Wer wie ich aus Rheinland-Pfalz stammt, für den ist es von besonderem Reiz,
wenn ein Historiker versucht, Helmut
Kohl historisch zu würdigen. Bevor ich die von Hans-Peter
Schwarz in diesem Jahr vorgelegte Kohl-Biographie las, hätte ich nicht geglaubt,
dass ich die 1056 Seiten, die aufgewendet wurden, durchhalten würde. Es hat
sich gelohnt. Das Buch heißt: Helmut
Kohl: Eine politische Biographie.
Ich will im Folgenden skizzieren, was ich über die Zeit von 1970 bis
2000, die ich auch miterlebte, und über Kohls Wirken durch die Lektüre des
Buches dazu gelernt habe. Zwei Erkenntnisse drängen sich auf. Erstens, man hat
gar nicht alles mitbekommen, was an Wichtigem passierte. Zweitens, man vergisst
enorm viel. Vor allem die Reihenfolge der Ereignisse und damit die logischen
Beziehungen geraten in Vergessenheit. Der Autor ist vornehmlich bemüht, die
Zwänge zu beschreiben, unter denen jemand agiert und leidet, der versucht in
unserem Lande Politik zu machen. Dass er dabei die innenpolitische Szene vor allem
aus Sicht der CDU betrachtet, kommt meinem Interesse entgegen.
Der Anfang lag in Rheinland-Pfalz, einem Bundesland, das die
französische Besatzungsmacht aus Teilen des preußischen Rheinlands und der
einst bayrischen Pfalz neu geschaffen hatte. Nach dem Koblenzer Peter Altmeier (1899-1977)
gelangte der Ludwigshafener Helmut Kohl an die Spitze. Als Sprungbrett diente
die Junge Union, die Jugendorganisation der CDU. Vom Stadtverband ging es über
den Bezirksverband (Pfalz) zum Landesverband. Er hatte sich genug Mitkämpfer
angeworben, um alsbald den erfahrenen, nicht mehr ganz jungen Ministerpräsidenten
Altmeier herauszufordern. Er verkörperte den dynamisch zugreifenden
Kraftmenschen, der die Rechte der jungen Generation einforderte. Später als
Ministerpräsident verschaffte er dem Land das Gesicht eines modernen
Gemeinwesens mit einer Regierungsmannschaft, die Fragen der Bildungs-,
Industrie- und Sozialpolitik gegenüber aufgeschlossen war. Die Gründung der
Universitäten Trier und Kaiserlautern, eine Gebietsreform und die Einführung
von Gemeinschaftsschulen sind hier zu nennen. Neben den Vertrauensleuten aus
der Jungen Union des Landes kamen Importe aus andern Bundesländern dazu wie der
Bayer Bernhard
Vogel, sein späteren Nachfolger, sowie Heiner Geißler aus
Baden-Württemberg, der späteren CDU-Generalsekretär.
Nachdem er 1973 zum Vorsitzenden der CDU gewählt worden war, verlegte
er alsbald seinen Arbeitsplatz aus dem Mainzer Schloss nach Bonn. Als
Spitzenkandidat der CDU erzielte er in der Bundestagswahl 1976 zwar 48,6 % der
Stimmen, konnte aber Helmut
Schmidt nicht aus der Regierung drängen. Die FDP unter Hans-Dietrich
Genscher war erst sechs Jahre später bereit, die Seiten zu wechseln. Es folgten sechs bittere Jahre als
Oppositionsführer. In dieser Zeit schälten sich innerhalb der CDU Konkurrenten,
Kritiker und Gefolgsleute heraus, wobei dies nicht immer sofort zu erkennen war.
Hauptkonkurrenten waren Albrecht und Strauß. Zu den Kritikern sind Biedenkopf
und Weizsäcker zu rechnen. Echte Gefolgsleute waren Blüm, Rühe, Rüttgers, Stoltenberg
und Schäuble. Seinen schärfsten Konkurrenten Strauß zähmte er, indem er ihm
1980 den Vortritt bei der Kanzlerkandidatur ließ. Bekanntlich verlor Strauß
gegen Schmidt. Heiner Geißler wechselte vom Gefolgsmann zum Kritiker.
Der Weg zur Macht wurde Kohl bekanntlich nicht durch Volksentscheid
freigemacht. Genscher und Graf Lambsdorff ermöglichten erst 1982 ein
konstruktives Misstrauensvotum. Dieses Manko ließ Kohl ein halbes Jahr später
durch Neuwahlen beseitigen. Kohls Rolle in der Innenpolitik kann man fast
vergessen. Er verließ sich vollkommen auf seine Freunde, z.B. auf Norbert Blüm.
Das Feld, wo er sich engagierte und mächtige Spuren hinterließ, war die
Außenpolitik. Bezahlt machte sich diese Leidenschaft vor allem in der Großtat,
die mit Recht mit seinem Namen verbunden wird, nämlich der deutschen
Wiedervereinigung.
