Diese Frage bewegt nicht nur Historiker, sondern jeden etwas nachdenklich veranlagten Menschen. Ein Historiker, der sich diese Frage gestellt hat, ist Ian Morris. Er wurde 1960 in der englischen Kohlestadt Stoke on Trent geboren und lehrt zurzeit Geschichte und Archäologie im kalifornischen Stanford. Die von ihm gewählte Form der Frage heißt: „Wer regiert die Welt?“ Das klinkt sehr politisch, ist aber nicht so gemeint. Am Strand von Sardinien habe ich mich gerade durch sein fast 650 Seiten umfassende Werk durchgearbeitet. Ein Großteil seiner potentiellen Leser würde hierfür das Wort ‚quälen‘ benutzen, was bei mir nicht zutraf, da ich viel Zeit und großes Interesse hatte.
Seine Betrachtung beginnt damit, einige der üblichen Triebfedern auszuschließen, die von andern Historikern als zutreffend angesehen werden. Dazu gehören ein göttlicher Plan, strenger Determinismus, Unterschiede der menschlichen Rassen, Einfluss einzelner Persönlichkeiten und der schiere Zufall. Was übrigbleibt, sind die unterschiedliche Geografie und Veränderungen des globalen Klimas. Mit der Geografie verbunden sind die Fruchtbarkeit des Bodens, lokale Niederschlagsmengen und Wasservorräte, mineralische Bodenschätze und – etwas überraschend – die für Handel und Wandel wichtigen Verkehrsmöglichkeiten. Ich selbst kann mir eine Menschheitsgeschichte ohne markante Persönlichkeiten nicht vorstellen. Nach meinem Dafürhalten wäre ohne Cäsar, Christus, Mohammed, Napoléon, Bismarck, Hitler und Churchill im Westen oder Konfuzius, Buddha, dem Gründer der Quin-Dynastie (Chihuangdi) und Mao Tse-tung im Osten die Geschichte ganz anders verlaufen. Morris bestreitet dies.
Nachdem dies geklärt ist, gibt er an, wie er die Fortentwicklung der Menschheit misst. Er vermeidet das Wort Evolution, das Charles Darwin erst in der siebten Auflage seines Forschungsberichts benutzte, und seither mit dessen Namen aufs Engste verbunden ist. Als vorhandenen Maßstab lobt er den Human Development Index (HDI) der UN, der nur auf drei Größen basiert, nämlich durchschnittlicher Lebensdauer, Bildung und Einkommen. Für seine Zwecke definiert er einen eigenen Index für gesellschaftliche Entwicklung (Morris-Index). Dazu wählt er fünf Basisgrößen aus: Verstädterung, Energieverbrauch, gesellschaftliche Organisation, Informationsaustausch und Kriegsführungskapazität. Der genauen Erläuterung der Datenquellen sowie der Ableitung des Index über die Zeit von 14000 vor bis 2000 nach Christus ist ein 20-seitiger Anhang gewidmet. Er führt die Berechnung für zwei Weltregionen aus, die er Osten und Westen nennt. Der Osten umfasst China, Japan und Indien. Der Westen besteht aus dem vorderen Orient (einschließlich Ägypten, Irak und Iran), Europa, Amerika und Australien.
Was noch fehlt, ist eine Annahme über den menschlichen Grundcharakter. Morris geht davon aus, dass Menschen von Natur aus faul, gierig und ängstlich sind. Sie suchen daher – meist unbewusst – nach Lebensbedingungen, die einfach, einträglich und sicher sind. Das erklärt nicht nur Völkerwanderungen, sondern auch die Erfindung und Einführung neuer Techniken und Maschinen. Das klingt zwar sehr pessimistisch, ist aber eine durchaus tragfähige Arbeitshypothese.
Als Ergebnis seiner Untersuchungen verkündet Morris, dass nach seinem Index der Westen vom Ende der letzten Eiszeit bis zum Zusammenbruch des Römischen Reiches (etwa um das Jahr 550) vorne lag, dann der Osten übernahm, bis er um das Jahr 1770 wieder vom Westen überholt wurde. Interessant ist dabei, dass sich innerhalb der Regionen die Zentren der Entwicklung mehrmals verschoben. Im Westen entwickelte sich Landwirtschaft und Städtebau zuerst im so genannten Fruchtbaren Halbmond, einem Bogen beginnend im nördlichen Iran, über den Irak und Syrien bis nach Palästina reichend. Danach verschob es sich konstant nach Westen über Anatolien, Griechenland, Italien bis an die Atlantikküste (England, Frankreich, Niederlande, Spanien und Portugal) und von dort über den Atlantik in die USA. In China verschob sich das Zentrum von Gebiet des Gelben Flusses nach Süden über den Jangtse hinaus, und schwappte mehrmals hin und her. Nur in der Frühphase war der Abstand zwischen Westen und Osten sehr beträchtlich. So erfolgte im Osten die Domestizierung von Haustieren und die Entwicklung gewisser Grablegungsriten volle 2000 Jahre später als im Westen, verlief aber in exakt der gleichen Reihenfolge.
