Samstag, 30. Juli 2011

Was treibt die Geschichte der Menschheit voran?

Diese Frage bewegt nicht nur Historiker, sondern jeden etwas nachdenklich veranlagten Menschen. Ein Historiker, der sich diese Frage gestellt hat, ist Ian Morris. Er wurde 1960 in der englischen Kohlestadt Stoke on Trent geboren und lehrt zurzeit Geschichte und Archäologie im kalifornischen Stanford. Die von ihm gewählte Form der Frage heißt: „Wer regiert die Welt?“ Das klinkt sehr politisch, ist aber nicht so gemeint. Am Strand von Sardinien habe ich mich gerade durch sein fast 650 Seiten umfassende Werk durchgearbeitet. Ein Großteil  seiner potentiellen Leser würde hierfür das Wort ‚quälen‘ benutzen, was bei mir nicht zutraf, da ich viel Zeit und großes Interesse hatte.

Seine Betrachtung beginnt damit, einige der üblichen Triebfedern auszuschließen, die von andern Historikern als zutreffend angesehen werden. Dazu gehören ein göttlicher Plan, strenger Determinismus, Unterschiede der menschlichen Rassen, Einfluss einzelner Persönlichkeiten und der schiere Zufall. Was übrigbleibt, sind die unterschiedliche Geografie und Veränderungen des globalen Klimas. Mit der Geografie verbunden sind die Fruchtbarkeit des Bodens, lokale Niederschlags­mengen und Wasservorräte, mineralische Bodenschätze und – etwas überraschend – die für Handel und Wandel wichtigen Verkehrsmöglichkeiten. Ich selbst kann mir eine Menschheitsgeschichte ohne markante Persönlichkeiten nicht vorstellen. Nach meinem Dafürhalten wäre ohne Cäsar, Christus, Mohammed, Napoléon, Bismarck, Hitler und Churchill im Westen oder Konfuzius, Buddha, dem Gründer der Quin-Dynastie (Chihuangdi) und Mao Tse-tung im Osten die Geschichte ganz anders verlaufen. Morris bestreitet dies.

Nachdem dies geklärt ist, gibt er an, wie er die Fortentwicklung der Menschheit misst. Er vermeidet das Wort Evolution, das Charles Darwin erst in der siebten Auflage seines Forschungsberichts benutzte, und seither mit dessen Namen aufs Engste verbunden ist. Als vorhandenen Maßstab lobt er den Human Development Index (HDI) der UN, der nur auf drei Größen basiert, nämlich durchschnittlicher Lebensdauer, Bildung und Einkommen. Für seine Zwecke definiert er einen eigenen Index für gesellschaftliche Entwicklung (Morris-Index). Dazu wählt er fünf Basisgrößen aus: Verstädterung, Energieverbrauch, gesellschaftliche Organisation, Informationsaustausch und Kriegsführungskapazität. Der genauen Erläuterung der Datenquellen sowie der Ableitung des Index über die Zeit von 14000 vor bis 2000 nach Christus ist ein 20-seitiger Anhang gewidmet. Er führt die Berechnung für zwei Weltregionen aus, die er Osten und Westen nennt. Der Osten umfasst China, Japan und Indien. Der Westen besteht aus dem vorderen Orient (einschließlich Ägypten, Irak und Iran), Europa, Amerika und Australien.

Was noch fehlt, ist eine Annahme über den menschlichen Grundcharakter. Morris geht davon aus, dass Menschen von Natur aus faul, gierig und ängstlich sind. Sie suchen daher – meist unbewusst – nach Lebensbedingungen, die einfach, einträglich und sicher sind. Das erklärt nicht nur Völkerwanderungen, sondern auch die Erfindung und Einführung neuer Techniken und Maschinen. Das klingt zwar sehr pessimistisch, ist aber eine durchaus tragfähige Arbeitshypothese.

Als Ergebnis seiner Untersuchungen verkündet Morris, dass nach seinem Index der Westen vom Ende der letzten Eiszeit bis zum Zusammenbruch des Römischen Reiches (etwa um das Jahr 550) vorne lag, dann der Osten übernahm, bis er um das Jahr 1770 wieder vom Westen überholt wurde. Interessant ist dabei, dass sich innerhalb der Regionen die Zentren der Entwicklung mehrmals verschoben. Im Westen entwickelte sich Landwirtschaft und Städtebau zuerst im so genannten Fruchtbaren Halbmond, einem Bogen beginnend im nördlichen Iran, über den Irak und Syrien bis nach Palästina reichend. Danach verschob es sich konstant nach Westen über Anatolien, Griechenland, Italien bis an die Atlantikküste (England, Frankreich, Niederlande, Spanien und Portugal) und von dort über den Atlantik in die USA. In China verschob sich das Zentrum von Gebiet des Gelben Flusses nach Süden über den Jangtse hinaus, und schwappte mehrmals hin und her. Nur in der Frühphase war der Abstand zwischen Westen und Osten sehr beträchtlich. So erfolgte im Osten die Domestizierung von Haustieren und die Entwicklung gewisser Grablegungsriten volle 2000 Jahre später als im Westen, verlief aber in exakt der gleichen Reihenfolge.

Insgesamt zeigt sein Index eine stetige, fast immer langsam nach oben verlaufende Tendenz. Der numerische Wert steigt um wenige Prozentpunkte von Jahrhundert zu Jahrhundert. Etwa ab dem Jahr 1850 steigt die Kurve plötzlich fast senkrecht nach oben, und zwar für beide Regionen. Die Ursache liegt vor allem im verstärkten Informations­austausch, wie er durch die rasant sich entwickelnde Verkehrstechnik (Eisenbahn, Auto, Flugzeug) und die Informationstechnik (Fernschreiber, Telefon, Fernsehen, Internet) ermöglicht wird. Obwohl die zugrundeliegenden Fakten stimmen, treten hier bei mir erste Zweifel an der Qualität des Morris-Index auf.

Auch einige Teilaspekte seines ‚Weltmodells‘ sind etwas gewöhnungsbedürftig. Dass Klimawandel und Umweltsünden allerorten als Ursache von Katastrophen gesehen werden, gehört heute mit zum guten Ton. Auch Jared Diamond tat dies in seinem beeindruckenden Buch ‚Kollaps‘. Neu ist, dass Morris nicht den Menschen als Hauptverursacher sieht, sondern Schwankungen in der Umlaufbahn der Erde um die Sonne. Zweierlei Automatismen sieht Morris am Werk. Einerseits hätten alle hochentwickelten Zivilisationen die Tendenz, sich selbst die Grundlagen ihres Bestehens zu entziehen (etwa durch Raubbau an Ressourcen). Andererseits hätten Peripherie-Gebiete den Zentren gegenüber einen vorübergehenden Konkurrenzvorteil (etwa in niedrigen Löhnen), durch den sie sich immer wieder nach vorne schieben.

Nachdem Morris sich ein derart mächtiges Instrumentarium zur Interpretation der Vergangenheit geschaffen hatte, reizte es ihn, auch einige Aussagen über die Zukunft zu treffen. Dieser Teil ist für mich sehr enttäuschend. Einerseits beklagt er, dass die Betrachtung der Vergangenheit nicht allzu hilfreich sei, wenn man Prognosen machen will. Mit andern Worten, man kann sich eigentlich das Studium der Geschichte ganz sparen. Andererseits neigt er dazu gewissen extremen Tendenzen besonders viel Aufmerksamkeit zu schenken. Dazu gehören auf der positiven Seite die Spekulationen des Informatikers Ray Kurzweil über die bevorstehende Singularität, also das Zusammenwachen von Menschen und Maschinen. Auf der negativen Seite sieht er die Gefahr der Selbstauslöschung der Menschheit durch ein klimatisches oder atomares Fiasko. Er kann sich aber für keines der beiden Szenarien entscheiden. Dass der Osten den Westen demnächst wieder einmal überholt, scheint eine ausgemachte Sache zu sein. Eine bessere Jahreszahl als Journalisten vermag er auch nicht anzubieten. Es wird zwischen 2020 und 2030 geschehen. Nur in einem Punkte stimme ich seiner Prognose voll zu: In Zukunft ist eine Zweiteilung der historischen Betrachtung zwischen Osten und Westen kaum mehr sinnvoll. Beide Regionen werden immer mehr interagieren und sich aneinander anpassen. Es gibt dann nur noch eine Geschichte der Menschheit.

Fazit: Eine sehr global ausgerichtete Geschichtsdarstellung, die primär versucht der zentralen Frage hinter dem Geschehen auf den Grund zu gehen, dem Warum. Es werden notwendigerweise Vereinfachungen getroffen und manche Aspekte nur angedeutet. Völlig zufriedenstellend sind seine Antworten leider nicht – das zu erwarten wäre auch unrealistisch. Seine Sicht der Dinge weicht jedoch vom üblichen (nationalen oder eurozentrischen) Denkschema sehr ab und regt zum eigenen Nachdenken an. Dass er immer wieder die Frage stellt, was hätte anders laufen können als es lief, ist an sich müßig und beim dritten Mal lästig. Als Beispiel: Hätte Columbus kein Geld von Königin Isabella bekommen für seine Fahrt von Huelva in die Karibik, hätten dann die Chinesen der Ming-Dynastie Amerika zuerst entdeckt? Seine Antwort: Wahrscheinlich nicht. Meine Reaktion als Leser: Na und!

Montag, 11. Juli 2011

Das erste halbe Jahr dieses Blogs – statistisch gesehen

Wie bereits nach dem ersten Monat so will ich auch nach dem ersten halben Jahr meine Statistiken vorstellen und diskutieren. Da ich in den nächsten Wochen nicht dazu kommen werde, tue ich es heute mit dem Stand 10.7.2011. Man verzeihe mir die kleine Ungenauigkeit. Ich glaube nämlich nicht, dass sich in den nächsten Wochen noch wesentliche Änderungen im Trend ergeben werden. Als erstes zeige ich die Anzahl der Besucher (Seitenaufrufe) nach Ländern. Zum Vergleich sind wieder die Seitenaufrufe des am gleichen Tage (dem 23.1.2010) gestarteten Blogs zu dem Buch ‚Schuld sind die Computer!‘ angegeben. 


