise ein guter Indikator für den beruflichen Erfolg.

BD: Sie haben sich in Vorträgen auch zu den inhaltlichen Schwerpunkten der Informatiker-Ausbildung geäußert. Das betraf sowohl die fachlichen (‚harten‘) Fähigkeiten wie die nicht-fachlichen (‚weichen‘) Fähigkeiten. Wo sehen Sie heute die wichtigsten Probleme? Wo besteht akuter Korrektur- oder Nachholbedarf? Ist Ihrer Ansicht nach der Vorwurf berechtigt, dass es der Ausbildung an Praxisbezug mangelt? Was verstehen Sie darunter und was lässt sich tun, um dem entgegen zu wirken?

MR: Ich definiere „Praxisbezug der Lehre“ so, dass den Studenten das für das Berufsleben notwendige Wissen und die notwendigen Fertigkeiten nähergebracht werden, dass sich das Studium an den Anforderungen des Jobmarkts orientiert – die Absolventen brauchen die Fähigkeiten und Fertigkeiten, die sie befähigt, im heutigen industriellen Umfeld erfolgreich zu sein. Das bedeutet, dass theoretische Ansätze mit realistischen, praktischen Beispielen und Experimenten untermauert sein sollten, dass auch praktische Erfahrungen mit gegenwärtig relevanten Technologien vorhanden sind.

Ich halte den Praxisbezug der heutigen Informatiker im Allgemeinen für gut bis sehr gut. Es ist für Unternehmen möglich, Absolventen einzustellen, die sehr schnell produktiv werden. Einarbeitungszeiten von Monaten, wie wir sie zum Teil in den 1980er Jahren noch erlebt haben, sind heute undenkbar.

Was in der Ausbildung fehlt, sind Aspekte der industriellen Softwareentwicklung. Zum einen geht es dabei um Softwareentwicklung in großen Teams, mit all den Problemen, die damit verbunden sind, wie zum Beispiel Kommunikation und Abstimmung mit anderen, Änderungskontrolle oder Dokumentation. Ebenso heißt Entwicklung meist „Pflege von Alt-Software“. Hierbei bedeutet Entwicklung meist „Ändern und Erweitern des Bestehenden“ ohne bestehende Schnittstellen zu zerstören und nur ganz selten Entwurf und Implementierung auf einer weißen Tafel.

Was ebenso fehlt, sind die „Soft Skills“. Ich war immer wieder überrascht, wie schwer sich manche Informatiker (aber auch andere Ingenieure) mit exzellenten Zeugnissen in Assessment-Centers taten, wo es nicht um Fachwissen ging sondern wo Fähigkeiten wie Antrieb, Kooperationsbereitschaft, Kommunikation oder Teamarbeit beobachtbar sein sollten. Diese Kompetenzen, die für Softwareentwickler in Teams unbedingt notwendig sind, waren häufig nur schwach oder gar nicht vorhanden. Ich denke, so etwas müsste und könnte im Studium praktiziert und geübt werden.

BD: Sie verfolgen sicherlich auch die Bologna-Diskussion um die zweistufigen Abschlüsse, zuerst Bachelor, dann Master. Teilen Sie die Meinung einiger Universitätsprofessoren, dass Unis den Master-Abschluss zum ‚Regelabschluss‘ machen sollen, also für annähernd 100% aller Studienanfänger? Wie wichtig ist eine frühe Berufsbefähigung gegenüber einer exzellenten Berufsfertigkeit? Gibt es Erfahrungen in der IBM mit Bachelor-Absolventen und wie sind diese? Wird IBM überhaupt Bachelor-Absolventen in signifikanter Zahl einstellen?

MR: Wenn ich mich recht erinnere, hatte Bologna zwei Zielsetzungen: zum einen sollten die Hochschulausbildungen in Europa „vergleichbar“ gemacht werden, zum anderen ging es aber in Deutschland auch darum, Absolventen schneller ins Berufsleben zu bringen, die Ausbildungszeit zu verkürzen. Dieser Zielsetzung würde aber der Regelabschluss „Master“ widersprechen. 

In Deutschland denkt man in der Politik eher in Quoten für den Übergang. Das halte ich für falsch – wer befähigt und willig ist, sollte die Gelegenheit haben, den Master-Studiengang an das Bachelorstudium anzuschließen. Das Konzept, nach ein paar Jahren Berufstätigkeit an die Universität zurückzukehren, um einen Master­studiengang abzuschließen, halte ich für Informatiker, Ingenieure und Natur­wissenschaftler für unrealistisch. Diese Leute stehen mitten im Berufsleben und haben mit einiger Sicherheit durch einen Masterstudiengang keinerlei finanziellen Gewinn, sondern nur einen Einkommensverlust. 

