Freitag, 4. Mai 2012

Abstrakt, logisch und virtuell – so liebt es die Informatik

Diese drei Begriffe sind unentbehrlich für die Informatik-Literatur. Sie erscheinen sowohl in populären wie in wissenschaftlichen Werken. Nur ungern lasse ich mich in terminologische Dispute ein. Manchmal wird man dazu mehr oder weniger gezwungen, wie dies in den zurückliegenden Beiträgen geschah. Ich komme mir dabei vor, als ob ich mit Treibsand ein Haus bauen will.

Die besten Chancen verspreche ich mir, die Bedeutung der obigen drei Begriffe in den Griff zu bekommen, indem ich gleichzeitig das Gegenteil mit betrachte. Die Begriffspaare grenzen ein, vor allem gegenüber der Benutzung in andern Wissenschaften, etwa der Mathematik oder Physik.


Begriffspaar 1: Abstrakt – konkret

Es gibt in der Informatik beiderlei Datentypen, beiderlei Methoden und Klassen sowie beiderlei Syntax. Außerdem gibt es beiderlei Automaten und beiderlei Arbeit (letzteres bei Karl Marx). Ich werde nur die ersten vier Fälle durch einen kurzen Hinweis erläutern.

Ein abstrakter Datentyp (ADT) ist ein Verbund von Daten zusammen mit der Definition aller zulässigen Operationen, die auf sie zugreifen

Eine abstrakte Klasse bezeichnet in der objektorientierten Programmierung eine spezielle Klasse, die mindestens eine, aber auch mehrere abstrakte Methoden enthalten (also Methoden ohne Rumpf, nur mit der Signatur). Per Definition können abstrakte Klassen nicht instanziiert, d.h. keine Objekte von ihnen erzeugt werden.

Eine abstrakte Syntax beschreibt die generische Struktur von Daten unabhängig von der Kodierungstechnik, die benutzt wird, um diese Daten zu repräsentieren.

 Abb..1: Abstraktionsstufen eines Bildes

Bedeutung 1A (Umgangssprache): Abstrakt ist gleichbedeutend mit vage, verschwommen, aber auch (laut Duden) vom Dinglichen gelöst, rein begrifflich und vergeistigt. Man ist frei von körperlichen Eigenarten und Beschränkungen und ohne Bezug zur Realität. Abstrakte Darstellungen eines Gegenstandes lassen Details weg. So versteht sich auch die abstrakte Kunst. Diese Bedeutung deckt sich mit dem lat. abstractus = abgezogen. Konkret ist gegenständlich. Das grafische Beispiel in Abb. 1 zeigt verschiedene Abstraktionsgrade desselben Bildes.

Bedeutung 1B (mathematische Logik): Der Mathematiker Gottlob Frege (1848-1926) erkannte, dass durch (manche) Abstraktionen Äquivalenzklassen entstehen. So erlaubt eine Abstraktion es, Dinge zu vergleichen oder als Menge zusammenzufassen, die vorher nicht vergleichbar waren. Beispiele aus dem Alltagsleben sind:

1 Tisch, 4 Stühle, 2 Vasen, 3 Bilder, 1 Schrank → 11 Einrichtungsgegenstände

oder

2 Äpfel, 3 Birnen, 6 Erdbeeren und 10 Weintrauben → 21 Stücke Obst, oder besser etwa 2 Kilo Obst.
  
In der Informatik gelten beide Bedeutungen. Im Zusammenhang mit formatierten Daten scheint die Bedeutung 1B sehr hilfreich zu sein (siehe Wedekind [1]). Bei nicht-formatierten Daten (Texten, Bildern) kommt meistens Bedeutung 1A zum Tragen. Bekanntlich sind die darauf basierenden Anwendungen enorm im Vormarsch.

Sonderfall: Der Abstrakt eines Textes ist eine kurze, prägnante Zusammenfassung eines längeren Textes.


Begriffspaar 2A: Logisch – physisch

Es gibt in der Informatik beiderlei Sätze (in der Datenverwaltung), beiderlei Schemas (bei Datenbanken) und beiderlei Laufwerke (in der Rechner-Konfiguration)

Bei Magnetbändern und Platten ist ein physischer Satz (Block) technisch bedingt und stimmt oft nicht mit einem logischen Satz überein. Der kann größer oder kleiner als ein Block sein.

Während das interne Schema die physische Gruppierung der Daten und die Speicherplatzbelegung beschreibt, gibt das logische Schema (abgeleitet aus dem konzeptionellen Schema) den grundlegenden Aufbau der Datenstruktur wieder. 

Plattenbereiche (Partitionen) können von Betriebssystemen wie physische Laufwerke behandelt werden. Man bezeichnet solche Partitionen daher auch als logisches Laufwerk.

Logisch ist etwas, wenn es so ist, wie vernünftige Menschen es haben möchten. Eine logische Aussage macht Sinn, ist folgerichtig und enthält keine Ungereimtheiten. Das Wort kommt von griechisch logos = Wort. Physisch ist so, wie es von Natur aus ist.