Der Anteil von Besuchern aus dem Ausland ist bei diesem Blog von damals 15 auf heute 23% angewachsen; beim SsdC-Blog beträgt er 14%. Das ist umso erstaun­licher, als beide Blogs in Deutsch sind. Unter den nicht ausgewiesenen Ländern sind Dänemark, Finnland, Iran, Italien, Kanada, Malaysia, Niederlande, Rumänien, Russi­sche Republik und Zypern. Hinter dem Leser aus Tunesien vermute ich meinen Freund Peter Hiemann, der dort ein Ferienhaus besitzt. Die Zahl der Kollegen, die sich als Abonnenten des Blog zu erkennen geben, ist mit vier konstant geblieben. Diese Idee scheint nicht beliebt zu sein.

Was das Interesse an den einzelnen Beiträgen betrifft, ergibt sich für Bertals Blog zurzeit die hier dargestellte Reihenfolge für die 10 populärsten Themen. Lange Zeit lag Wikileaks an der Spitze, ist aber inzwischen auf Platz 3 zurückgefallen. Es  freut mich, dass es nicht nur solche gesellschaftlich umstrittenen Themen sind, die auf den ersten Plätzen liegen. Es überwiegen eindeutig die fachlichen Themen. Auffallend ist, dass gewisse Beiträge auch nach 3-4 Monaten noch gelesen werden. Anders als bei dem Schwester-Blog ist die Verteilungskurve sehr flach. Bei Bertals Blog hat der Spitzenreiter der Einträge 66 Besucher, beim SsdC-Blog sind es 121 für den ersten, 117 für den zweiten. Dahinter fällt dort die Kurve sehr schnell ab.


Die Anzahl der Kommentare hält sich nach wie vor sehr im Rahmen. Es gab bisher insgesamt 28 Kommentare zu 82 Einträgen (oder einen für jeden dritten Eintrag). An den meisten Kommentaren war ich sogar irgendwie selbst beteiligt. Mal habe ich sie direkt veranlasst, mal habe ich sie redaktionell überarbeitet. Nur etwa ein halbes Dutzend ging nicht über mich als Absender. Besonders erfreut war ich über Kom­mentare aus Ho-Chi-Minh-Stadt (Vietnam). Es handelte sich dabei um einen Informatiker, der in Basel studiert hatte und jetzt für deutsche und schweizerische Firmen arbeitet.

Einige weitere Angaben der Statistik mögen vielleicht für andere Blogger von Interesse sein. In meinem Falle sind sie es nicht. Dazu gehören die URLs oder Web Sites, die auf meinen Blog verweisen (neben Google, 123people noch die digital-zeitung.de), oder die Browser (Firefox vor Safari vor Internet Explorer) bzw. die Betriebssysteme der Besucher (Windows vor McIntosh und iPhone – wobei die beiden letzten Namen eigentlich keine Betriebssysteme sind). Dass einige Leute per Schlagwortsuche auf meine Beiträge verwiesen wurden, ist eigentlich normal. Welche Suchbegriffe dabei benutzt wurden, wird mir zwar gesagt, ist aber für mich belanglos. Anders ist dies für Leute, die Werbung betreiben.

Mein Wunsch, nicht alle Beiträge selbst zu schreiben, ging weitgehend in Erfüllung. Von den insgesamt 82 Beiträgen stammen 30 von 19 verschiedenen Kolleginnen und Kollegen bzw. wurden von ihnen angeregt oder zu wesentlichen Teilen gestaltet. Die genaue Aufteilung gibt nachfolgende Tabelle. Mehrfache Autorenschaft ist in Klammern angegeben. 


Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, um mich recht herzlich bei allen Mitautoren zu bedanken. Auch möchte ich hiermit andere Leserinnen und Leser ermutigen, ja auffordern, Themenvorschläge zu machen. Nur durch interessante Themen wird ein Blog attraktiv.

Zu meinen Erfahrungen noch Folgendes: Die Benutzung des Bloggers von Google ist nicht allzu schwer. Wenn er schon mal meine Formatierung (etwa den Zeilen­abstand) partout nicht übernehmen wollte, griff ich schon mal im HTML-Text ein. Das kam etwa bei jedem fünften oder sechsten Eintrag vor. Das Format für die Kommentare ist sehr beschränkt. Es wird nur eine Schrift (Courier) zugelassen. Außerdem dürfen Kommentare maximal 4096 Zeichen umfassen. Die Einfachheit der Benutzung geht einher mit einer Beschränkung von Funktionen. Sehr schlimm ist dies in meinem Falle nicht. Wer sehen möchte, was generell möglich ist, der schaue sich die Reisedepesche von Johannes Klaus an. Das hat keinerlei Ähnlichkeit mehr mit einem Buch. Den Online-Grimme-Preis hat er sich dafür durchaus verdient. Diesen Ehrgeiz habe ich nicht.

Verfügbarkeit und Performanz waren bei Google bisher kein Problem. Innerhalb der sechs Betriebsmonate gab es einen einzigen Tag (in der ersten Maiwoche), an dem der Blogger von Google nicht zur Verfügung stand. Es hatte einen Systemabsturz gegeben. Dabei ging der letzte Eintrag zunächst verloren. Ich konnte ihn aber wiederherstellen. Außer dem Vorfall im Februar ist kein weiterer Fall von Spam aufgetreten. Auch hat sich der Spammer, dessen Kommentar ich löschte, bisher nicht wieder gemeldet. Eingestehen muss ich, dass ich selbst einmal einen Beitrag eingestellt hatte, den ich nach zwei Tagen zurückzog. Inhalt und Stil waren zu polemisch und daher für einige Leser vermutlich beleidigend.

Mein genereller Eindruck ist folgender: Blogs sind ein neues Medium. Sie haben wenig mit Fachzeitschriften gemein. Nach den sechs Monaten, in denen ich 80 Beiträge erstellte und veröffentlichte, warten meine zwei letzten Beiträge, die im Herbst 2010 von einer papiernen Fachzeitschrift angenommen waren, immer noch auf ihr Erscheinen. Wie gut, dass ich mich davon frei gemacht habe.

Wie viele Leserinnen und Leser meine letzten Fachartikel hatten, weiß ich nicht. Bei meinem Blog weiß ich es in Etwa. Die Anzahl der Leser hält sich konstant in der Größenordnung von 20-30 pro Tag. Diese Zahl ist nicht überwältigend. Ein großes Geschäft wird nicht daraus werden. Das Angebot im Netz ist halt riesig. Dafür sind die Kosten gering und ich erreiche Leser, an die bei einer gedruckten Veröffent­lichung nicht zu denken ist. Für einen Rentner in meinem Alter sind Blogs eine Möglichkeit, um im Freundes- und Kollegenkreis - und etwas darüber hinaus - eine thematisch anregende Diskussion zu führen, ohne reisen zu müssen. Gegenüber einem normalen E-Mail-Dialog erhält das Ganze wesentlich mehr Struktur. Man könnte das Material fast so drucken, aber wozu sollte man das tun? Um es besser zu archivieren? Wohl kaum! Außerdem gingen alle Links verloren. Sie sind mitunter unerlässlich für das Verständnis des Beitrags.

Ich hoffe, dass Sie und ich noch eine Weile Vergnügen an diesem (bescheidenen) Blog haben werden. Mein Interesse hängt stark davon ab, welches Feedback ich bekomme. Das jetzige Niveau reicht zwar schon. Besser werden darf es immer. Jetzt kommt zunächst einmal eine mehrwöchige sommerliche Pause.

Sonntag, 10. Juli 2011

Ethik und Moral – ein paar Gedanken von Nicht-Philosophen

Am 4.7.2011 schrieb Peter Hiemann aus Grasse:

Die Geschichte der Moral ist sehr aufschlussreich, da sich Philosophen aller Epochen des Themas angenommen haben. Durch ein paar Studien historischer Aussagen bin ich zu der Erkenntnis gelangt, dass wohl Epikur den besten Zugang zu einer gesunden persönlichen ethischen und moralischen Einstellung beschrieben hat. Verhalten nach epikureischen Prinzipien (nicht mit Hedonismus zu verwechseln) wird der Natur des Menschen am ehesten gerecht. 

Ein ganz anderes Thema ist, ob und welche Rolle ethische und moralische Prinzipien bei der Organisation gesellschaftlicher Institutionen gespielt haben und spielen. Dabei geht es in erster Linie nicht um Ethik und Moral, sondern um Strategien und Pläne, die dem Erfolg einer Institution dienlich sind. Jede Institution etabliert zu diesem Zweck Regeln und Rituale, die von den Mitarbeitern einer Institution zu befolgen sind. Sie dienen dem Zweck kooperatives Verhalten zwischen Mitarbeitern der Institution und zwischen der Institution und deren „Kunden“ sicherzustellen. Es ist offensichtlich, dass die institutionellen Regeln und Rituale eines Priesters, eines Politikers, eines Universitäts­professors, eines Arztes oder eines Bankers nicht die gleichen sind. Welche Rolle spielt „christliche Ethik und Moral“ unter diesem Blickwinkel?

Offensichtlich gelten Regeln „christlicher Ethik und Moral“ für Priester christlicher Kirchen. Übrigens nicht die gleichen für alle christlichen Institutionen. Am besten sind Unterschiede in Jerusalem in der Karwoche zu beobachten. Die Grabeskirche ist in der Hand sechs christlicher Konfessionen, die um Plätze in der Kirche konkurrieren: Die Hauptverwaltung der Kirche haben die Griechisch-Orthodoxe, die Römisch-Katholische Kirche, vertreten durch den Franziskaner-Orden, und die Armenische Apostolische Kirche inne. Im 19. Jahrhundert kamen die Syrisch-Orthodoxe Kirche von Antiochien, die Kopten und die Äthiopisch-Orthodoxe Tewahedo-Kirche hinzu. Sie bekamen nur einige kleinere Schreine und Aufgaben zugeteilt, die Äthiopier leben in einer kleinen Gruppe nur auf einem Dach der Kirche. Dieses Deir al-Sultan-Kloster wird jedoch von den Kopten beansprucht. Protestantische Konfessionen sind in der Kirche nicht vertreten.

