Diese drei Begriffe sind unentbehrlich für die Informatik-Literatur.
Sie erscheinen sowohl in populären wie in wissenschaftlichen Werken. Nur ungern
lasse ich mich in terminologische Dispute ein. Manchmal wird man dazu mehr oder
weniger gezwungen, wie dies in den zurückliegenden Beiträgen geschah. Ich komme
mir dabei vor, als ob ich mit Treibsand ein Haus bauen will.
Am 4.5. um 16:45 Uhr schickte Hartmut Wedekind folgenden Kommentar:
Eine Bemerkung kann ich mir nicht verkneifen. Ich bezweifele, dass es sehr realistisch ist, in stürmischer See aus herumtreibendem Holz mehr als nur ein primitives Floß bauen zu wollen. (BD)
Am 6.5.2012 schrieb Hartmut Wedekind:
Die besten Chancen verspreche ich mir, die Bedeutung der obigen drei
Begriffe in den Griff zu bekommen, indem ich gleichzeitig das Gegenteil mit
betrachte. Die Begriffspaare grenzen ein, vor allem gegenüber der Benutzung in
andern Wissenschaften, etwa der Mathematik oder Physik.
Begriffspaar 1: Abstrakt –
konkret
Es gibt in der Informatik beiderlei Datentypen, beiderlei Methoden und
Klassen sowie beiderlei Syntax. Außerdem gibt es beiderlei Automaten und
beiderlei Arbeit (letzteres bei Karl Marx). Ich werde nur die ersten vier Fälle
durch einen kurzen Hinweis erläutern.
Ein abstrakter
Datentyp (ADT) ist ein Verbund von Daten zusammen mit der Definition aller
zulässigen Operationen, die auf sie zugreifen
Eine abstrakte Klasse bezeichnet in der objektorientierten
Programmierung eine spezielle Klasse, die mindestens eine, aber auch mehrere abstrakte Methoden enthalten (also
Methoden ohne Rumpf, nur mit der Signatur). Per Definition können abstrakte
Klassen nicht instanziiert, d.h. keine Objekte von ihnen erzeugt werden.
Eine abstrakte Syntax beschreibt die generische Struktur von Daten
unabhängig von der Kodierungstechnik, die benutzt wird, um diese Daten zu
repräsentieren.
Abb..1:
Abstraktionsstufen eines Bildes
Bedeutung 1A (Umgangssprache):
Abstrakt ist gleichbedeutend mit vage, verschwommen, aber auch (laut Duden) vom
Dinglichen gelöst, rein begrifflich und vergeistigt. Man ist frei von körperlichen
Eigenarten und Beschränkungen und ohne Bezug zur Realität. Abstrakte Darstellungen
eines Gegenstandes lassen Details weg. So versteht sich auch die abstrakte
Kunst. Diese Bedeutung deckt sich mit dem lat. abstractus = abgezogen. Konkret
ist gegenständlich. Das grafische Beispiel in Abb. 1 zeigt verschiedene
Abstraktionsgrade desselben Bildes.
Bedeutung 1B (mathematische
Logik): Der Mathematiker Gottlob Frege (1848-1926) erkannte, dass durch
(manche) Abstraktionen Äquivalenzklassen entstehen. So erlaubt eine Abstraktion
es, Dinge zu vergleichen oder als Menge zusammenzufassen, die vorher nicht
vergleichbar waren. Beispiele aus dem Alltagsleben sind:
1 Tisch, 4 Stühle,
2 Vasen, 3 Bilder, 1 Schrank → 11
Einrichtungsgegenstände
oder
2 Äpfel, 3 Birnen, 6
Erdbeeren und 10 Weintrauben → 21 Stücke Obst, oder besser etwa 2 Kilo Obst.