Begriffspaar 2B: Logisch – arithmetisch

Es gibt beiderlei Ausdrücke in fast allen Programmiersprachen. Logische Ausdrücke bestimmen den Programmfluss, d.h. welche Pfade durchlaufen werden. Arithmetische Ausdrücke geben an, welche Funktionswerte berechnet werden.

Begriffspaar 3: Virtuell – real

Es gibt in der Informatik beiderlei Adressen, beiderlei Speicher, beiderlei Laufwerke und beiderlei Maschinen. In der Physik gibt es virtuelle Bilder (siehe Abb. 2) und virtuelle Teilchen, in der Betriebswirtschaftslehre virtuelle Organisationen. Die vier Verwendungen in der Informatik sind kurz vorgestellt. Eine fünfte folgt als Sonderfall.

Eine virtuelle Adresse ist die Adresse in einem virtuellen Speicher. Der virtuelle Speicher bezeichnet den vom tatsächlich vorhandenen Arbeitsspeicher unabhängigen Adressraum, der einem Prozess vom Betriebssystem zur Verfügung gestellt wird.

Als virtuelles Laufwerk bezeichnet man die funktionelle Nachbildung (Emulation) eines Laufwerks inklusive eines Datenträgers bzw. Wechselmediums..

Eine virtuelle Maschine ist ein simulierter Computer. Er besteht nicht aus Hardware, sondern aus Software. Auf einem reellen Computer können gleichzeitig mehrere virtuelle Maschinen betrieben werden

Abb. 2: Virtuelles Bild im Spiegel. Quelle: Wikipedia

Virtuell bedeutet, dass etwas nicht in der Form existiert, in der es zu existieren scheint, aber in ihrem Wesen oder ihrer Wirkung einer real existierenden Sache gleicht (siehe Duden). Die Form ist ohne Beschränkung, ohne Makel. Das Wort kommt von lat. virtus = Tugend. Es war ursprünglich ein Synonym für Abstrakt, ist es aber nicht mehr. Real ist echt vorhanden.

Sonderfall: Virtuelle Realität

Hier liegt so etwas wie eine Contradictio in adiecto (widersprechendes Adjektiv) vor. Das ist der Fall, wenn ein Adjektiv und ein Substantiv eine Wortgruppe bilden, die von ihrer Bedeutung her nicht zueinander passen. Beispiele sind "weißer Rappe" und "schwarzer Schimmel". Der Begriff Realität ist hier irreführend. Alles ist virtuell wie in einem Spiegel. Da die Objekte um einen herum angeordnet sind, und man mit ihnen interagiert, glaubt der naive Nutzer, er interagiere mit der Realität.

Nachtrag: Implizit - explizit

Nicht zur Informatik sondern zur Mathematik gehört das Begriffspaar implizit und explizit. Computer zwingen Informatiker meistens dazu, explizit zu sagen, was sie wollen und wie dies geschehen soll. Bei impliziten Angaben (seien es Funktionen, Gleichungen oder Wissen) stellt ein normaler Computer sich mit Recht stur. Erst wenn er sich klar wurde, dass er eigentlich alles können müsste, was ein Mensch kann, fängt er an, Formeln zu manipulieren. Mit Hilfe von Methoden der Künstlichen Intelligenz (KI) versucht er Gleichungen zu lösen, d.h. aus der impliziten in die explizite Form umzuwandeln.

Nachgedanken

Die Beschäftigung mit Terminologie legt einige Gedanken nahe über das Wesen von (natürlichen) Sprachen. Sie sind vorwiegend Hilfsmittel der Kommunikation zwischen gleichzeitig existierenden Gesellschaften oder Gruppen. Sie sind Vereinbarungen zwischen den aktuellen Teilnehmern eines meist über Jahre hinweg bestehenden Kommunikationsfadens (engl. thread). Man beginnt dabei nicht am Punkt Null, sondern verwendet, was man von Andern gelernt hat. Die ‚Andern‘ sind Eltern, Lehrer, Medien und Clique.

Verschiedene Gruppen, auch im selben Sprachraum, verändern die Sprache nach Bedarf. Oft tun sie es auch willkürlich. Jede Sprache hat nur endlich viele Wortstämme. Diese werden ergänzt, indem man andere Sprachen als Steinbruch verwendet.

Die verschiedenen Gruppen, Gesellschaften und Zeiten haben dafür verschiedene Favoriten. Alt-griechische, lateinische, französische und englische Lehnworte verraten, von wem sie wann adoptiert wurden. Mit ihrer Hilfe lassen sich auch Begriffe verfeinern, wie bei Feier, Fête und Party. Sprachnutzer führen selten ganz neue Worte ein, viel öfters re-interpretieren sie bestehende Worte und Begriffe. Eine beliebte Methode der Neuschöpfung sind Abkürzungen, wie Azubi, GAU und EKG.