Man sollte meinen, dass es jeder Person einer nicht-kirchlichen Institution freigestellt ist, sich einer christlichen Konfession anzuschließen oder nicht. Dem Fürst von Monaco ist es nicht freigestellt. Ein Vertrag zwischen dem Fürstentum Monaco und der Katholischen Kirche schreibt fest, dass der Thronfolger zu katholischem Glauben verpflichtet ist. Ich vermute, dass ein herausragender „Funktionsträger“ (welch hässliches Wort) der Christlich Demokratischen Union sich zum katholischen oder protestantischen Glauben bekennen muss. [Hinweis BD: Letztere Vermutung trifft nicht zu. Die CDU hat in Niedersachsen eine Muslimin zur Ministerin ernannt]

Andere öffentliche Personen glauben vermutlich, dass ein Bekenntnis zur christlichen Konfession den Zwecken der von ihn vertretenen Institution dienlich sei. Diese Vermutung drängt sich nach einem Vortrag zum Thema „Profit und Moral - ein Zielkonflikt?“ auf, den Dr. Josef Ackermann, Vorsitzender des Vorstands Deutsche Bank AG anlässlich der Frühjahrstagung des Politischen Clubs der Evangelische Akademie Tutzing gehalten hat. Ackermann eröffnete seinen Vortrag mit einem Zitat von Joseph Kardinal Ratzinger, dem heutigen Papst: "Eine Moral, die die Sachkenntnis der Wirtschafts­gesetze überspringen zu können meint, ist nicht Moral, sondern Moralismus, also das Gegenteil von Moral." Danach scheint es leichter Unternehmensziele und Geschäftspraktiken mit dem „Segen der katholischen Kirche“ in Einklang zu bringen. Es ist ersichtlich, dass ich nicht sehr weit gekommen bin, die Rolle ethischer und moralische Begriffe in der Gesellschaft abschätzen zu können. Vermutlich eignen sich die technologischen Abenteuer des Menschen am ehesten, evolutionäre Veränderungen der verschiedensten Gesellschaftsstrukturen zu analysieren und zu verstehen.

Vielleicht stimmt ja, was François Jacob am Ende seines Buches "Die Maus, die Fliege, und der Mensch" sagt: "Wir sind eine zweifelhafte Mischung aus Nukleinsäuren und Erinnerungen, aus Begierden und Proteinen. Das zu Ende gehende (zwanzigste) Jahrhundert hat sich eingehend mit Nukleinen und Proteinen beschäftigt. Das kommende wird sich auf die Erinnerungen und die Begierden konzentrieren. Wird es solche Frage zu lösen vermögen?"

PS: Ich schätze, dass sich derzeit in Deutschland zwischen 20% und 30% der Bevölkerung nicht zu einer christlichen Konfession bekennen. Es wird interessant sein zu beobachten, welche Rolle dieser Teil der Bevölkerung für die zukünftige politische Willensbildung (auch für Ethik und Moral?) spielen wird. Welche Rolle spielen politisch und konfessionell unabhängige meinungsbildende Presseorgane und Internet?

Alles Weitere können Sie meinem anhängenden Essay ‚Don‘t worry, be happy’ entnehmen.

Am 6.7.2011 antwortete Hans Diel aus Sindelfingen:

In ‚Don’t worry, be happy‘ kommt sehr schön zum Ausdruck, dass uns die Philosophen bei diesem Thema auch nicht wirklich weiter gebracht haben. Es scheint, dass die Menschheit insgesamt bei diesem Thema in den letzten zwei Jahrtausenden keine großen Fortschritte gemacht hat. (Ich könnte mir allerdings auch vorstellen einen etwas optimistischeren Standpunkt zu vertreten und dabei auch die Rolle der Religionen positiv zu würdigen)

Interessant ist für mich auch Schopenhauers Erkenntnis, dass Kant nicht Recht hat mit "Es reiche aus zu wissen, was das Gute ist, um es auch tun zu können". Das berührt die Frage, welche Rolle Gefühle, Überzeugungen, Emotionen einerseits, und Vernunft, Intellekt, Logik andererseits bei diesem Thema spielen sollten. Ich bewundere und beneide oft die Leute, die mit vielen Emotionen gegen das Unrecht in der Welt (Kriege, Armut, Korruption) schimpfen und manchmal auch kämpfen. Meine Bewunderung und mein Neid kehrt sich jedoch schnell in das Gegenteil um, wenn ich diese Leute bei unsachlichem, unlogischem, unsinnigem Argumentieren erwische (was meistens relativ leicht ist). Dann werden mir diese Leute, zusammen mit ihrem Anliegen, sehr schnell unsympathisch. Andererseits, ist mir auch klar, dass Leute wie ich, die nur gut erkennen, wo Ideologen und Moralisten Unsinn reden, ohne sich selbst für etwas einzusetzen, die Welt auch nicht weiter bringen.

Vielleicht braucht man doch beides (1) die Leute mit den Emotionen für (vermeintliche) Gerechtigkeit und (2) die Leute mit dem "kühlen Kopf". Interessant scheint mir noch, dass nach meinem Eindruck, es extrem selten ist (bzw. in der Geschichte war), dass jemand Beides in sich vereint.

Noch am 6.7.2011 schrieb Peter Hiemann:

Den Essay ‚Don't worry, be happy‘ habe ich vor über einem Jahr verfasst. Ich habe damals versucht, über ein paar eigene persönliche Verhaltensweisen Klarheit zu gewinnen. Fast hätte ich geschrieben "Rechenschaft abzulegen". Diesen Ausdruck halte ich für unangebracht, da er anzeigen würde, dass für mich die Begriffe "Ethik und Moral" etwas mit "Schuld" zu tun haben.

Vielleicht ist Ihnen aufgefallen, dass die französische Sprache einen Unterschied zwischen ‚le moral‘ und ‚la morale‘ macht. Das deutsche Wort Moral ist immer ‚la morale‘. Auf diesen Unterschied aufmerksam zu machen, kam es mir in meinem letzten Brief an. Sich ethische und moralische Charaktereigenschaften (le moral) anzueignen und zu verinnerlichen (Emotionen, Gefühle, Leidenschaften), betrifft eine Seite sozialen Verhaltens. Gerd Gigerenzer würde sagen, es handelt sich um "Intuitive Intelligenz", die bei Bauchentscheidungen eine große Rolle spielt. Logik, Vernunft und Überzeugungen sind auf die andere Seite der persönlichen Medaille geprägt. Diese Seite menschlicher Persönlichkeit (la morale) wird geprägt durch Engagement (Einsatz, Verpflichtung), entsprechend den ethischen und moralischen Anforderungen einer Institution. Nicht häufig kollidieren verinnerlichte Charaktereigenschaften und institutionelle Anforderungen.

Den Hauptgrund, dass die Begriffe Ethik und Moral oft leichtfertig benutzt werden, sehe ich darin, dass Verhaltensanalysen den Unterschied zwischen (verinnerlichten) Charakter und professioneller Persönlichkeit nicht sehen, nicht sehen können oder nicht sehen wollen. Bei Josef Ackermann bin ich mir nicht sicher, ob und wie leichtfertig er mit seinen Moralbegriffen umgeht.

PS: Ich werde aufmerksam verfolgen, wie die Mitglieder des deutschen Bundestages über ein Gesetz zur Präimplantationsdiagnostik (PID) abstimmen werden. Bei dieser Abstimmung spielt der Erhalt des Jobs ja keine Rolle.

Am 7.7.2011 schrieb Bertal Dresen aus Sindelfingen:

Ich habe mir zu beiden Themen nicht genug Gedanken gemacht, um fundierte Beiträge zu dieser Diskussion leisten zu können. Hier nur ein paar Splitter. Es ist wohl Immanuel Kant zu verdanken, dass man Ethik auch unabhängig von religiösen Vorstellungen diskutieren kann. Alle religiösen Organisationen, seien es christliche oder andere, liefern immer wieder Beispiele, die beweisen, dass sie den Begriff Ethik nicht für sich allein in Anspruch nehmen können.

Sehr interessant fand ich einen Artikel des Aachener Philosophen Winfried Hinsch über den Begriff der Menschenrechte. Ich glaube er war in der Stuttgarter Zeitung oder in der Frankfurter Sonntags­zeitung. Nach seiner Meinung fehle es an einer Theorie des Menschenrechts. Viele Leute meinten es seien Naturrechte, die alle Menschen per Geburt erhalten. Andere Experten verlangen, dass Recht nur sein kann, was von einem entsprechenden Organ beschlossen, und daher einklagbar sei. So waren die Menschenrechte der UN von 1948 nur eine Beschreibung eines Ideals, bis dass sie um 1976 zu einklagbaren Rechten wurden, und zwar bei den 70-80 Ländern, die sie explizit anerkannten. Da aber der Irak von Sadam Hussein diese (expliziten) Menschenrechte nicht in eigenes Recht umgewandelt hatte, hätte er im Prinzip foltern können, ohne sich  strafbar zu machen. Das widerstrebt aber vielen Leuten. Auch die Nürnberger Prozesse gegen Nazigrößen wichen von dieser Auffassung ab, also dem alten Grundsatz des römischen Rechts, dass es ohne Gesetz keine Strafe geben dürfe (nulla poena sine lege)

In anderem Zusammenhang habe ich einmal argumentiert, dass ein Recht, dass man nicht durchsetzen kann, ein schlechtes Recht sei. In der Urheberrechtsdiskussion des Deutschen Bundestags hörte ich dazu ein Gegenargument. Man sollte die Einführung eines Rechts nicht davon abhängig machen, ob es leicht durchzusetzen ist. Es sei immer hilfreich, den Bürgern zu sagen, was gut und was schlecht ist, also was ein gesellschaftlich erwünschtes oder unerwünschtes Verhalten ist. Womit wir wieder bei der Ethik wären.

Am 8.7.2011 schrieb Peter Hiemann:

Die Mehrheit der deutschen Bundestagsabgeordneten hat sich für die Möglichkeit einer Präimplantationsdiagnostik (PID) entschieden, allerdings nur unter der Bedingung, dass familiäre Ereignisse darauf hindeuten, dass Erbkrankheiten oder frühzeitige Embryoabgänge zu erwarten (befürchten) sind.

Zusammenfassend dürften folgende Gesichtspunkte ausschlaggebend für die Annahme oder Ablehnung einer PID im Bundestag gewesen sein:
  • der Mensch soll Gott nicht ins Handwerk pfuschen > Ablehnung
  • der Mensch wird PID für Design menschlicher Eigenschaften missbrauchen > Ablehnung
  • der Mensch darf keine befruchteten Eizellen töten > Ablehnung
  • PID ermöglicht Eltern das Austragen und die Geburt eines gesunden  Kindes > Annahme
  • PID erspart Eltern eine spätere notwendige Abtreibung > Annahme
  • PID ist eine persönliche Entscheidung und der Staat soll sich nicht einmischen > Annahme
Sehr wenige MdBs enthielten sich der Stimme. Ich hätte für Annahme gestimmt. Meines Erachtens zeigt das Abstimmungsverhalten, dass Parteizugehörigkeit kaum eine Rolle gespielt hat. Die Vielfalt der Kriterien lässt auch keine Deutung zu, dass bestimmte ethisch/moralische Prinzipien in der Gesellschaft Deutschlands besonders ausgeprägt seien (vermutlich nicht einmal in Bayern). Ich nehme an, dass sich die MdBs wenig an den Sitzungsbeiträgen orientiert haben, sondern mit einer vorgefassten Meinung abgestimmt haben. Auf jeden Fall waren persönliche ethische und moralische Auffassungen ausschlaggebend. Und die sind geprägt durch individuelle Lebenserfahrung. Wie auch bei mir.