In der Informatik gelten beide Bedeutungen. Im Zusammenhang mit
formatierten Daten scheint die Bedeutung 1B sehr hilfreich zu sein (siehe
Wedekind [1]). Bei nicht-formatierten Daten (Texten, Bildern) kommt meistens Bedeutung
1A zum Tragen. Bekanntlich sind die darauf basierenden Anwendungen enorm im
Vormarsch.
Sonderfall: Der Abstrakt
eines Textes ist eine kurze, prägnante Zusammenfassung eines längeren Textes.
Begriffspaar 2A: Logisch – physisch
Es gibt in der Informatik beiderlei Sätze (in der Datenverwaltung),
beiderlei Schemas (bei Datenbanken) und beiderlei Laufwerke (in der
Rechner-Konfiguration)
Bei Magnetbändern und Platten ist ein
physischer Satz (Block) technisch bedingt und stimmt oft nicht mit einem logischen Satz überein. Der kann größer
oder kleiner als ein Block sein.
Während das interne Schema die physische
Gruppierung der Daten und die Speicherplatzbelegung beschreibt, gibt das logische Schema (abgeleitet aus dem
konzeptionellen Schema) den grundlegenden Aufbau der Datenstruktur
wieder.
Plattenbereiche (Partitionen) können von
Betriebssystemen wie physische Laufwerke behandelt werden. Man bezeichnet
solche Partitionen daher auch als logisches
Laufwerk.
Logisch ist etwas, wenn es so ist, wie vernünftige Menschen es haben
möchten. Eine logische Aussage macht Sinn, ist folgerichtig und enthält keine
Ungereimtheiten. Das Wort kommt von griechisch logos = Wort. Physisch ist so,
wie es von Natur aus ist.
Begriffspaar 2B: Logisch –
arithmetisch
Es gibt beiderlei Ausdrücke in fast allen Programmiersprachen. Logische
Ausdrücke bestimmen den Programmfluss, d.h. welche Pfade durchlaufen werden.
Arithmetische Ausdrücke geben an, welche Funktionswerte berechnet werden.
Begriffspaar 3: Virtuell – real
Es gibt in der Informatik beiderlei Adressen, beiderlei Speicher, beiderlei
Laufwerke und beiderlei Maschinen. In der Physik gibt es virtuelle Bilder (siehe
Abb. 2) und virtuelle Teilchen, in der Betriebswirtschaftslehre virtuelle
Organisationen. Die vier Verwendungen in der Informatik sind kurz vorgestellt.
Eine fünfte folgt als Sonderfall.
Eine virtuelle Adresse ist die Adresse in einem virtuellen Speicher. Der
virtuelle Speicher bezeichnet den
vom tatsächlich vorhandenen Arbeitsspeicher unabhängigen Adressraum, der einem
Prozess vom Betriebssystem zur Verfügung gestellt wird.
Als virtuelles
Laufwerk bezeichnet man die funktionelle Nachbildung (Emulation) eines
Laufwerks inklusive eines Datenträgers bzw. Wechselmediums..
Eine virtuelle Maschine ist ein simulierter Computer. Er besteht nicht
aus Hardware, sondern aus Software. Auf einem reellen Computer können
gleichzeitig mehrere virtuelle Maschinen betrieben werden
Abb. 2: Virtuelles Bild im Spiegel. Quelle: Wikipedia
Virtuell bedeutet, dass etwas nicht in der Form existiert, in der es zu
existieren scheint, aber in ihrem Wesen oder ihrer Wirkung einer real
existierenden Sache gleicht (siehe Duden). Die Form ist ohne Beschränkung, ohne
Makel. Das Wort kommt von lat. virtus = Tugend. Es war ursprünglich ein Synonym
für Abstrakt, ist es aber nicht mehr. Real ist echt vorhanden.
Sonderfall: Virtuelle Realität
Hier liegt so etwas wie eine Contradictio in adiecto (widersprechendes
Adjektiv) vor. Das ist der Fall, wenn ein Adjektiv und ein Substantiv eine
Wortgruppe bilden, die von ihrer Bedeutung her nicht zueinander passen.