Manchmal verwirren Sprachnutzer Außenstehende oder hängen sie einfach ab. Nur beschränkt werden Anstrengungen unternommen, dass auch Außenstehende den Informationsaustausch einer Gruppe voll verstehen. Das gilt auch zwischen verschiedenen Generationen. Vieles von dem, was in der Sprachforschung an wissenschaftlichen Erkenntnissen gewonnen werden kann, ist historischer, wenn nicht gar anekdotischer Natur.

Zusätzliche Referenz
  1. Wedekind, H., · Ortner , E., ·Inhetveen, R.: Informatik als Grundbildung, Teil III: Gleichheit und Abstraktion. Informatik-Spektrum 27,4 (August 2004), 337-341 

Am 4.5. um 16:45 Uhr schickte Hartmut Wedekind folgenden Kommentar: 


Die Schiffbrüchigen
Eine Anekdote von Otto Neurath (1881 -1945),
nacherzählt von Hartmut Wedekind

Otto Neurath, der Cheforganisator des Wiener Kreises um Rudolf Carnap (1891- 1970), hat eine wunderschöne und lehrreiche Anekdote  darüber verfasst, wie wir unsere  Wissenschaftssprache aufbauen sollten, um nicht endgültig in einem Meer von Unbestimmtheiten abzusaufen. Diese Geschichte von Schiffbrüchigen, die wir nun nacherzählen, wird in der Literatur wieder und wieder zitiert, z.B. bei W.v.O. Quine  in seinem Werk  „Word and Object“,  bei Paul Lorenzen in seinem Essay „ Methodisches Denken“  und von Helmut Seiffert in seinem Büchlein „Wissenschaftstheorie “.  Schiffbrüchige, die sich ein stolzes Schiff auf hoher See selbst wieder flott machen, das ist der Inhalt der alte Seemanns-Story von Otto Neurath, auch für Piraten geeignet, die durch das Netz wegen der schier unendlichen Verfügbarkeit in einen anarchischen Vollrausch geraten sind.

Wo fangen wir bei unserem Aufbau einer Wissenschaftssprache an?

Eine „ tabula rasa“, einen absoluten Anfang gibt es nicht. Würden wir diesen voraussetzen, so würde das im Bilde der Seefahrt bedeuten, wir sind an Land und bauen oder reparieren in aller Ruhe ein Schiff in einer Werft.  Das geht aber nicht. Wir sind mit unserer natürlichen Sprache als ein Schiff immer schon auf hoher See und es gibt kein Land ringsum, um dort Reparaturen oder ganze Havarien auszubessern. Es gibt keinen Anfang. Und trotzdem haben unsere Vorfahren dieses Schiff gebaut. Diese konnten offensichtlich schwimmen und haben sich irgendwie aus herumtreibendem Holz zunächst ein Floß gezimmert, dieses immer wieder verbessert, bis es heute zu einem stolzen Schiff geworden ist.

Wir Schiffbrüchigen müssen mitten im Meer nun eine Rekonstruktion unseres Schiffs vornehmen. Das heißt, wir müssen ins Wasser springen, vor dem wir keine Angst haben dürfen, weil uns sonst der Seemannstod ereilt. Wir finden schwimmend erste Planken als Prädikate, mit denen wir herum schwimmende Holzteile unterscheiden können. Wir kennen Regeln, um Holzteile oder Prädikate zusammenzufügen. Durch Regeln verbinden wir die Prädikate auch zu einem Begriffssystem usw. so lange, bis wir wieder flott sind. Was wird aber aus unseren Mitseefahrern, die sich an der Rekonstruktion nicht beteiligen? Die gehen mit dem havarierten Schiff im Meer der Unbestimmtheit unter, obwohl sie versuchen werden, auf ein paar Planken festgeklammert mehr oder weniger vergeblich ihr Leben zu retten.

Die Quintessenz der Neurath‘schen  Story oder die „Moral von der Geschicht“ nach Seifert:
1. Es gibt keinen absoluten Anfang.
2. Trotzdem können wir es unternehmen, eine Wissenschaftssprache von Anfang an systematisch aufzubauen (d.h. auf hoher See schwimmend ein neues Schiff zu zimmern).

Eine Bemerkung kann ich mir nicht verkneifen. Ich bezweifele, dass es sehr realistisch ist, in stürmischer See aus herumtreibendem Holz mehr als nur ein primitives Floß bauen zu wollen. (BD)

Am 6.5.2012 schrieb Hartmut Wedekind:
 
Allegorien wie das Beispiel von Schiffbrüchigen gehören nicht in die realistische (wirkliche) Welt. Allegorien, so steht in meinem Lexikon, sind seit der Antike uneigentliche Redefiguren, die etwas anderes als den wörtliche Sinn zum Ausdruck bringen. Sie gehören in den Bereich des analogischen Denkens (Analogie = Entsprechung). „Ritter Tod und Teufel“ von Dürer sind auch nicht realistisch. Sie sind im übertragenen Sinne vom Betrachter zu verstehen.

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