Für mich ist völlig ungeklärt und vielleicht auch nicht im Detail erklärbar, welche Rolle Institutionen für die Ausbildung persönlicher ethischer und moralischer Verhaltensprinzipien spielen. Es gibt zwar einen Deutschen Ethikrat, der verschiedene Gesichtspunkte für die Zulassung oder Ablehnung der PID erläutert hat. Dieser Rat ist mit Vertretern vieler Gesellschaftsgruppen besetzt. Er trifft sich gelegentlich, um anstehende ethisch/moralische Fragen zu diskutieren, vermutlich mit der Erfahrung "außer Spesen nichts gewesen". Ich habe mir die Webseite des Ethikrates trotzdem einmal angeschaut. Den Essay "Die Würde in Vitro" von Bernhard Schlink (emeritierter Professor für Verfassungsrecht und Rechtsphilosophie) im SPIEGEL vom 20.6.11 fand ich persönlich besser geeignet, sich über das Problem PID zu orientieren und eine Meinung zu bilden.

Übrigens ist ziemlich klar, wer am Ende die wahre Entscheidung PID - ja/nein nach dem neuen Gesetz trifft. Vermutlich die Eltern und ein Mediziner. Die Eltern entscheiden nach persönlichen ethisch/moralischen Prinzipien, der Arzt nach professionellen ethisch/moralischen Prinzipien.

Noch am 8.7.2011 schrieb Bertal Dresen:

Meine Frau und ich haben die vom Bundestag getroffene Entscheidung begrüßt. Sie berücksichtigt die Entwicklung unserer Gesellschaft hin zu mehr Liberalität, weg vom Dogmatismus. Auch holt sie nach, was in einigen Nachbarländern bereits akzeptiert ist. Natürlich kann Missbrauch getrieben werden; aber nicht alle Ärzte sind Scharlatane.

Freitag, 8. Juli 2011

Hartmut Wedekind über Daten- und Prozessmodellierung

Hartmut Wedekind ist seit 2001 emeritierter Professor für Datenbanksysteme der Universität Erlangen-Nürnberg, wo er seit 1979 lehrte. Von 1969 bis 1979 war er Professor für Informatik und BWL an der TU Darmstadt. Er war 1972 Mitgründer des dortigen Fachbereichs Informatik. Zuvor war er von 1962 bis 1969 Leitender Systemingenieur bei der IBM. Wedekind hatte in Darmstadt Wirtschaftsingenieurwesen studiert, erwarb in Berkeley den M.S. in Engineering und promovierte 1963 in Darmstadt in Operations Research.


Bertal Dresen (BD): Viele Kollegen sehen die Informatik als die Wissenschaft der Modellierung an. Auch Sie haben sich wiederholt in dieser Richtung geäußert und schlugen sogar den Namen ‚Schematik‘ als Ersatz für Informatik vor. Wieso ist diese Meinung berechtigt? Wird die Informatik (als Wissenschaft und Praxis) dieser Erwartung gerecht? 

Hartmut Wedekind (HW): Das Begriffspaar ‚Schema/Instanz‘ durchzieht die gesamte Informatik und ist von fundamentaler Bedeutung in Programmierung und Modellierung. Man kann auch Typ/Ausprägung dazu sagen. Ein Schema sieht einen Gegenstand als etwas Allgemeines oder Universales, eine Instanz ist demgegenüber etwas Einzelnes, Singulares oder Partikulares. Das ist einfach zu verstehen. Man braucht nicht in den heiklen und strittigen Informationsbegriff einzusteigen, auf dem der Begriff Informatik fußt. Modelle, über die wir in der Informatik reden, sind auch Schemata, sprachliche Gebilde und keine Mockups, die in der Automobilindustrie als Modelle zu sehen sind.

 BD: Ich erinnere mich sehr gut an eine Zeit – es muss in den frühen 1970er Jahren gewesen sein – als meine Kollegen in der Anwendungsentwicklung, die vorher Copics und Mapics entwickelt hatten, ordnerweise Unternehmensmodelle produzierten. Wenn ich mich recht erinnere, handelte es sich dabei vorwiegend um Datenmodelle. Auch in der frühen Phase von SAP spielten Informationsmodelle eine große Rolle. Um was ging es damals? War das eine Marotte oder wurde da langfristig etwas Vernünftiges draus?

HW: Ich weiß nun nicht mehr so genau, ob die Anwendungssysteme, die Sie erwähnten, IMS-basiert waren. Wahrscheinlich. Man pinselte Flipcharts voll mit hierarchischen IMS-Diagrammen, die man 1:1 in Codasyl-Diagramme umsetzen konnte. Copics und Mapics sind, wie auch die frühen betriebswirtschaftlichen SAP-Modelle, aus heutiger Sicht imponierende „vorsokratische“ Arbeiten, die eine Riesenkomplexität in Sachen Änderungsdienst zu bewältigen hatten. Sie werden mich fragen, wer ist denn dann der Sokrates. Ganz einfach: Der heißt im Business Data Processing Ted Codd (1923-2003) von der IBM (Almaden Research Lab). Seine paradigmatische Arbeit hieß: ‘A Relational Model of Data for Large Shared Data Banks’(1970). Das wichtige Wort ist ‚to share‘ (gemeinsam haben). Über das ‚to share‘ kommt Integration zustande. Und das Problem des Änderungsdienstes konzentriert sich auf die Datenbank und läuft nicht über  mehr oder weniger unkontrollierte Dateisysteme ab. 

Heute werden Datenbanken als ‚Enterprise Integration Pattern‘ geführt (siehe das gleichnamige Buch von Hohpe und Woolf (May 2010,14. Aufl., 683 Seiten)) und hier den Beitrag von Martin Fowler über ‚Shared Database‘. Der Hohpe/Woolf ist ein wichtiges Katalogbuch und ist zu vergleichen mit den wichtigen Katalogbüchern im Ingenieurwesen, z.B. ‚Der Dubbel‘ oder ‚Die Hütte‘ im Maschinenbau. Dass heute Anwendungen, auch die berühmten SAP-Anwendungen in der ERP-Welt, auf Datenbanken laufen, ist eine Selbstverständlichkeit. Anders geht es auch gar nicht. Die Datenbank war ein Integrationsschub par excellence. Riesige Leistungen sind mit diesem Integration Pattern verbunden. Man denke nur an das Lebenswerk von Jim Gray (1944 –2007), Turing Award 1999, und seine enormen Beiträge zum System R der IBM. „However, integration must go on“, wie wir gleich sehen werden.

BD: Kurz darauf begannen unter anderem Kollegen im Wiener Labor der IBM damit, Prozesse zu modellieren. Sie nannten das Workflow-Management. Auch entstanden Produkte daraus, die später von deutschen Kollegen (im PPDC Sindelfingen) weiterentwickelt wurden. Auch das WZ Heidelberg (z.B. der Kollege Dadam) betätigten sich in dieser Richtung. Was ist aus diesen Ideen und Entwicklungen geworden? Sind sie in Vergessenheit geraten oder wirken sie – evtl. unter anderer Bezeichnung – heute noch weiter?

HW: Nach Thomas Kuhn (1922-1996), Verfasser des bekannten Werkes ‚The Structure of Scientific Revolutions‘ (1962), vollzieht sich Wissenschaft nicht kontinuierlich, sondern in Schüben. Einen Schub nennt Kuhn einen Paradigmenwechsel (paradigm shift), ein Wort, das selbst Politiker heute ohne Scheu in den Mund nehmen. Ihre Frage deute ich so: Und wie ging es dann weiter nach Codd, dem Sokrates der Datenbanksysteme, insbesondere in den so um 1990 aufkommenden, datenbankbasierten Workflow- und Prozess-Systemen? Gibt es ein neues Paradigma? Paradigmenwechel deuten sich nach Kuhn an, wenn Wissenschaftler unruhig werden, weil diverse Phänomene nicht ordentlich behandelt werden können. Die Unruhe ist deutlich sichtbar, insbesondere, wenn man die  aufgeblasene Prozessliteratur, ein Getöse, verfolgt. 

Meine frohe Botschaft lautet: Ja es gibt ein solches Paradigma, das von außen betrachtet noch nicht so klar konturiert, von innen aber nach intensivem Studium sichtbar wird. Ich sage es kurz ohne ein sphinxhaftes Ratespiel: Es ist der OMG-Standard BPMN 2.0: Business Process Model & Notation. Das durch ein Ampersand abgesetzte Wort ‚Notation‘ ist wichtig. Wer modelliert, braucht eine sorgfältige Notation, eine Beschreibungs­sprache. In der Physik und in der physikalischen Modellierung ist es – sagen wir seit Newton – unstrittig, dass man die Notation ‚Mathematik‘ braucht. In BPMN 2.0 ist vor allen Dingen das filigrane Ereignissystem hervorzuheben. 

Wenn BPMN eine Art Mathematik für Prozessbeschreibung wird, dann ist das Paradigma da. Zum Paradigmenwechsel des BPMN gehört natürlich auch die Regelunabhängigkeit, die ‚rule independence‘. Damit ist gemeint, dass Regeln unabhängig von Prozessen gepflegt werden können. Regeln werden deklarativ abgefasst. Das Ausgliedern führt zu „dünnen“, übersichtlichen Prozessen (‚thin processes‘). Bis sich ein Paradigma durchsetzt, dauert es nach Kuhn manchmal fünf bis zehn Jahre und erledigt sich dann auf biologische Weise, weil  die konservativen Altvorderen wegsterben. Das Ausgliedern der Regeln heute und das Ausgliedern der Daten zu Codd‘s Zeiten weisen eine verblüffende Analogie auf, über die man systematisch nachdenken kann.

