In einem Beitrag im Spektrum der Wissenschaft (September 2012)
schrieb Michael Springer:
Unter
Emergenz versteht man in der Regel
etwas, das komplexe Phänomene nicht bloß vereinfacht, sondern auch Neues erzeugt;
Emergenz sollte aus einem komplexen System nach gängigem Verständnis »mehr als
die Summe seiner Teile« machen, nicht weniger!
Im Folgenden gebe ich Auszüge einer längeren Korrespondenz zwischen Peter Hiemann und Hans Diel wieder. Zusätzliche Kommentare von Hans Diel sind als Einschübe (kursiv) in Peter Hiemanns Text eingefügt und (mit HD) als solche kenntlich gemacht.
Im Folgenden gebe ich Auszüge einer längeren Korrespondenz zwischen Peter Hiemann und Hans Diel wieder. Zusätzliche Kommentare von Hans Diel sind als Einschübe (kursiv) in Peter Hiemanns Text eingefügt und (mit HD) als solche kenntlich gemacht.
Am 12.9.2012 schrieb Peter Hiemann
aus Grasse:
Nachfolgend gebe ich ein paar Kommentare
zu dem SdW-Artikel „Komplexität und Emergenz“.
Der Autor Michael Springer (er ist
Physiker) erklärt das Phänomen Emergenz in physikalischen Systemen durch die
Notwendigkeit und die Herleitung (Entdeckung?) physikalischer
Gesetzmäßigkeiten, um physikalische Phänomene unterschiedlicher physikalischer
Abstraktionsebenen zu beschreiben. Für Springer „emergiert“ das Phänomen
Zeitpfeil „aus der statistischen Beschreibung komplexer Mikrosysteme“. Wenn er in
diesem Zusammenhang von Mikrosystemen spricht, meint er Ansammlungen von Atomen
oder Molekülen in einem Gas oder einer Flüssigkeit. Mit statistischen Mitteln
lässt sich in diesem Fall Ursache (irreversible thermische Energie) und Wirkung
(Entropiezunahme) eines physikalisch emergenten Phänomens angeben.
Ich bin ziemlich sicher, dass Springer
weiß, dass das Phänomen Emergenz in biologischen Systemen nicht „aus der
statistischen Beschreibung komplexer Mikrosysteme emergiert“, sondern das
Resultat evolutionärer Prozesse ist.
HD: Ich sehe nicht den Gegensatz von „statistischen Beschreibungen komplexer Mikrosysteme“ und „evolutionären Prozessen“, glaube aber auch, dass Springer evolutionäre Prozesse nicht auf statistische Beschreibung reduzieren will. Ein mechanistischer Ansatz „Ursache --> Wirkung“ hat in biologischen Systemen nur beschränkte Gültigkeit, z.B. in dem Prozess Gen → Protein. Ich sehe „Ursache --> Wirkung“ Erklärungen nicht als „mechanistischen Ansatz“ und wundere mich, dass „Ursache --> Wirkung“ Erklärungen in biologischen Systemen nur beschränkte Gültigkeit haben sollen. Wohl sehe ich, dass diese in der Biologie zurzeit noch nur begrenzt vorhanden sind.
HD: Ich sehe nicht den Gegensatz von „statistischen Beschreibungen komplexer Mikrosysteme“ und „evolutionären Prozessen“, glaube aber auch, dass Springer evolutionäre Prozesse nicht auf statistische Beschreibung reduzieren will. Ein mechanistischer Ansatz „Ursache --> Wirkung“ hat in biologischen Systemen nur beschränkte Gültigkeit, z.B. in dem Prozess Gen → Protein. Ich sehe „Ursache --> Wirkung“ Erklärungen nicht als „mechanistischen Ansatz“ und wundere mich, dass „Ursache --> Wirkung“ Erklärungen in biologischen Systemen nur beschränkte Gültigkeit haben sollen. Wohl sehe ich, dass diese in der Biologie zurzeit noch nur begrenzt vorhanden sind.
Ontogenetische und vor allem
phylogenetische evolutionäre Entwicklungen resultieren in Zunahme der
Komplexität existierender Systemstrukturen. Das führt gelegentlich (auch nicht
mit statistischen Mitteln abzuschätzen) zu neuen emergenten Systemelementen
oder emergenten Eigenschaften vorher existierender Systemelemente.
Komplexitätszunahme kann übrigens bei
Systemen jeglicher Art zu chaotischen Verhältnissen führen. Nach meinem Verständnis lassen sich
biologische Phänomene und eben auch emergente biologische Phänomene am ehesten
auf der Basis der Interaktion zwischen Systemelementen der verschiedensten
biologischen Abstraktionsebenen (Zellen – Gewebe – Organe – Funktionssysteme -
Organismus) erklären. Bei emergenten biologischen Phänomenen spielen die
evolutionären Prinzipien Reproduktion, Mutation und Selektion eine
entscheidende Rolle.