Insgesamt zeigt sein Index eine stetige, fast immer langsam nach oben verlaufende Tendenz. Der numerische Wert steigt um wenige Prozentpunkte von Jahrhundert zu Jahrhundert. Etwa ab dem Jahr 1850 steigt die Kurve plötzlich fast senkrecht nach oben, und zwar für beide Regionen. Die Ursache liegt vor allem im verstärkten Informationsaustausch, wie er durch die rasant sich entwickelnde Verkehrstechnik (Eisenbahn, Auto, Flugzeug) und die Informationstechnik (Fernschreiber, Telefon, Fernsehen, Internet) ermöglicht wird. Obwohl die zugrundeliegenden Fakten stimmen, treten hier bei mir erste Zweifel an der Qualität des Morris-Index auf.
Auch einige Teilaspekte seines ‚Weltmodells‘ sind etwas gewöhnungsbedürftig. Dass Klimawandel und Umweltsünden allerorten als Ursache von Katastrophen gesehen werden, gehört heute mit zum guten Ton. Auch Jared Diamond tat dies in seinem beeindruckenden Buch ‚Kollaps‘. Neu ist, dass Morris nicht den Menschen als Hauptverursacher sieht, sondern Schwankungen in der Umlaufbahn der Erde um die Sonne. Zweierlei Automatismen sieht Morris am Werk. Einerseits hätten alle hochentwickelten Zivilisationen die Tendenz, sich selbst die Grundlagen ihres Bestehens zu entziehen (etwa durch Raubbau an Ressourcen). Andererseits hätten Peripherie-Gebiete den Zentren gegenüber einen vorübergehenden Konkurrenzvorteil (etwa in niedrigen Löhnen), durch den sie sich immer wieder nach vorne schieben.
Nachdem Morris sich ein derart mächtiges Instrumentarium zur Interpretation der Vergangenheit geschaffen hatte, reizte es ihn, auch einige Aussagen über die Zukunft zu treffen. Dieser Teil ist für mich sehr enttäuschend. Einerseits beklagt er, dass die Betrachtung der Vergangenheit nicht allzu hilfreich sei, wenn man Prognosen machen will. Mit andern Worten, man kann sich eigentlich das Studium der Geschichte ganz sparen. Andererseits neigt er dazu gewissen extremen Tendenzen besonders viel Aufmerksamkeit zu schenken. Dazu gehören auf der positiven Seite die Spekulationen des Informatikers Ray Kurzweil über die bevorstehende Singularität, also das Zusammenwachen von Menschen und Maschinen. Auf der negativen Seite sieht er die Gefahr der Selbstauslöschung der Menschheit durch ein klimatisches oder atomares Fiasko. Er kann sich aber für keines der beiden Szenarien entscheiden. Dass der Osten den Westen demnächst wieder einmal überholt, scheint eine ausgemachte Sache zu sein. Eine bessere Jahreszahl als Journalisten vermag er auch nicht anzubieten. Es wird zwischen 2020 und 2030 geschehen. Nur in einem Punkte stimme ich seiner Prognose voll zu: In Zukunft ist eine Zweiteilung der historischen Betrachtung zwischen Osten und Westen kaum mehr sinnvoll. Beide Regionen werden immer mehr interagieren und sich aneinander anpassen. Es gibt dann nur noch eine Geschichte der Menschheit.
Fazit: Eine sehr global ausgerichtete Geschichtsdarstellung, die primär versucht der zentralen Frage hinter dem Geschehen auf den Grund zu gehen, dem Warum. Es werden notwendigerweise Vereinfachungen getroffen und manche Aspekte nur angedeutet. Völlig zufriedenstellend sind seine Antworten leider nicht – das zu erwarten wäre auch unrealistisch. Seine Sicht der Dinge weicht jedoch vom üblichen (nationalen oder eurozentrischen) Denkschema sehr ab und regt zum eigenen Nachdenken an. Dass er immer wieder die Frage stellt, was hätte anders laufen können als es lief, ist an sich müßig und beim dritten Mal lästig. Als Beispiel: Hätte Columbus kein Geld von Königin Isabella bekommen für seine Fahrt von Huelva in die Karibik, hätten dann die Chinesen der Ming-Dynastie Amerika zuerst entdeckt? Seine Antwort: Wahrscheinlich nicht. Meine Reaktion als Leser: Na und!