BD: Unter der Bezeichnung ARIS machte Kollege A.W. Scheer eine Modellierungstechnik populär, die meines Wissens weltweit Anklang fand, besonders im SAP-Umfeld. Ich sehe darin einen der herausragenden Erfolge der deutschen Informatik. Sicherlich hat ARIS auch Schwächen, aber seine praktische Relevanz schien dies nicht zu beeinträchtigen. Oder sehe ich das falsch?

HW: Die IDS Scheer AG, wie auch die Software AG und SAP, waren u.a. am Zustandekommen von BPMN 2.0 beteiligt. Ich nehme von außen an, dass die Erfahrungen aus ARIS mit seinen EPK (Ereignisgesteuerte Prozessketten) in BPMN  2.0 eingeflossen sind.

BD: Ich hatte den Eindruck, dass im Umkreis von SOA (Service Oriented Architecture) das Thema Modellierung in einen größeren Rahmen eingebettet und wiederbelebt wird. Ich erinnere mich in dieser Hinsicht an mehrere vier Buchstaben lange Abkürzungen wie WSDL, BPEL usw. Ist nicht SOA mit unrealistischen Erwartungen überfrachtet gewesen und hat immer noch Schwierigkeiten akzeptiert zu werden?

HW:  SOA ist als Ideal zu interpretieren. Es heißt „Kinder brauchen Märchen, Erwachsene brauchen Ideale“. Ohne Ideale geht bei genauerem Hinsehen auf dieser Erde nichts Ordentliches. Ohne Ideal gibt es noch nicht einmal die Figur eines Kreises mit ‚pi x Durchmesser‘ als Umfang. SOA ist eine Architektur, mit einer Schicht, die Volker Stiehl (SAP) Verbundanwendungen nennt (composite applications), das sind im Wesentlichen die Geschäftsprozesse und einer untergeordneten Schicht, die alle Ressourcen enthält (backend). Dazu gehören alle ERP-Systeme, Altbestände (legacies), Datenbanken, Fremdsoftware etc. Gefordert wird in einer modernen SOA-Interpretation, dass die Prozesse unabhängig von den Ressourcen sind. 

Wir haben nach dem 4. Juli 1776, der für die USA konstitutiv war, in der Informatik humorvoll gesprochen eine Unabhängigkeitserklärung nach der anderen erlebt. Ted Codd mit seiner ‚data indepedence‘, dann die Absonderung der Regeln von den Prozessen in einer ‚rule independence‘, und nun die Unabhängigkeit der Prozesse von den sich dauernd verändernden Ressourcen. Das dauernde Sich-Ändern macht uns auf Geschäftsprozessebene kaputt. 

Prozessunabhängigkeit ist aufregend, insbesondere wenn, wie Stiehl (SAP) das tut, die Ressourcen-Anforderungen von Prozessen auch mit BPMN 2.0 formuliert werden können. Alles fließt (so sagte Heraklit), alles ist irgendwie als Prozess in Bewegung. So gesehen ist BPMN uralt, und deshalb so schön. WSDL und BPEL sind aus Prozess-Modellierungssicht Randerscheinungen, die kommen und vergehen. Die fließen selbst.

BD: Vor einiger Zeit verwiesen Sie mich auf Dokumente zu BPMN (Business Process Modeling Notation) der OMG (Object Management Group). Ist das – wie es so schön heißt – alter Wein in neuen Schläuchen? Oder steckt da mehr dahinter? Muss man diese Entwicklungen als Informatiker ernst nehmen?

HW: Oh ja, es steckt mehr dahinter, wie ich versucht habe darzulegen. Die Entwicklung ist für die nicht steuerfinanzierte Informatik existenziell. Es gibt in der Informatik, neben steuerfinanziert und nicht-steuerfinanziert, noch eine alte Einteilung in ‚number crunchers‘ und ‚data crunchers‘. Stellen Sie sich mal vor, man amputiert, wie in der akademischen Informatik, die ‚data crunchers in business applications‘ in Gänze. Gute Nacht. Dann haben wir nur noch steuerfinanzierte „number crunchers“. Das ist eine böse Bemerkung. Sie zielt auf die dominante Stellung der Mathematik ohne eine sprachgebundene Logik als Grundlage im Grundstudium der Informatik. Darüber ließe sich vieles sagen.

BD: Die deutsche Informatik, und hier speziell die Wirtschaftsinformatik, scheint dem Thema Modellierung einen hohen Stellenwert einzuräumen. Schon seit Jahren gibt es eine eigene deutsche Tagungsreihe. Haben Sie den Eindruck, dass hier die richtigen Themen verfolgt und die richtigen Akzente gesetzt werden? Wenn nein, was sollte sich ändern?

HW: Ich bin reuiger Gründer eines ersten Studiengangs für Wirtschaftsinformatik an der TU Darmstadt. Ich kenne meine Pappenheimer, will ich damit sagen. Kennen Sie die Fabel vom ‚Chicken and Pig‘ (siehe z.B. Wikipedia)? Das Huhn schlägt vor, ein Restaurant mit dem Namen ‚Ham and Eggs‘ aufzumachen. Klar ist, das (arme) Schwein der systemorientierte Informatiker ist ein solches muss geschlachtet werden, um an ‚Ham‘ zu gelangen. Das ‚Chicken‘, der Wirtschaftsinformatiker, legt lässig ein paar Eier und schreitet zur nächsten Tat. 

BD: Vielen Dank, Herr Wedekind, für das mitreißende Tutorial. Ich hoffe, dass die beiden Fraktionen unseres Fachgebietes uns Ihren tierischen Vergleich nicht allzu sehr verübeln.

Mittwoch, 6. Juli 2011

Urheberrechtsempfehlungen der Enquete-Kommission

In ihrer Sitzung am 4.7.2011 hat die Enquete-Kommission Internet und digitale Gesellschaft des Deutschen Bundestages ihre Handlungsempfehlungen zum Thema Urheberrecht verabschiedet. Allen Informatikerinnen und Informatikern möchte ich raten, diese Dokumente zu studieren.

Insgesamt kommt in ihnen sehr viel Rationalität und wirtschaftliche Vernunft zum Ausdruck. Einige der Internet-Puristen, vor allem aber die Anhänger der so genannten Piratenpartei dürften enttäuscht sein. Noch sind ja die Piraten nicht selbst im Bundestag vertreten. Möglicherweise hat ihre Agitation gegen das Urheberrecht in den Wahlkämpfen der letzten Monate sogar bewirkt, dass sich alle anderen Parteien bewusst von den Positionen der Piraten weg bewegt haben. Dass die so genannte Kreativwirtschaft (Filme, Musik, Software und Spiele) eine immer größere Bedeutung erlangt, wird voll anerkannt, ebenso dass sie meistens nicht ohne erhebliche Investitionen auskommt. 

Die Empfehlungen sind in fünf Gruppen aufgeteilt, beginnend mit den Empfehlungen der Mehrheit der Kommission. Es folgen dann die Minderheitsempfehlungen der drei Parteien SPD, Grüne (zusammen mit Jeanette Hofman und Marcus Beckendahl) und Linke sowie Empfehlungen des Sachverständigen Padeluun. Hier die Über­schriften der Mehrheitsempfehlungen:
  • Bewusstsein für den Wert geistigen Eigentums fördern
  • Regelung für die Privatkopie an die Herausforderungen des Internet anpassen
  • Zurückhaltung bei regulatorischen Eingriffen üben
  • Individuelle Lizenzierungsmodelle statt pauschaler Vergütung stärken
  • Open Access für Wissenschaft und Forschung stärken
  • Neue Vergütungsmodelle einführen
  • Umgang mit Urheberrechtsverstößen angemessen und transparent regeln
Ohne auf diese Empfehlungen im Einzelnen einzugehen, möchte ich sagen, dass ich sie alle für sehr hilfreich halte und als angemessen ansehe. Gerade die erste Empfehlung kann ich nur begrüßen. Die Sensibilisierung für die Schutzbedürftigkeit und den Wert des geistigen Eigentums wird als gesamtgesellschaftliche Aufgabe gesehen. Deshalb sollen sowohl Schüler wie Studierende mit urheberrechtlichen Fragen konfrontiert werden, unter anderem durch die korrekte Darbietung urheber­rechtlich geschützter Inhalte in Lehre und Forschung.

Von den Minderheitsvoten halte ich einige für sehr bemerkenswert, etwa die Empfehlung mit einer Kultur-Flatrate zu experimentieren (SPD), Remixes und Mash-ups zu entkriminalisieren (Linke) oder die Schutzdauer zu reduzieren (Grüne). Es ist jedoch kaum damit zu rechnen, dass sie in naher Zukunft geltendes Recht werden.

Dass die wahre Lösung nicht in schärferen Regeln gesehen wird, sondern in der Erprobung neuer Geschäftsmodelle durch die im Markt tätigen Partner, freut mich besonders. Das Google-Modell, alle Investitionen durch Werbeeinahmen zu finanzieren, ist zwar erfolgreich, es kann und sollte aber nicht das einzige bleiben. Dass der Zugang zu Informationen über die zur Anwendung kommenden Rechte vereinfacht werden muss, liegt auf der Hand. Auch sollte auf lizenzfreie Inhalte, wie sie durch Open-Source-Software und Creative-Commons-Lizenzen angeboten werden, verstärkt hingewiesen werden. Projekte wie Linux oder Wikipedia sollten auch weiterhin wohlwollende Unterstützung erfahren - und zwar auf der Basis des Urheberrechts und nicht im Widerspruch dazu.

Die generelle Richtung  deckt sich auch mit den Empfehlungen der GI von 2006, in denen unter anderem den mit öffentlichen Mitteln finanzierten Forschern nahegelegt wird, verstärkt den Weg des ‚Open Acces‘ zu gehen, statt bei privaten Verlagen zu veröffentlichen. 

Eine Neuerung im Verfahren gab es insofern, als im Februar 2011 eine Online-Plattform (Adhocracy) eingerichtet wurde. Über sie kamen insgesamt 30 Vorschläge für die Kommission von außen. Die Themen Netzneutralität und Datenschutz, die ebenfalls Teil der Kommissionsarbeit waren, wurden noch nicht abschließend beraten. Es soll in den nächsten Wochen geschehen.