Beispiele sind "weißer Rappe" und "schwarzer Schimmel". Der
Begriff Realität ist hier irreführend. Alles ist virtuell wie in einem Spiegel.
Da die Objekte um einen herum angeordnet sind, und man mit ihnen interagiert,
glaubt der naive Nutzer, er interagiere mit der Realität.
Nachtrag: Implizit - explizit
Nicht zur Informatik sondern zur Mathematik gehört das Begriffspaar
implizit und explizit. Computer zwingen Informatiker meistens dazu, explizit zu
sagen, was sie wollen und wie dies geschehen soll. Bei impliziten Angaben
(seien es Funktionen, Gleichungen oder Wissen) stellt ein normaler Computer
sich mit Recht stur. Erst wenn er sich klar wurde, dass er eigentlich alles
können müsste, was ein Mensch kann, fängt er an, Formeln zu manipulieren. Mit
Hilfe von Methoden der Künstlichen Intelligenz (KI) versucht er Gleichungen zu
lösen, d.h. aus der impliziten in die explizite Form umzuwandeln.
Nachgedanken
Die Beschäftigung mit Terminologie legt einige Gedanken nahe über das
Wesen von (natürlichen) Sprachen. Sie sind vorwiegend Hilfsmittel der
Kommunikation zwischen gleichzeitig existierenden Gesellschaften oder Gruppen.
Sie sind Vereinbarungen zwischen den aktuellen Teilnehmern eines meist über
Jahre hinweg bestehenden Kommunikationsfadens (engl. thread). Man beginnt dabei
nicht am Punkt Null, sondern verwendet, was man von Andern gelernt hat. Die
‚Andern‘ sind Eltern, Lehrer, Medien und Clique.
Verschiedene Gruppen, auch im selben Sprachraum, verändern die Sprache
nach Bedarf. Oft tun sie es auch willkürlich. Jede Sprache hat nur endlich
viele Wortstämme. Diese werden ergänzt, indem man andere Sprachen als Steinbruch
verwendet.
Die verschiedenen Gruppen, Gesellschaften und Zeiten haben dafür verschiedene
Favoriten. Alt-griechische, lateinische, französische und englische Lehnworte
verraten, von wem sie wann adoptiert wurden. Mit ihrer Hilfe lassen sich auch Begriffe
verfeinern, wie bei Feier, Fête und Party. Sprachnutzer führen selten ganz neue Worte
ein, viel öfters re-interpretieren sie bestehende Worte und Begriffe. Eine
beliebte Methode der Neuschöpfung sind Abkürzungen, wie Azubi, GAU und EKG.
Manchmal verwirren Sprachnutzer Außenstehende oder hängen sie einfach
ab. Nur beschränkt werden Anstrengungen unternommen, dass auch Außenstehende
den Informationsaustausch einer Gruppe voll verstehen. Das gilt auch zwischen
verschiedenen Generationen. Vieles von dem, was in der Sprachforschung an wissenschaftlichen
Erkenntnissen gewonnen werden kann, ist historischer, wenn nicht gar
anekdotischer Natur.
