Vorbemerkung: Dieser Beitrag besteht aus zwei Teilen, die mir Peter Hiemann am 4.11.2012 aus Zarzis in Tunesien schickte. Die Überschriften wurden nachträglich eingefügt.
[Teil 1: François Jacobs Welt der Bakterien]
[Teil 1: François Jacobs Welt der Bakterien]
... ich habe während meines Tunesienaufenthaltes ein Buch gelesen, das
mir ein Geschichtsbild und damit wertvolle Einsichten vermittelt hat. Dabei
handelt es sich um eine Geschichte, die viele Beteiligte aufweist und zeigt,
wie viel Mühe und Zeit nötig ist, um wichtige Gedankengebäude zu errichten.
Diese werden in kleinen, manchmal auch größeren Schritten geschaffen, wobei in
jeder Epoche für diese Epoche typische „Räume“ durch repräsentative
Persönlichkeiten eröffnet werden. Manche dieser Räume mussten mit der Zeit
aufgegeben werden, manche wurden renoviert, neue kamen hinzu.
Das Buch wurde von François Jacob verfasst: „Die
Logik des Lebenden – Eine Geschichte der Vererbung“. Jacob erzählt die
spannende Geschichte biologischer Hypothesenbildung und Entdeckungen.
Im 16. und 17. Jahrhundert ging es den Beteiligten um die Analyse der
natürlichen Strukturen und die Frage, welche ordnende Macht dahinter steht und
für harmonische Verhältnisse sorgt. Während der zweiten Hälfte des 18.
Jahrhunderts und des Übergangs zum 19. Jahrhundert erstrecken sich Analyse und
Vergleich biologischer Objekte nicht mehr ausschließlich auf die Anordnung
strukturbildender Elemente sondern auf die inneren Beziehungen zwischen
Elementen.
Im 19. Jahrhundert wird immer deutlicher, dass biologischen Strukturen
sich nach einem „Organisationsplan“ entfalten. Das Huhn erzeugt das Ei und das
Ei erzeugt das Huhn. Was wann entsteht, ist eine Frage der Zeit. Die Vielfalt
der natürlichen Strukturen deutete mit Hilfe der Geologen darauf hin, dass eine
„weiter entlegene, mächtigere Zeit“ für weitreichende Beziehungen zwischen
Lebewesen gesorgt hat. Die Theorie der Evolution wurde möglich. Mitte des 19.
Jahrhunderts entstehen die „endgültigen“ Formen der Zelltheorie und der
Evolutionstheorie. Jetzt wird mit der chemischen Analyse der Körperfunktionen
und die Erforschung der Vererbung begonnen.
Am Beginn des 20. Jahrhunderts etablieren sich die Spezialgebiete
Biochemie und Genetik. Die Biochemie analysiert die Stoffe, aus denen Lebewesen
aufgebaut sind, und die Reaktionen, die in ihnen ablaufen. Die Genetik
untersucht Populationen von Organismen, um ihre Vererbung zu analysieren. Es
wird postuliert, dass Vererbung wohl auf einem natürlichen „Gedächtnis“ beruhen
muss. Um Regeln der Vererbung zu finden, werden Analogien der Denkweisen der
statistischen Mechanik Boltzmanns und der Evolutionstheorie Darwins ins Feld
geführt. Die Berücksichtigung von Wahrscheinlichkeiten ermöglicht die Begriffe
„Ordnung“ und „Zufall“ als zwei Seiten derselben Medaille aufzufassen.
Mitte des 20. Jahrhunderts ändert das Thema „Organisation“ noch einmal
ihre Regeln. Jetzt bestimmt die Struktur der aufbauenden Elemente die Struktur
des Ganzen. Die aufbauenden Elemente werden im Kern der Zelle gesucht und
gefunden: Chromosomen. Um ihre Strukturen zu analysieren, entsteht der neue
biochemische Fachbereich Zytologie. Mit neuen Verfahren werden Chromosomen eingefärbt („Chrom“), sodass deren Strukturen
sichtbar werden. Sehr bald vermutet man in den Keimzellen (Eizellen und Samenzellen),
die halb so viele Chromosomen wie somatische Körperzellen enthalten, die Träger
der Vererbung.