Sonntag, 3. Juli 2011

Unternehmer und Erfinder aus der Informatik (Teil II)

Eine ausgesprochen positive Reaktion erhielt ich auf meine ursprüngliche Liste von 25 Namen, die ich als Karriere-Vorbilder bezeichnete. Deshalb möchte ich jetzt diese Liste um weitere 25 Namen ergänzen. Die Namen wurden so ausgewählt, dass sie ein breites Spektrum an Werdegängen reflektieren. Manchmal nenne ich stellvertretend nur einen Namen, wo es sich an sich um die Leistung einer Gruppe handelt, die Anerkennung verdient. Im Vergleich zur ersten Liste benötigte ich etwas mehr Zeit, um die erforderlichen Daten zu sammeln. In mehr Fällen als das letzte Mal wollte ich auch bei den Kandidaten rückfragen. Alle Befragten haben ihre Zustimmung erteilt.

Gerhard Barth (1949 ) habilitierter Informatiker Uni Kaiserslautern. War Professor an der Pennsylvania State University, in Kaiserslautern (1983-1986) und Stuttgart (1986-1988), ehe er als Leiter des Deutschen Forschungsinstituts für Künstliche Intelligenz (DFKI) wieder nach Kaiserlautern ging. Wechselte 1992 in die freie Wirtschaft. Seit 1996 war er Mitglied des Vorstands der Alcatel SEL, Stuttgart. Mitte 1999 trat Barth als Generalbevollmächtigter für die Informations­technologie in die Dresdner Bank AG ein. Barth verantwortete bis Ende 2001 als CIO im Vorstand der Dresdner Bank die IT-Strategie. Nach der Übernahme durch die Allianz AG, als immer mehr Entscheidungen in der Münchener Zentrale fielen, verließ er die Dresdner Bank und ist seither als Partner der Beratungsfirma Atreus in München tätig. Barth war GI-Präsident von 1997-1999.

Albrecht Blaser (1933- ) promovierter Mathematiker Uni Hannover; leitete von 1967 bis 1972 die Mathematische Anwendungsentwicklung der IBM Deutschland, in der das legendäre, weltweit anerkannte und stark benützte Scientific Subroutine Package (SSP) entwickelt wurde. War von 1973 bis 1990 Leiter des Wissenschaftlichen Zentrums Heidelberg der IBM. Seine Forschungsschwer­punkte lagen in den Bereichen Datenbanktechnologien und natürlichsprachlicher Computerzugang. Nach seiner Pensionierung im Jahre 1991 engagierte sich Blaser besonders beim Aufbau der Informatik in den Neuen Bundesländern, unter anderem durch die Übernahme von Lehrstuhl­vertretungen in Jena und Ilmenau. Blaser hat sich sehr in die fachliche Arbeit der Gesellschaft für Informatik (GI) eingebracht, unter anderem als Sprecher des Präsidiumsarbeitskreises „Forschung und Technologie“ sowie als Initiator und langjähriger wissenschaftlicher Berater der Deutschen Informatik-Akademie (DIA). Blaser ist Honorarprofessor der Universitäten Jena (1991) und Heidelberg (1995). Er ist seit 2002 GI-Fellow. Im Jahre 2003 erhielt er die Ehrendoktorwürde der TU Ilmenau.

Marco Börries (1968- ) war im Alter von 14 Jahren im Schüleraustausch im Silicon Valley in Kalifornien. Nach seiner Rückkehr gründete er mit 16 Jahren Star Division als Garagenfirma in Lüneburg. Hier entwickelte er die Software StarOffice (aus der später OpenOffice wurde) als eine Alternative zu den Office-Paketen von Microsoft. StarOffice wurde über 25 Millionen mal verkauft. Im Jahre 1999 verkaufte er Star Division für einen hohen zweistelligen Millionenbetrag (US-Dollar) an die Firma Sun Microsystems und war dort auch kurze Zeit beschäftigt. Danach gründete Börries die in Hamburg ansässige Firma Star Finanz, die sich in den Folgejahren mit StarMoney zu einem bedeutenden Anbieter von Homebanking-Software entwickelte. Anfang 2001 verkaufte er auch seine Anteile an diesem Unternehmen. Im gleichen Jahr gründete Börries die Firma VerdiSoft. Dort wurde die neue Technologie Yahoo! Go entwickelt, die einen für Handy-Displays optimierten Zugriff auf Mail, Fotos, Nachrichten und andere Webinhalte ermöglicht. Die Firma VerdiSoft mitsamt Technologie-Know-how wurde im Februar 2005 an Yahoo verkauft, wo Börries bis April 2009 als Executive Vice President in der Sparte Connected Life arbeitete. Im September 2009 startete Börries mit seiner neuesten Geschäftsidee, der NumberFour AG, die in Berlin angesiedelt ist. Die Firma entwickelt eine offene Software-Plattform (PaaS) zur Entwicklung, Vertrieb und Marketing von vertikalen Lösungen für kleinere Unternehmen.

Marcellus Buchheit (1962- ) Informatiker Uni Karlsruhe; gründete 1989 zusammen mit Oliver Winzenried die Karlsruher Firma Wibu-Systems, erfanden und patentierten den WibuKey und den CodeMeter. Beides sind Meilensteine auf dem Gebiet des Softwareschutzes und der Lizenz­verwaltung. Über ein externes Speichermedium, etwa eine SD-Karte oder eine CompactFlash-Karte (heute meist als USB-Stab), wird der Inhalt des Hauptspeichers kontrolliert. Heute schützen Produkte von Wibu-Systems nicht nur Programme gegen illegale Nutzung. Sie regeln darüber hinaus den Zugang zu gehosteter Software, Software as a Service (SaaS) genannt, zu Webseiten und schützen Dokumente oder Multimedia-Dateien. In mehreren Wettbewerben hat Wibu-Systems die Hacker weltweit herausgefordert und blieb dabei ungeschlagen. Die Wibu-Systems AG ist laut einer IDC-Studie weltweit die Nummer drei im Software-Schutzmarkt nach Umsatz. Das Unternehmen beschäftigt 80 Mitarbeiter, 25 davon am Hauptsitz in Karlsruhe. Verkauf und Beratung erfolgen weltumspannend über Niederlassungen in den USA (Seattle) und China (Schanghai), sowie Verkaufsbüros und Distributoren in vielen Ländern. Buchheit ist zurzeit Präsident der WIBU-Systems USA Inc, in Edmonds, WA, in der Nähe von Seattle.

Ulrich Dietz (1958-) Maschinenbauer FH Furtwangen; Co-Gründer des Transferzentrums für Informationstechnologie (TZI) der Steinbeis-Stiftung für Wirtschaftsförderung in Furtwangen, wo er bis 1987 auch als Projektleiter arbeitete. Im Jahre 1987 gründete Dietz das IT-Dienstleistungs­unternehmen GFT und wurde geschäftsführender Gesellschafter. Das Unternehmen ist hauptsächlich im Finanzsektor aktiv. Seit dem Börsengang im Jahre 1999 ist Dietz Vorstandsvorsitzender der GFT Technologies AG. GFT zählt heute über 1100 Mitarbeiter in sieben Ländern. Dietz hält etwa ein Drittel der Aktien des Unternehmens. Dietz ist Mitglied im Vorstand der Bitkom. Der Firmensitz von GFT wurde im Jahre 2010 von Furtwangen nach Stuttgart verlegt.

Eberhard Färber (193x- ) gründete 1970 mit seinem Bruder, Professor Georg Färber, die PCS Computersysteme GmbH. Nach 16 Jahre übernahm Mannesmann-Kienzle diesen Unix-Pionier mit 300 Mitarbeitern. Im Jahre 1988 schloss sich die nächste, noch erfolgreichere Gründung an, diesmal mit dem Physiker Hans Strack-Zimmermann. Die Firma Ixos wuchs in elf Jahren auf 800 Mitarbeiter und galt als weltweiter Marktführer bei Dokumenten-Management-Systemen für SAP R/3. Ab 1999 wechselte Färber in den Aufsichtsrat und begann sich gleichzeitig für den Gründernachwuchs stark zu engagieren. Noch vor dem Verkauf von Ixos 2003 an Open Text schied Färber ganz aus dem Unternehmen aus. Als ‚Business Angel‘ finanziert und coacht er Gründer überwiegend im IT-Bereich. Aus einem seiner Hobbies, dem Fliegen, ist ein Beinahe-Fulltimejob geworden. Seit einigen Jahren beteiligte sich Färber an der Firma Remos, die auf einem bayerischen Bauernhof zehn Motorleichtflugzeuge pro Jahr produziert.

Otto Folberth (1924- ) promovierter Physiker, Uni Erlangen; von 1952 bis 1960 war Folberth wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungslaboratorium der Siemens-Schuckert-Werke AG in Erlangen. Ab 1961 leitete er den Aufbau der Halbleiter-Entwicklung im Böblinger Labor der IBM. Die dort entwickelten hochintegrierten Halbleiterkomponenten, wie etwa der berühmte Riesling-Speicherchip, fanden Verwendung in vielen weltweit vermarkteten Computersystemen der IBM. Folberth wurde im Jahre 1974 zum ersten IBM Fellow in Deutschland ernannt. Ab 1983 bis zur Pensionierung im Jahre 1989 war er Direktor für Wissenschaft der IBM Deutschland. Von 1968 bis 1988 war er Lehrbeauftragter (und ab 1974 auch Honorarprofessor) an der Universität Stuttgart. Von 1988-1990 war Folberth Präsident der Deutschen Physikalischen Gesellschaft 

Wolfgang Glatthaar (1947- ) Mathematiker, promovierte 1974 in Informatik an der Uni Stuttgart; danach Mitarbeiter der IBM Deutschland, unter anderem im Entwicklungslabor Böblingen und im Vertrieb. Seit 1982 Direktor des Bereichs Wissenschaft, mit Zuständigkeit unter anderem für das Wissenschaftliche Zentrum Heidelberg. Glatthaar wechselte im Jahre 1997 zur Deutschen Genossenschaftszentralbank AG in Frankfurt (der heutigen DZ-Bank), und war dort zuletzt Generalbevollmächtigter für Organisation und Informatik. Er verließ die Firma im Jahre 2002 infolge einer Fusion. Im April 2005 wurde er zum Präsidenten der Universität Witten/Herdecke gewählt, ein Amt das er bis zum Jahre 2007 ausübte. Von 1994-95 war er Präsident der Gesellschaft für Informatik. Er ist Honorarprofessor an der TU Chemnitz und Vorsitzender des Kuratoriums eines Fraunhofer-Instituts und zweier Max-Planck-Institute und Mitglied im Hochschulrat der TU Kaiserslautern.