Übrigens überlegt Springer am Schluss
des SdW-Artikels, ob das soziale Phänomen „Altruismus“ als emergentes Phänomen
der menschlichen Gesellschaft betrachtet werden könnte. Seine Aussage „damit
entwickeln die Individuen einer Population Emergenz wie die Atome eines Gases“
hat es mir außerordentlich erschwert, seine Versuche einer allgemeinen
Erklärung der Phänomene „Komplexität und Emergenz“ allzu ernst zu nehmen.
HD: Wenn Sie unter einer „emergenten
Eigenschaft“ eine Eigenschaft verstehen die (a) in einem System erst nach einer
gewissen (zeitlichen) Entwicklung auftritt, und (b) nicht in den Begriffen des
bisherigen Systems erklärt werden kann, dann wundert es mich, dass Sie die
Theorie von Springer für abwegig halten. Damit will ich nicht sagen, dass ich
die Theorie gut finde. An Stelle einer Theorie von Allem und
der Ableitung naturwissenschaftlicher Phänomene aus universalen Gesetzen,
werden wir uns wohl mit transdisziplinären Dialogen, deren Ziel es ist, analoge
Strukturen komplexer Systeme auf unterschiedlichen Emergenzebenen zu
vergleichen, zufrieden geben müssen. Da stimme ich vehement zu. Eine Theorie
von Allem die alles erklärt wird es nicht
geben. Das schließt jedoch nicht aus, dass es Theorien geben kann, deren
Gesetze universelle Gültigkeit haben.
Ich befasse mich schon seit langem mit
Fragen zu Systemstrukturen. Das Thema hat eine lange Geschichte und ist in
letzter Zeit äußerst aktuell. Wenn mathematische Algorithmen nicht ausreichen,
Systeme hinreichend zu beschreiben, hat man es mit Begriffen wie Komplexität, Berechenbarkeit,
Interaktivität, Selbstorganisation, Ontogenese, Phylogenese, Emergenz,
Plastizität etc. zu tun. Bei Überlegungen zu diesen Begriffen sind stets
nichtlineare (rückbezügliche, iterative) Prozesse im Spiel. 1984 haben mich
bereits Mandelbrots Gedanken über die fraktale Geometrie der Natur sehr beeindruckt.
Mandelbrots iterative Prozesse erzeugen „wie aus dem Nichts“ Strukturen mit
selbstähnlichen Teilstrukturen.
Die folgenden Aussagen untermauern, dass
das Thema „Teile und Ganzes“ schon immer Anlass für transdisziplinäre
Diskussionen war und ist.
Aristoteles:
Das was aus Bestandteilen so
zusammengesetzt ist, dass es ein einheitliches Ganzes bildet, ist nicht nach
Art eines Haufens, sondern wie eine Silbe, das ist offenbar mehr als bloß die
Summe seiner Bestandteile. Eine Silbe ist nicht die Summe ihrer Laute: ba ist
nicht dasselbe wie b plus a, und Fleisch ist nicht dasselbe wie Feuer plus
Erde.
Friedrich
Engels, Karl Marx:
Dies können wir für unsern Zweck dahin
ausdrücken, daß in der Natur, in einer für jeden Einzelfall genau feststehenden
Weise, qualitative Änderungen nur stattfinden können durch quantitativen Zusatz
oder quantitative Entziehung von Materie oder Bewegung. Alle qualitativen
Unterschiede in der Natur beruhen entweder auf verschiedener chemischer
Zusammensetzung oder auf verschiedenen Mengen resp. Formen von Bewegung
(Energie) oder, was fast immer der Fall, auf beiden.
Philip
W. Anderson:
In jedem Stadium entsteht die Welt, die
wir wahrnehmen, durch »Emergenz«. Das heißt durch den Prozeß, bei dem
beträchtliche Aggregationen von Materie spontan Eigenschaften entwickeln
können, die für die einfacheren Einheiten, aus denen sie bestehen, keine
Bedeutung haben….„Dieses Prinzip der Emergenz ist eine ebenso alles
durchdringende Grundlage moderner wissenschaftlicher Betrachtungsweise wie
Reduktionismus…[Ja, richtig! Sofern er
„Emergenz“ nicht auf „Aggregationen von Materie“ reduziert, sondern auf alles
Mögliche].