Ehe überhaupt jemand auf der
Welt an diese Möglichkeit denken konnte, bemühte sich Kohl um das Verhältnis zu Frankreich,
dem westlichen Nachbar. Er fand einen kongenialen Partner in François Mitterand (1916-1996). Zusammen brachten sie neue Bewegung auf der
‚stillgelegten Baustelle Europa‘. Das für alle greifbare Ergebnis war die
gemeinsame Währung, der Euro. Die ersten Vorschläge hatte es bereits 1970
gegeben (Werner-Plan). Trotzt des bereits bestehenden Währungsverbunds litt
Frankreich unter der Stärke der D-Mark. Kohl war bereit Zugeständnisse zu
machen, weil er glaubte, dass damit die stärkere politische Union zwangsläufig
folgen würde. Heftigen Widerstand gegen alle Pläne, Europa stärker zu
integrieren, gab es aus England. Sprachrohr dieses Widerstandes war Margaret Thatcher. Es
kam schließlich 1992 doch noch zum Vertrag von Maastricht,
dem nur ein Teil der EU-Mitglieder beitrat.
Kohl bereiste auch als Bundeskanzler die DDR nur privat. Seine Kontakte
zu den Regierenden waren von dem Ziel geleitet, Erleichterungen für die
Bevölkerung zu erreichen. Dass das Eis des Kalten Krieges zwischen Westen und
Osten ins Schmelzen geriet, verbinden wir mit dem Namen Michael
Gorbatschow. Wegen des Patzers, den Kohl sich leistete, als er Gorbatschow
mit Goebbels verglich, wurde er von diesem lange Zeit geschnitten. Quasi in
letzter Minute fand er einen Draht zu Gorbatschow, um die Modalitäten der
Wiedervereinigung auszuhandeln.
Einige Details, die für mich neu waren, betreffen die Rolle der USA und
von George Bush sen.
im Prozess der Wiedervereinigung. Als Miterlebender hatte es mich damals
überrascht, mit welchem Mut und welcher Zielstrebigkeit Kohl vorging. Es war
bekannt, dass Margaret Thatcher vor Wut kochte und dass Gorbatschow schimpfte.
Selbst Mitterand schien die sprichwörtlichen Hosen voll zu haben. Was der Autor
sorgfältig recherchierte und belegen kann, ist die enorme Unterstützung die
Kohl von Seiten der USA bekam. Auf dem kleinen Dienstweg war sein Adlatus Horst Teltschik in
ununterbrochenem Kontakt mit amerikanischen Stabsstellen. Das berühmte Zehn-Punkte-Programm,
mit dem Kohl Ende November 1989 die Weltöffentlichkeit überraschte, hatte Teltschik
formuliert.
Während Willy Brandt noch von der Wiedervereinigung als deutscher
Lebenslüge sprach, und Oskar Lafontaine dafür plädierte, dass man der DDR eine
zweite Chance gibt, ließ US-Botschafter Vernon Walters (1917-2002)
verlauten, die Wiedervereinigung sei nicht mehr allzu fern. Präsidentenberater Brent Scowcroft sah als
einer der ersten den Ostblock in Auflösung.
Bush selbst besuchte Polen und Ungarn. Gorbatschow hatte, von den USA
bedrängt, die Wiedervereinigung akzeptiert, bevor Kohl zu seinem ersten Besuch
in Moskau eintraf. Dasselbe galt für die NATO-Osterweiterung. Die Zwei-Plus-Vier-Gespräche
wurden zum Erfolg, weil die Amerikaner Druck machten, usw. Jetzt machte sich Kohls pro-amerikanische Haltung in der in der Öffentlichkeit so umstrittenen Frage der Stationierung der Pershing-II-Raketen voll bezahlt. Übrigens hatte Helmut Schmidt, Kohls Vorgänger als Bundeskanzler, dieselbe Position vertreten wie Kohl, war aber von seiner Partei im Stich gelassen worden. Im August 1990
beantragte die frei gewählte Volkskammer der DDR den Beitritt zur
Bundesrepublik. Das waren keine neun Monate nach Kohls Verkündung des Zehn-Punkte-Programms.
Die Folgen der Wiedervereinigung machten Kohl zu schaffen. Nicht nur
flogen ihm Eier an den Kopf, er sträubte sich mit Gewalt gegen
Steuererhöhungen, um die Kosten des Wiederaufbaus in den neuen Ländern zu
finanzieren. In Erinnerung an die Situation nach der Währungsreform von 1948 glaubte
er an die ‚selbstheilenden Kräfte‘ einer vom Zwang befreiten Wirtschaft.
Schließlich akzeptierte er auf Drängen seiner Parteifreunde die Einführung des
Solidarbeitrags. Wieweit Kohl daneben lag, beweist die Zahl, die Peer Steinbrück
benutzt. Steinbrück schätzt die bisher aufgelaufenen Kosten der
Wiedervereinigung auf über 200 Mrd. Euro.