Im vorletzten Kapitel „Das Molekül“ seines Buches beschreibt Jacob die
Ergebnisse seiner Studien, die er mit Hilfe der „einfachsten“ biologischen
Strukturen, eines Bakteriums und eines Virus, gewonnen hat. Ein Bakterium
besteht zwar nur aus einer Zelle ohne Zellkern, besitzt aber alle alle
biologischen Funktionen, die es der Zelle erlauben sich zu reproduzieren, aus
einer Zelle zwei zu machen, die beide die exakt gleichen Funktionen besitzen.
„Mit höchster Geschwindigkeit führt die kleine Bakterienzelle etwa zweitausend
(biochemische) Reaktionen durch, die ihren Metabolismus bilden“. Die kleine
Zelle produziert alle Proteine entsprechend genetischer Vorgaben. Es sind aber
die Proteine, die sowohl bestimmen, welche genetischen Anweisungen wann
auszuführen sind, als auch für die Durchführung der biochemischen Reaktionen
zwischen Proteinen „sorgen“. Für jede biochemische Reaktion produziert die
Zelle ein spezielles Enzym (Protein), um eine spezielle Reaktion zu katalysieren. Die Regulierung der
biochemischen Prozesse erfolgt durch spezielle Regulatorproteine, die nicht an
den biochemischen Reaktionen beteiligt sind, sondern „nur“ spezifische
Wechselwirkungen zwischen Molekülen „vermitteln“. Regulatorproteine besitzen
die Eigenschaft, solche Wechselwirkungen zuzulassen oder zu blockieren. Die
Organisation einer Bakterienzelle ist ein beeindruckendes Beispiel eines sich
selbstorganisierenden Systems. Die Logik des Systems beruht auf dem Bestreben
des Bakteriums, zwei identische Bakterien zu möglichst geringen Kosten
herzustellen.
Das Kapitel enthält auch ein paar generelle interessante Hinweise. Die
Natur benutzt eine äußerst effektive
Methode, um aus einer einfach zu duplizierenden linearen genetischen Struktur
die Reproduktion dreidimensionaler Proteinstrukturen zu erreichen. Die Natur benutzt Kommunikationsnetze, um die
Bestandteile, die im atomaren Maßstab weit voneinander entfernt sind, zu informieren
und um bestimmte Aktivitäten im Hinblick auf ein allgemeines Interesse zu
steuern.
Jacobs Überlegungen sind Worte Diderots voran gestellt, die er in einem
Gespräch mit d'Alembert geäußert hat: „Sehen Sie dieses Ei ? Mit ihm bringt man
sämtliche theologischen Schulen und alle Tempel der Welt zum Einsturz.“ Dies ist eine
Bemerkung wert: The Nobel Prize in Physiology or Medicine 1965 was awarded
jointly to François Jacob, André Lwoff and Jacques Monod "for their
discoveries concerning genetic control of enzyme and virus synthesis".
Francois Jacobs Überlegungen wurden 1970 publiziert. Zu dieser Zeit war
das Wissen um die zentrale Rolle der DNA schon ziemlich weit gediehen. François
Jacob beschäftigte sich besonders mit genetischen Mechanismen bei Bakterien und
Bakteriophagen sowie den biochemischen Folgen von Punktmutationen. Jacobs
Aussagen über die Logik des Lebenden beruhen nicht nur auf theoretischen
Arbeitshypothesen einer jeweiligen Epoche
sondern sind untermauert durch unglaubliches Detailwissen aus Physik,
Chemie und eben Biologie der jeweiligen geschichtlichen Epochen. Obwohl seit
1970 das Wissen um die komplexen dynamischen biologischen Prozesse unglaublich
erweitert wurde, sind Jacobs Überlegungen nach wie vor aktuell. In einem
Nachwort zur Neuauflage der deutschen Übersetzung 2002 stellt Hans-Jörg
Rheinberger fest: „Man möchte an seiner (Jacobs) Beschreibung der fundamentalen
Spannung zwischen Reduktion und
Integration, Immanenz und Transzendenz,
Mechanismus und Finalität, in der sich die Wissenschaften vom Leben entwickelt
haben, heute keine Zeile ändern“. Jacob hat immer betont, dass das Phänomen
Leben auf den fundamentalen Gesetzen der Physik und Chemie aufbaut. Seine Erkenntnisse zeigen aber
deutlich, dass die Phänomene des Lebenden zusätzliche Erklärungen erfordern,
die sich auf die Erhaltung, Weitergabe und Mutation genetischer
(programmatischer) Information und die unglaubliche Vielfalt organischer
(proteischer) Funktionalität beziehen, also den Gesetzen der Evolution
unterliegen. Die heutigen Wissenschaftler sind weiterhin damit beschäftigt, die
Geheimnisse des Lebenden zu entschlüsseln. An dieser Arbeit beteiligen sich
Wissenschaftler vieler Fachbereiche. Auch Systemtheorie, Kommunikationstheorie
und Informatik spielen dabei eine Rolle.