Gottfried Greschner (1946- ) promovierter Elektrotechniker Uni Karlsruhe. gründete 1983 als Universitäts-Spin-Off die Firma INIT GmbH, Karlsruhe. Der Name ist eine Zusammenfassung aus ‚Innovations in Traffic‘. Nach dem Börsengang im Jahre 2001 wurde Greschner zum Vorstands­vorsitzenden der INIT AG bestellt. INIT unterstützt öffentliche Verkehrsbetriebe durch Einrichtung von Telematik- und elektronischen Zahlungssystemen für Busse und Bahnen bis hin zum Aufbau von rechnergesteuerten Betriebsleitsystemen. Neben dem Hauptsitz in Karlsruhe gibt es inzwischen Niederlassungen in den USA, Kanada, Australien, Dubai und Großbritannien. Greschner wurde im Jahre 2002 mit dem Preis „Entrepreneur des Jahres“ in der Kategorie Informations­technologie ausgezeichnet.

Michael Greve (1969- ) Die Brüder Michael und Matthias Greve gründeten 1995 in Karlsruhe die Cinetic Medientechnik GmbH – ein Unternehmen, das sich mit Kino und Technik beschäftigte. Man begann mit dem Deutschen Internet Verzeichnis mit 2500 redaktionell bearbeiteten Eintragungen. Aus dieser Firma wurde Web.de im Januar 1999 ausgegliedert, und im Februar 2000 an die Börse gebracht. Im Oktober 2002 führte die Web.de AG das Produkt Com.Win mit der Zielsetzung ein, das Telefonieren zu revolutionieren. Mäßige Abonnentenzahlen und ein weit hinter den Erwartungen zurückgebliebener Umsatz führten dazu, dass Com.Win nach zwei Jahren nicht mehr weiterentwickelt und mit dem Design eines Nachfolgeprodukts begonnen wurde. Im Jahr 2005 verkaufte die Web.de AG ihr Portal für 330 Mio. Euro an die United Internet AG und benannte sich nach Abschluss der Transaktion in comBOTS AG um. Das Produkt ComBOTS wurde im Juli 2006 der Öffentlichkeit vorgestellt. Es soll auf besonders einfache Art erlauben, E-Mails, Videos und Fotos  zu verschicken, zu telefonieren und zu chatten. Den Durchbruch hat es aber noch nicht geschafft. Inzwischen wurde die Firma in Kizoo AG umbenannt.

Lutz Heuser (1962- ) promovierter Informatiker Uni Karlsruhe; 1987 als Projektmanager bei Digital Equipment in Karlsruhe, wo er von 1992 bis 1997 das Campus-based Engineering Center (CEC) Karlsruhe leitete. Von 1999 bis 2010 war er Leiter der des Forschungsbereichs der SAP AG mit über 1000 Mitarbeitern. Heuser ist Mitglied der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften acatech und hat seit 2008 den Vorsitz von ISTAG (Information Society Technologies Advisory Group der Europäischen Kommission) inne. Seit September 2010 ist Heuser der Chief Technology Officer der AGT International und zugleich der Sprecher der Geschäftsleitung von AGT Germany.

Lars Hinrichs (1976- ) gründete im Jahre 2003 in Hamburg die „Open Business Club GmbH“ und eröffnete das Portal OpenBC im Internet. Bis Juni 2005 stieg die Plattform mit mehr als 500.000 Mitgliedern zum größten beruflichen Netzwerk in Europa auf. Im September 2006 wurden Firma und Portal von openBC in Xing umbenannt. Im Dezember 2006 erfolgte der Börsengang. Im Februar 2008 wurde die 5-Mio-Mitglieder-Marke durchbrochen. Im Oktober 2010 sind es 10 Mio. Mitglieder, davon knapp eine Million zahlende. Im Januar 2009 gab Hinrichs den Posten des Vorstands­vorsitzenden von Xing ab und wechselte in den Aufsichtsrat. Im November 2009 verkaufte er die Mehrheit seiner Beteiligung an die Burda Digital GmbH, eine 100-Prozent-Tochter der Hubert Burda Media, die damit zum Hauptaktionär wurde. Er erzielte durch den Verkauf einen Erlös von 48 Millionen Euro. Im Juni 2010 verkündete er die neue Geschäftsidee HackFwd über Twitter. Hierbei handelt es sich um ein netzwerkbasiertes Konzept zur Allokation von Venture Capital.

Peter Hruschka (194x- ) promovierter Informatiker TU Wien; ging 1976 zur Softwarefirma GEI in Aachen, einer Ausgründung der AEG. Hruschka entwickelte eines der ersten europäischen CASE-Systeme (PROMOD), das ab 1981 in mehreren Ländern installiert wurde. Seit Anfang der 1990er Jahre ist er als unabhängiger Ausbilder für Software-Engineering-Methoden tätig. Er ist Autor mehrerer Bücher, besonders über Agile Methoden. Arbeitet mit fünf USA-Kollegen zusammen, die als ‚Atlantic Systems Guild‘ firmieren. Er ist  Gründer des deutschen Netzwerks agiler Entwickler und lebt weiterhin in Aachen.

Martin Hubschneider (1958-  ) Wirtschaftsingenieur Uni Karlsruhe; gründete 1986 gemeinsam mit Ludwig Neer die CAS Software AG. Daneben war er maßgeblich an der Gründung der Unternehmen Yellowmap AG, Map&Guide GmbH und Leserauskunft GmbH beteiligt. Heute führt er die Unternehmen CAS und YellowMap und ist seit 2001 Mitglied des Aufsichtsrats der CAS-Beteiligung PTV AG. Bei der CAS arbeiten etwa 100 Mitarbeiter im Technologiepark Karlsruhe. Bei den Unternehmensbeteiligungen sind über 500 Mitarbeiter beschäftigt, davon über 400 in Karlsruhe. Die CAS Software AG ist heute der führende deutsche CRM-Spezialist (Customer Relationship Management) für den Mittelstand. Die CRM-Lösung genesisWorld gewann u. a. auf der Cebit 2004 den Preis „Best of Cebit“.

Rainer Janßen (1953- ) promovierter Mathematiker Uni Kaiserslautern; ab 1984 Mitarbeiter des Wissenschaftlichen Zentrums Heidelberg der IBM; ab 1986 Leiter der Abteilung Wissenschaftliches Rechnen, die er bis 1992 zum Institut für Supercomputing und Angewandte Mathematik ausbaute. Von 1992-1997 Leiter des European Networking Centers der IBM, ebenfalls in Heidelberg. Seit 1997 ist er Leiter Informatik der Münchner Rückversicherung. Wie er berichtet, war es in den letzten Jahren sein Bestreben, die IT-Strategie mit der Geschäftsstrategie des Unternehmens in Übereinstimmung zu bringen. Das bedeutete unter anderem zu standardisieren, zu beschleunigen und zu globalisieren. Im Jahre 2008 gewann er den von der Zeitschrift Computerwoche vergebenen Titel ‚CIO des Jahres‘, weil er „die Anwendungsentwicklung der Münchener Rück service-orientiert aufgestellt hat und neue Wege geht, um Business und IT ins gleiche Boot zu ziehen.“

Eike Jessen (1933- ) promovierter Elektrotechniker TU Berlin; sein Name steht hier stellvertretend für das Team, das den Traum eines deutschen Großrechners zu realisieren versuchte. Als Leiter des Entwicklungsbereichs der Firma AEG/Telefunken in Konstanz verantwortete er zwischen 1964 und 1972 insbesondere die Entwicklung und den Bau des Rechners TR-440. Der Rechner wurde 44 Mal ausgeliefert und war vor allem bei deutschen Hochschulen im Einsatz. Die Geschichte der TR-440 ist von Eike Jessen, Hans-Jürgen Siegert und Rüdiger Wiehle sowohl in Deutsch wie in Englisch dokumentiert worden. In dieser Artikelserie werden auch die Rollen, die diese drei Kollegen spielten, erklärt. Dies war Außenstehenden nicht unbedingt geläufig. So wurde die gesamte Software-Entwicklung von Hans-Jürgen Siegert geleitet. Von mehreren Betriebssystem-Alternativen, die zur Verfügung standen, setzte sich vor allem BS3 durch. BS3 realisierte die Funktionalität des konzeptuell sehr innovativen BS1 und des einfachen BS2 in besonders effizienter Weise. Es war ursprünglich von Wolfgang Frielinghaus als interne Plattform entwickelt worden – ein weiteres Beispiel dafür, dass iin der Praxis die Dinge nicht immer nach Plan laufen. Jessen verließ Telefunken, als die Firma 1974 von Siemens übernommen wurde. Er war zunächst Informatik-Professor in Hamburg, dann ab 1983 an der TU München tätig. Seit 2003 ist er emeritiert. Neben seiner Lehrtätigkeit engagierte er sich besonders für den Aufbau des Deutschen Forschungsnetzes (DFN). Als Mitglied des Vorstands initiierte er 1988 das deutsche Wissenschafts­netz. Jessen wurde 2004 zum GI-Fellow ernannt. 

Henning Kagermann (1947- ) promovierter Physiker TU München; ab 1982 verantwortete er bei SAP die Entwicklungsbereiche Kostenrechnung und Projektcontrolling. Im Jahre 1991 wurde er in den Vorstand der inzwischen zur Aktiengesellschaft gewandelten SAP AG berufen. Als SAP-Mitbegründer Hasso Plattner im Mai 2003 in den Aufsichtsrat wechselte, wurde Kagermann alleiniger Vorstandssprecher. Ende Mai 2009 ist er bei der SAP ausgeschieden. Seit Juni 2009 ist Kagermann Präsident von Acatech. Kagermann sitzt zudem im Aufsichtsrat von Wipro Technologies, der Deutschen Bank, der Deutschen Post, der Münchener Rück und von Nokia. Im Mai 2010 übernahm Kagermann die Leitung der Nationalen Plattform Elektromobilität. Das Netzwerk setzt sich aus Industrievertretern, Politikern und Wissenschaftlern zusammen und soll die Entwicklung von Elektroautos in Deutschland koordinieren.