In der Entwicklung haben wir junge Absolventen bevorzugt – die demonstrierten mit ihrem frühen Studienabschluss Antriebskraft und Zielorientierung. Für einen Arbeitgeber ist es sicher besser, einen 25-jährigen Absolventen mit Master oder Diplom einzustellen, als einen über 30-jährigen Promovierten: Der mit 25 eingestellte kann nach fünf Jahren Berufserfahrung im Unternehmen mit einiger Sicherheit mehr bewegen als der später Eingestellte mit höherer Qualifikation. Dem 25-jährigen kann ich bei entsprechender Leistung eine attraktive Laufbahnperspektive aufzeigen. Bei dem älteren Promovierten fällt das erheblich schwerer, außer er entpuppt sich als sofortiger Hit, der sehr schnell signifikante Beiträge leisten kann. Das war in meinem Umfeld kaum jemals der Fall. Ich habe leider ausreichend viele Beispiele erlebt, wo „Verdiente“ mit Vorschusslorbeeren und hohen Einstellgehälter in die Firma eingetreten sind, die die Erwartungen ihres Umfelds nicht erfüllen konnten. 

BD: Wie finden Sie es, dass diese ganze Diskussion fast ohne Beteiligung der Kunden stattfinden? Sie erinnern sich an meinen Spruch[1] vom Brötchenbäcker und seinen Kunden. Wer kann da was tun? Wen muss man anstoßen?

MR: Ich denke, die BA und die FH haben hier geringe Probleme. Beide Institutionen verstehen sich als Ausbildungsstätten für Informatiker, die optimal für Beschäftigung in der Industrie geeignet sein sollen. Teilweise habe ich erlebt, wie einzelne FHs sich bemühen, Alleinstellungsmerkmale ihrer Ausbildung zu definieren. 

Alle Hochschulen − und das gilt insbesondere für Universitäten − kennen die Bedürfnisse der Industrie, wehren sich aber teilweise dagegen, als Zulieferer der Industrie verstanden zu werden. Da hilft nur den Kontakt zwischen Hochschule und Industrie zu intensivieren. Ein Weg sind die Forschungskooperationen, die alle großen Hersteller mit einzelnen Universitäten und Lehrstühlen haben – nicht nur die IBM ist dort präsent, sondern ebenfalls Microsoft, SAP und andere.  Ein weiterer ergänzender Ansatz ist, dass Industrievertreter an den Universitäten als Sprecher und Lehrbeauftragte auftreten, um Studenten und Lehrstuhlinhabern die Anforderungen des Berufsbilds „Informatiker in der Industrie“ zu verdeutlichen. Aber das ist sicher ein langer Weg zum Ziel – das Beharrungsvermögen ist doch beträchtlich.

BD: Haben Sie den Eindruck, dass die Informatik-Anwender (Banken, Autoindustrie, Handel) in Ausbildungsfragen ganz andere Forderungen stellen als die Primärindustrie (Hardware- und Software-Hersteller, Berater)? Wo liegen die Unterschiede?

MR: Diese Frage kann ich nicht kompetent beantworten, weil ich nur eine Seite kenne. Ich habe gelegentlich über den IBM Entwicklungsprozess vor Teilnehmern aus der Autoindustrie und der Luftfahrtindustrie gesprochen. In den Briefings und den anschließenden Q&A’s habe ich den Eindruck gewonnen, dass in dem Umfeld andere Aspekte, wie zum Beispiel Projektmanagement, eine große, vernachlässigte Rolle spielen. 

Das war ja in der IBM ebenso bis Gerstner aufgeräumt hat und dem Thema „Projektmanagement“ eine zentrale Rolle in der Ausbildung eingeräumt wurde. Da wurde sehr viel Geld investiert und ich denke, wir sehen den Erfolg dieser Bemühungen im Geschäftsergebnis der IBM bei den Services und der Software. 

BD: Herr Roux, haben Sie vielen Dank für das Interview. Ich vermute, es wird einigen Leserinnen und Lesern Stoff zum Nachdenken geben.



[1] Ich beziehe mich hier auf eine Aussage, von der ich nicht mehr weiß, wo ich sie herhabe: Modern sein wollende Hochschulen reden davon, dass sie Studierende als Kunden ansehen. Das ist aber nicht ganz richtig. Für einen Bäcker, der Brötchen backt, sind nicht die Brötchen die Kunden, sondern die Hausfrauen, die Brötchen kaufen.

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