[Teil 2: Ray Kurzweil und der Transhumanismus]
[Teil 2: Ray Kurzweil und der Transhumanismus]
Parallel zu Francois Jacobs Geschichte musste ich mich mit einer
Geschichte zum Thema „Transhumanismus" oder "Posthumanismus“ befassen. Arte hatte dem
Thema unter dem Titel „Welt ohne Menschen“ eine Sendung gewidmet. Ich wurde um
Kommentare dazu gebeten. Ich konnte die Sendung zwar hier in Tunesien nicht
empfangen, habe aber anderweitig versucht, mich schlau zu machen.
Offensichtlich gibt es „Informatikexperten“, die sich selber „Transhumanisten“
nennen. Sie behaupten, dass die Zeit gekommen ist, um mit technischen Mitteln
eine wesentlich verbesserte Version der Art Homo sapiens zu kreieren. Meine
erste Reaktion auf die Aussagen der „Transhumanisten“ war: Höre ich recht? Ich
erinnerte mich an eine Geschichte, die ich schon vor längerer Zeit eigentlich
amüsant fand. In einem Vortrag erklärt ein Professor, dass die Physiker
errechnet haben, dass unsere Sonne nach etwa sieben Milliarden Jahren sich zu
einem roten Riesen aufblähen wird und der Planet Erde verglühen wird. Fragt ein
verängstigter Zuhörer: Sagten Sie Milliarden oder Millionen?
Weniger amüsant finde ich die unglaublichen Geschichten, die die
„Transhumanisten“ verbreiten. Der Schwerpunkt der Transhumanismus-Bewegung ist
die Anwendung neuer und künftiger Technologien, die es jedem Menschen
ermöglichen, seine Lebensqualität nach Wunsch zu verbessern, sein Aussehen
sowie seine physikalischen und seelischen Möglichkeiten selbst bestimmen zu
können. Sie behaupten, das Hochladen des menschlichen Bewusstseins in digitale
Speicher, die Entwicklung von Superintelligenz, und beliebige Manipulation
menschlichen Erbgutes sein nur eine Frage der Zeit. „Transhumanisten“ sprechen
von „technologischer Singularität“ und verstehen darunter den Zeitpunkt, ab dem sich Maschinen mittels
künstlicher Intelligenz selbst verbessern können und so den technischen
Fortschritt massiv beschleunigen. Einige ihrer Vertreter gehen davon aus, dass
sich durch den damit verbundenen technologischen Fortschritt die Dauer der
menschlichen Lebenserwartung maßgeblich steigern bzw. sogar biologische Unsterblichkeit
erreichen lässt.Sie prognostizieren den Zeitpunkt der technologischen
Singularität auf den Mittelpunkt des 21. Jahrhunderts.
Raymond "Ray" Kurzweil ist ein führender Vertreter des
„Transhumanismus“. Auf einer Webseite
können Sie sich ein Bild über dessen Ansichten machen. Ich halte ihn für einen
der „Experten“, denen es schwerfällt, die Komplexität und Dynamik biologischer
Phänomene richtig einzuschätzen, die aber trotzdem unglaubliche Geschichten
verbreiten.
Übrigens gibt es eine Universität, die von „Transhumanisten“ gegründet
und betrieben wird:
The
Singularity University is not an accredited four-year university, but is
instead intended to supplement traditional educational institutions. It offers
an annual ten-week summer course intended for graduate and post-graduate
students and ten day programs for senior corporate executives and senior
government leaders. The first Graduate program began in June 2009, with full
tuition costing US$25,000.
The
University offers 10 different academic tracks, each chaired by one or more
experts in the field:
1.Futures
Studies and Forecasting (Ray Kurzweil, Paul Saffo)
2.Policy,
Law and Ethics (Marc Goodman)
3.Entrepreneurship
(Eric Ries, founded by David S. Rose)
4.Networks
and Computing Systems (John Gage, Brad Templeton)
5.Biotechnology
and Bioinformatics (Raymond McCauley, Andrew Hessel)
6.Nanotechnology
(Ralph Merkle, Robert Freitas, Jr.)