Robert
B. Laughlin:
Aus physikalischer Sicht macht es
besonders viel Spaß über das Leben zu reden, weil es den extremsten Fall der
Emergenz von Gesetzmäßigkeiten darstellt.,,,Leider sind dem Ausdruck Emergenz
einige Bedeutungen zugewachsen, die für unterschiedliche Dinge stehen, darunter
übernatürliche Erscheinungen, die den physikalischen Gesetzen nicht unterworfen
sind. So etwas meine ich nicht. Ich verstehe darunter ein physikalisches
Ordnungsprinzip.
Neil
A. Campbell:
Organismen stellen demnach ein
hierarchisches System dar: Sie bestehen aus Organen, diese aus Zellen, diese
wiederum aus Organellen und diese sind wiederum aus Makromolekülen zusammengesetzt.
Ein Proteinmolekül besitzt Eigenschaften, die keines der Atome aufweist, aus
welchen es zusammengesetzt ist….Das ist so bei hierarchischen Systemen, aber
ist das immer schon Emergenz?
Humberto
Maturana, Francisco Varela:
Nun sind wir imstande zu sagen, dass
jede Klasse von Einheiten eine der eigenen Klasse eigentümliche Phänomenologie
besitzt. …Dass sich zwei (oder mehr) autopoietische Einheiten in ihrer Ontogenese
gekoppelt haben, sagen wir, wenn ihre Interaktionen einen rekursiven oder sehr
stabilen Charakter erlangt haben. …Bei diesen Interaktionen ist es so, dass die
Struktur des Milieus in den autopoietischen Einheiten Strukturveränderungen nur
auslöst, diese also weder determiniert noch instruiert (vorschreibt), was auch
umgekehrt für das Milieu gilt.
Am 13.9.2012 schrieb Hans Diel
aus Sindelfingen:
Das Thema Emergenz liefert jede Menge
Stoff für (kontroverse) Diskussionen. Dass Michael Springer Physiker ist wusste
ich nicht. Es macht ihn für mich, wie sich denken können, noch nicht
verdächtig, nicht auch etwas Allgemeinnützliches schreiben zu können.
Mir hat sein Essay gefallen, weil er für
mich als Erster eine Definition/Erklärung von Emergenz gegeben hat, bei der ich
nicht das Gefühl hatte, dass der Autor, so wie ich selbst, nur unklare
Vorstellungen davon hat, was man unter dem Thema verstehen sollte. Deshalb kann
es natürlich trotzdem noch sein, dass sein Verständnis von Emergenz, zwar
präzise und logisch konsistent, aber für Gebiete wie die Biologie unzweckmäßig
ist.
Ein zentraler Punkt der Definition von
Springer ist das Verständnis, dass das was „emergiert“ nicht Systeme, Dinge,
Zustände, Objekte sind, sondern Beschreibungen, Modelle, Sichten, Beschreibungsmöglichkeiten
von Systemen, etc. Sein Beispiel mit der Beschreibung eines Systems in Begriffen
von Temperatur, Druck, Entropie, etc. zeigt sehr schön, dass hier nicht das
System selbst emergiert, sondern eine neue Art der Betrachtung.
Damit haben wir drei Alternativen:
- Wir können sagen, dass wir das, was Springer zur Emergenz zählt (das Entstehen von neuen Konzepten der Betrachtung), nicht zur Emergenz zählen wollen.
- Wir können sagen, dass wir genau das zur Emergenz zählen wollen, was Springer darunter versteht.
- Wir können sagen, dass wir sowohl die Emergenz von Systemen, als auch das Entstehen von neuen Konzepten der Betrachtung zur Emergenz zählen wollen.
Ein zentraler Punkt, wo ich Probleme
damit habe ein weit verbreitetes Verständnis von Emergenz nachzuvollziehen, ist
das Verhältnis von Emergenz und Reduktionismus. Ich habe den Eindruck, dass oft Emergenz
und Reduktionismus als konträr gesehen werden. Wenn ich dann jedoch die
zitierten Beispiele für Emergenz sehe (Leben, Intelligenz, Supraleitfähigkeit,
etc.) verstehe ich nicht, warum es nicht sinnvoll sein kann diese Phänomene
reduktionistisch, d.h. in Bezug auf tiefer liegende Gesetzmäßigkeiten zu
erklären zu versuchen. Glaubt man
(a)
dass dies nicht
möglich ist,
(b) dass dies nicht sinnvoll ist, oder
(c)
dass man für das
betreffende Phänomen neue eigene Begriffe und Gesetzmäßigkeiten finden kann und
dies auch tun sollte?
Bei (c) würde ich sofort zustimmen. Dies würde sich jedoch genau mit dem Verständnis von Springer decken. Es würde aber keineswegs der Suche nach reduktionistischen Erklärungen überflüssig machen.
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