Hermann-Josef Lamberti (1956- ) Betriebswirt Uni Köln; ging nach Toronto zur Beratungsfirma Touche Ross (heute: Deloitte Consulting), war anschließend bei der Frankfurter Niederlassung der Chemical Bank. Mitte der 80er Jahre wechselte er zu IBM, wo er verschiedene internationale Führungspositionen bekleidete und schließlich 1997 Deutschland-Chef wurde. Ende 1999 wurde Lamberti zum Vorstandsmitglied der Deutschen Bank berufen, als Verantwortlicher für den EDV- und Technikbereich. Im Februar 2001 übernahm er die Kunden- und Vertriebssparte. Seit 2002 betreut er als Chief Operating Officer das Kosten- und Infrastruktur-Management, die Informationstechnologie, das Gebäude- und Flächenmanagement sowie den Einkauf. Im Jahr 2005 soll Lamberti einschließlich Sondervergütungen 5,3 Mio. Euro verdient haben.

Günter Merbeth (1942- ) Mathematiker, promovierter Informatiker Uni Dresden; ging 1979 zu Softlab in München, weil – wie er später sagte - dieses Unternehmen moderne Methoden des Software Engineering beherrschte und in Projekten erfolgreich anwendete. In den 80er und 90er Jahren war Softlab führender Anbieter von Software Engineering Produkten in Europa (Maestro). Merbeth hat diese Produkte als Entwicklungsleiter oder Produktmanager wesentlich mit geprägt. Während dieser Zeit war er als Vertreter des BITKOM auch aktiv tätig bei der Forschungsförderung im Software-Bereich. Im Zusammenhang mit dem Ausstieg aus dem Produktgeschäft hat Softlab im Jahr 2002 das Repository-Produkt „Enabler“ an Fujitsu verkauft. Merbeth ging mit zu Fujitsu, um ein Unternehmen der Software Business Group von Fujitsu in München aufzubauen. Dessen Aufgabe ist die Entwicklung von Enabler und anderer Software-Produkte von Fujitsu. Heute ist Merbeth Vice Chairman dieses Unternehmens.

Johannes Nill (1958- ) Informatiker TU Berlin; im Jahre 1986 gründeten die vier Berliner Informatik-Studenten Johannes Nill, Peter Faxel, Ulrich Müller-Albring und Jörg-Detlef Gebert die Firma AVM (Audio-visuelle Medien). Die erste ISDN-Karte wurde 1989 für 4300 Mark an Unternehmen verkauft. Mit der Einführung der Marke Fritz! (selbst schreibt das Unternehmen immer FRITZ!) und der Fritz!Card, einer ISDN-Karte für PCs, kam 1995 der Durchbruch. Der Name Fritz wurde gewählt, „weil ein nicht-technischer Name gesucht wurde, der auch im Ausland augenzwinkernd deutsche Wertarbeit andeuten sollte.“ Der Marktanteil bei ISDN-Karten in Deutschland wuchs von 1995 an kontinuierlich auf über 80 Prozent im Jahr 2004. Dies verdankte AVM hauptsächlich seiner hohen Produktqualität der Hard- und Software. Im Jahre 2010 beschäftigte AVM 400 Mitarbeiter und erzielte einen Umsatz von 200 Millionen Euro. Geschäftsführer ist der Mitgründer Johannes Nill.

Walter Proebster (1928- ) promovierter Elektrotechniker TU München; arbeitete ab 1949 unter Hans Piloty an der PERM mit. Seit 1956 Mitarbeiter des Forschungslabors Zürich der IBM, wo er an dünnen magnetischen Filmen arbeitete. Von 1962 bis 1964 leitete er im Forschungszentrum Yorktown, NY, die Abteilung Experimentelle Maschinen. Anfang 1964 wurde er Nachfolger von Karl Ganzhorn als Leiter des IBM Labors Böblingen. In seine Zeit fiel die Entwicklung des System/360 Model20 und der dazu gehörenden Software-Systeme. Von 1973 bis 1983 war er zuständig für die Koordination zwischen Forschung und Entwicklung, danach für den Bereich Wissenschaftsbeziehungen. Unter anderem initiierte er die ersten Projekte zur Nutzung von Smartcards. Seit seiner Pensionierung im Jahre 1989 ist er außerplanmäßiger Professor für Informatik an der TU München. Proebster publizierte unter anderem über Rechnernetze und Peripherie-Geräte. Er war 20 Jahre lang Direktor der IEEE Region 8 (Europa, Afrika, Naher Osten) und Organisator mehrerer internationaler Tagungen. Die Details seiner frühen Karriere sind einem Oral History Interview zu entnehmen, welches der Historiker William Aspray mit Proebster im Jahre 1993 führte.

Manfred Roux (1947- ), Physiker, Illinois Institute of Technology, Chicago, IL; nach einem kurzen (1972-1974) Intermezzo am Max-Planck-Institut für Festkörperforschung in Stuttgart, trat er 1974 in den Bereich Software-Qualitätssicherung des IBM Labors Böblingen ein und wechselte 1977 in die Softwareentwicklung. Dort bekleidete er ab 1979 verschiedene Aufgaben im Management – Test, Entwicklung, Systementwurf. Ab 1987 leitete er das erste Client-Server Projekt für System-Management Software im IBM Labor Böblingen. Ab 1995 übernahm er die Leitung der systemnahen Softwareentwicklung für Betriebssysteme, ab 1997 leitete er den Bereich Softwareentwicklung für alle Entwicklungen und Services um das IBM Datenbanksystem DB2 in Deutschland. Dazu gehörte auch die Suche und Analyse strukturierter und unstrukturierter Daten (Text und Data Mining). Von 2003 bis zu seinem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst der IBM im Jahr 2005 war er verantwortlich für die Beziehungen der IBM zu Hochschulen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. [Der angegebene Link verweist auf ein Interview in diesem Blog]

Edwin Vogt (1932- ) promovierter Elektrotechniker Uni Stuttgart; seit 1961 im Entwicklungslabor Böblingen der IBM tätig. Nach einem Algol-Projekt 1962-1963 im französischen Labor in La Gaude folgte eine Abordnung in die USA. Von 1965 bis 1984 war er Leiter der Systementwicklung des Böblinger Labors und verantwortete die Entwicklung mehrerer IBM Rechnerfamilien. Zu erwähnen sind das System/360 Modell 125 sowie die Systeme IBM 4331, 4361 und 9377. Über mehrere Jahre hinweg schloss seine Verantwortung auch die maschinen-nahe Software-Entwicklung mit ein, d.h. das Betriebssystem DOS/VSE. Im Jahre 1987 übernahm er die Leitung des Programm-Entwicklungs­zentrums (PPDC) Sindelfingen. Daraus entstand ein eigenes Anwendungsentwicklungslabor mit weltweiter Produktverantwortung im Datenbank- und Data-Warehouse-Bereich. Vogt berichtete an Earl Wheeler und später an Steve Mills, den Vizepräsidenten der IBM und Leiter der Software Group. Nach seiner Pensionierung im Jahre 1996 wurde er zum Geschäftsführenden Vorstand des Softwarezentrums Böblingen/Sindelfingen ernannt. Das Softwarezentrum Böblingen/Sindelfingen e.V. ist eine vom Land Baden-Württemberg, der örtlichen Bezirkskammer der IHK und den Städten Böblingen und Sindelfingen Ende 1995 initiierte Organisation. Vogt leitete es bis August 1999. Danach wurde er Vizepräsident F&E für Xybernaut, einer Firma, die Rechner baute, die bei Montage-Arbeiten am Körper des Monteurs getragen werden. Seit April 2011 ist er Leiter der Basketballabteilung der Böblingen Panthers.

Joerg Wechsler (1949- ) Mathematiker Uni Stuttgart; begann seine Berufskarriere 1974 im Entwicklungs-Labor der IBM in Böblingen, und zwar im Bereich Software-Qualitätssicherung. Ab 1980 übernahm er Management-Verantwortungen in der Software-Entwicklung. Unter anderem nahm er von 1983 -1985 eine Liaison-Funktion wahr, mit Sitz in Dallas, TX, zwischen Entwicklern, Vertrieb und Kunden für ein frühes Unix-Projekt (IX/370) des Böblinger Labors. Ab 1988 übernahm er die Leitung des Labor-Rechenzentrums in Böblingen und war von 1990 bis 1994 Leiter aller zentralen Rechenzentren der IBM Deutschland in Ehningen bei Stuttgart. Mitte 1994 verließ er die IBM und wechselte als Leiter des weltweiten Service Delivery zur Deutschen Bank nach Frankfurt. Im Jahre 1998 begann Wechsler als Geschäftsführer bei der damaligen dvg, einem Vorgängerunternehmen der heutigen Finanz Informatik. Er behielt diese Position nach einer Fusion von vier Sparkassen-IT-Dienstleistern im Jahr 2003 zur damaligen FinanzIT und nach der weiteren Fusion im Jahr 2008 zur Finanz Informatik. Zum Jahresende 2010 trat er in den Ruhestand. [Der erste der angegebenen Links verweist auf ein Interview in diesem Blog]

Dirk Wittkopp (1959- ) Informatiker TU Braunschweig; seit 1986 bei IBM. Dort war er unter anderem verantwortlich für die Entwicklung von Software für die Finanzbranche. Sein Weg führte ihn danach über die IT-Beratung von Zentralbanken in Osteuropa und Asien zur Entwicklung und Standardi­sierung von so genannten Smartcards, wie sie heute vielfach bei Kreditkarteninstituten und Behörden im Einsatz sind. Er verantwortete darüber hinaus den Aufbau der europäischen Entwicklungs­organisation für den Geschäftsbereich Pervasive Computing und Portal-Software. Aus letzterem entstand die Produktlinie WebSpere. Seit November 2009 ist Wittkopp Laborleiter, genau genommen Geschäftsführer der IBM Deutschland Research & Development GmbH mit Sitz in Böblingen. Er steht damit in der Nachfolge von Karl Ganzhorn und Walter Proebster, den ersten beiden Böblinger Laborleitern, und ist der erste Informatiker mit Software-Kompetenz in dieser Position.

Für wertvolle Hinweise danke ich den Kollegen Peter Mertens und Walter Tichy. Bei zwei Kollegen (Nill und Vogt) konnte ich keine personenbezogenen Datensammlungen (weder Selbst- noch Fremdbiografien) im Internet finden. Ein entsprechender Link fehlt daher bei ihnen. Dass eine große Anzahl ehemaliger Kollegen aus meiner IBM-Zeit vorkommt, möge man mir nachsehen. Hier kenne ich mich halt am besten aus.

Nachtrag am 6.5.2013:

Zwei weitere Unternehmensgründer (Norbert Stein, Stefan Vilsmeyer) werden in dem Beitrag über 'Hidden Champions' vorgestellt,