Zusätzliche Referenz
- Wedekind, H., · Ortner , E., ·Inhetveen, R.: Informatik als Grundbildung, Teil III: Gleichheit und Abstraktion. Informatik-Spektrum 27,4 (August 2004), 337-341
Am 4.5. um 16:45 Uhr schickte Hartmut Wedekind folgenden Kommentar:
Die Schiffbrüchigen
Eine Anekdote von Otto Neurath (1881
-1945),
nacherzählt von Hartmut Wedekind
Otto
Neurath, der Cheforganisator des Wiener Kreises um Rudolf Carnap (1891- 1970),
hat eine wunderschöne und lehrreiche Anekdote darüber verfasst, wie
wir unsere Wissenschaftssprache aufbauen
sollten, um nicht endgültig in einem Meer von Unbestimmtheiten abzusaufen. Diese
Geschichte von Schiffbrüchigen, die wir
nun nacherzählen, wird in der Literatur wieder und wieder zitiert, z.B. bei
W.v.O. Quine in seinem Werk „Word and Object“, bei Paul Lorenzen in seinem Essay „
Methodisches Denken“ und von Helmut
Seiffert in seinem Büchlein „Wissenschaftstheorie “. Schiffbrüchige, die sich ein stolzes Schiff auf
hoher See selbst wieder flott machen, das ist der Inhalt der alte Seemanns-Story von Otto
Neurath, auch für Piraten geeignet, die durch das Netz wegen der schier
unendlichen Verfügbarkeit in einen anarchischen Vollrausch geraten sind.
Wo fangen
wir bei unserem Aufbau einer Wissenschaftssprache an?
Eine „
tabula rasa“, einen absoluten Anfang gibt es nicht. Würden wir diesen
voraussetzen, so würde das im Bilde der Seefahrt bedeuten, wir sind an Land und
bauen oder reparieren in aller Ruhe ein Schiff in einer Werft. Das geht aber nicht. Wir sind mit unserer
natürlichen Sprache als ein Schiff immer schon
auf hoher See und es gibt kein Land ringsum, um dort Reparaturen oder
ganze Havarien auszubessern. Es gibt keinen Anfang. Und trotzdem haben unsere
Vorfahren dieses Schiff gebaut. Diese konnten offensichtlich schwimmen und
haben sich irgendwie aus herumtreibendem Holz zunächst ein Floß gezimmert,
dieses immer wieder verbessert, bis es heute zu einem stolzen Schiff geworden
ist.
Wir
Schiffbrüchigen müssen mitten im Meer nun eine Rekonstruktion unseres Schiffs
vornehmen. Das heißt, wir müssen ins Wasser springen, vor dem wir keine Angst
haben dürfen, weil uns sonst der Seemannstod ereilt. Wir finden schwimmend
erste Planken als Prädikate, mit denen wir herum schwimmende Holzteile unterscheiden können. Wir kennen
Regeln, um Holzteile oder Prädikate zusammenzufügen. Durch Regeln verbinden wir
die Prädikate auch zu einem Begriffssystem usw. so lange, bis wir wieder flott
sind. Was wird aber aus unseren Mitseefahrern, die sich an der Rekonstruktion
nicht beteiligen? Die gehen mit dem havarierten Schiff im Meer der
Unbestimmtheit unter, obwohl sie versuchen werden, auf ein paar Planken
festgeklammert mehr oder weniger vergeblich ihr Leben zu retten.
Die
Quintessenz der Neurath‘schen Story oder
die „Moral von der Geschicht“ nach Seifert:
1. Es gibt
keinen absoluten Anfang.
2. Trotzdem
können wir es unternehmen, eine Wissenschaftssprache von Anfang an systematisch
aufzubauen (d.h. auf hoher See schwimmend ein neues Schiff zu zimmern).
Eine Bemerkung kann ich mir nicht verkneifen. Ich bezweifele, dass es sehr realistisch ist, in stürmischer See aus herumtreibendem Holz mehr als nur ein primitives Floß bauen zu wollen. (BD)
Am 6.5.2012 schrieb Hartmut Wedekind:
Allegorien
wie das Beispiel von Schiffbrüchigen gehören nicht in die realistische
(wirkliche) Welt. Allegorien, so steht in meinem Lexikon, sind seit
der Antike uneigentliche Redefiguren, die etwas anderes als den
wörtliche Sinn zum Ausdruck bringen. Sie gehören in den Bereich des
analogischen Denkens (Analogie = Entsprechung). „Ritter Tod und Teufel“ von Dürer sind auch nicht realistisch. Sie sind im übertragenen Sinne vom Betrachter zu verstehen.
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