7.Medicine
and Neuroscience (Daniel Kraft, Michael McCullough)
8.AI,
Robotics, and Cognitive Computing (Neil Jacobstein, Raj Reddy)
9.Energy
and Ecological Systems (Gregg Maryniak)
10.Space
and Physical Sciences (Dan Barry)
Ich vermute, dass große Konzerne, die nicht selber in neue Technologien
investieren, das Angebot der Singularity University nutzen, um einigen
Mitarbeitern eine Weiterbildung zu ermöglichen. In der Hoffnung (Illusion?),
dass sich „transhumanistisches“ Wissen in kommerziell interessanten
Innovationen niederschlägt. Entwicklungsprojekte, die eine reelle Chance
besitzen, dem Menschen nützliche Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen, befassen
sich mit sehr konkreten Themen. Sie haben mit „Transhumanismus“ nichts am Hut.
Konkrete Projekte, die sich auf menschliche Organismen beziehen, lassen sich in
drei Kategorien unterscheiden. Zur biologischen Kategorie zählen Forschungen
und Entwicklungen, um Wirkstoffe (Proteine) zu finden, die molekularbiologische
Prozesse von Zellen beeinflussen. Zum Beispiel können pharmazeutische Wirkstoffe
auf die Exprimierung des genetischen Programms von Krebszellen einwirken (z.B.
Gene blockieren, um unkontrolliertes Wachstum zu stoppen oder die Entstehung
neuer Krebsblutgefässe zu unterbinden).
Zur geistigen Kategorie gehören die Entwicklung pharmazeutischer
Wirkstoffe, die ihre Wirkung im Zentralnervensystem entfalten. In diese
Kategorie gehören auch Projekte, bei denen elektronische Komponenten verwendet
werden. Beispiele dafür sind elektronische Hilfsmittel, die im Gehirn oder Herz
stabilisierend wirken, aber auch sensorische Nervenzellen stimulieren (Sehen,
Hören). Elektronische Spiele gehören wohl auch in diese Kategorie, deren
Einfluss auf kognitive Fähigkeiten unterschiedlich bewertet wird. Zur Kategorie
der gesellschaftlich relevanten Gruppe von Projekten gehören alle Projekte, die
menschliche Tätigkeiten unterstützen, ersetzen oder gar überflüssig machen.
Aber auch Projekte zur Entwicklung von Hilfsmitteln, die neuartige menschliche
Tätigkeiten erst möglich machen. Dazu gehören auch elektronisch gesteuerte
Prothesen. Kommerziell am Einträglichsten dürften aber Projekte sein, die
Biotechnologie (Proteinherstellung) und Nanotechnologie für industrielle Zwecke
zum Einsatz bringen. Zum Beispiel zur Energiegewinnung oder für neue
Werkstoffe.
Um nicht missverstanden zu werden: Ich erachte es für völlig normal,
dass Leute mit wissenschaftlichen und kommerziellen Interessen abschätzen,
welches Potential in existierenden Technologien steckt, um Homo sapiens ein
besseres Leben zu ermöglichen. Meines Erachtens geht es aber bereits oder sehr
bald vor allem um Technologie (auch zukünftige), die Homo sapiens auf einem
übervölkernden Planeten hilft zu überleben, d.h. um Umweltbedingungen zu erhalten
oder so zu verändern, dass ausreichende Nahrung, Energie und Rohstoffe zur
Verfügung gestellt werden können.
Nachbemerkung: Obwohl Peter Hiemann
und ich [Bertal Dresen] uns einig sind, die ‚Transhumanisten‘ nicht allzu ernst zu nehmen, ist
es interessant zu sehen, wie weit sich diese von Ray Kurzweil gestartete
Geistesschule bereits entwickelt hat.
Es macht keinen Sinn, aktuelle technische Entwicklungen in eine wie auch immer gedachte "Zukunft" hinein zu extrapolieren, solange man (oder Frau) sich noch in religiöser Verblendung befindet und darum nicht in der Lage ist, über "diese Welt" hinaus zu denken.
AntwortenLöschenDer Weisheit letzter Schluss