Die Haltung Englands, aber auch Bayerns und des Bundesverfassungsgerichts
brachten Kohl dazu, seine Vision von Europa zu ändern. Sein Ziel ist in
späteren Jahren nicht mehr ein Bundesstaat (die Vision Churchills), sondern ein
Staatenbund. Es soll ein Europa der Nationen und der Bürger werden, das über
eigene Polizei, Zöllner und Streitkräfte verfügt. Er unterstützte die Aufnahme
der ost- und nordeuropäischen Länder wie Polen, Tschechien, Ungarn und
Finnland, wehrte sich jedoch vehement gegen die Aufnahme der Türkei. Bei
der Einführung des Euro erhielt Kohl mehr Unterstützung von der SPD als von Teilen
der CDU, insbesondere der CSU.
Als er 1998 vor der Frage stand, ein viertes Mal als Kanzler zu
kandidieren, entschließt er sich ̶
wider alle Vernunft – dies zu tun. Er hatte Angst, dass ohne ihn die
Einführung des Euro noch in letzter Minute scheitern könnte. Er verliert die
Wahl, nicht zuletzt weil sich eine Wechselstimmung breit gemacht hatte. Seine
Gegner, Gerhard Schröder und Joschka Fischer, konnten mit 20 Jahren Kohl als
Drohkulisse argumentieren.
War die verlorene Wahl bereits schmerzlich, so wurde Kohl bald darauf
durch die Aufdeckung illegaler Parteispenden völlig vom Podest gestürzt. Er
verlor seine treuesten politischen Freunde, so Wolfgang Schäuble und Norbert
Blüm. Auch Angela Merkel, die als ‚Kohls Mädchen‘ von der Physik zur Politik
gefunden hatte, distanzierte sich von ihm. Als seine geliebte CDU vom
Bundestagspräsidenten zu einer Millionenstrafe verurteilt wurde, brachte Kohl
innerhalb kurzer Zeit den gesamten Betrag auf, teils aus eigenem Vermögen, teils
durch Spenden von Freunden. Das Bild eines tragischen Helden wurde
vervollständigt, als am Tage seines Freispruchs vom Vorwurf der Bestechlichkeit
seine Frau Hannelore sich das Leben nahm.
Es ist das Schicksal mehrerer deutscher Politiker, dass ihr Ruf im
Ausland weniger umstritten ist als im Inland. Das gilt auch für Kohl. Von den
vielen ausländischen Partnern Kohls zitiere ich David Owen,
den Außenminister der sozialistischen Regierung vor Thatcher. Er bezeichnete
Kohl als die ‚mächtigste Führungspersönlichkeit in Europa‘.
Fazit: Um in der Politik Erfolg zu haben, bedarf es nicht nur der
Leidenschaft für hohe Ziele und der Fähigkeit Gleichgesinnte zu begeistern und
zusammenzuschmieden. Verlangt wird sowohl eine starke physische wie psychische
Konstitution. Die Fronten des ‚Schlachtfelds‘, also wer Unterstützer und wer
Gegner ist, können sich laufend ändern. Das gilt sowohl national wie
international. Nur eine gehörige Portion Glück gibt den Ausschlag, ob es
gelingt Weltgeschichte zu machen. Kohl hatte Kraft, Ausdauer und ein
glückliches Händchen im Ausnutzen günstiger Umstände. Leider wird sein Wirken überschattet
von moralisch fragwürdigem Finanzgebaren und großem familiären Leid. Wo
heldenhafte Größe und Schuld zusammentreffen, spricht man von einer Tragödie.
NB: An English translation of this post is avalable.
NB: An English translation of this post is avalable.
Am 2.11.2012 schrieb Calvin Arnason aus Portland, Oregon:
AntwortenLöschenI wish to add only a few general statements about the post WW II (political) times in Germany from the view of an American who lived there 1968-1986.
Whether by nature or nurture (I tend to think it was 50-50), Germany was blessed with many first rate political leaders on the right and left ̶ I am not speaking only of those who "won" or were deemed to be "right" by history. By first rate I mean in comparison with all I have come to know in my 65 years.
Am 2.11.2012 schrieb Otto Buchegger aus Tübingen:
AntwortenLöschenIch hätte Kohl gerne als Friedensnobelpreisträger gesehen. Jetzt hat er ihn endlich bekommen, übrigens gemeinsam mit mir und einigen anderen in der EU.
Am 4.11.2012 schrieb Peter Hiemann aus Zarzis in Tunesien:
AntwortenLöschenich habe Ihre Kommentare zum Geschichtsbild der Ära Helmut Kohl mit Interesse gelesen. Ich muss gestehen, dass es mir schwer fällt, politische Entwicklungen einzuschätzen. Diese sind meines Erachtens weniger durch Einzelpersönlichkeiten als vielmehr durch Erfolg oder Misserfolg gesellschaftlicher Institutionen geprägt. Das herausragende geschichtliche Ereignis der Kohl Epoche war wohl der ökonomische und gesellschaftliche Zusammenbruch des durch die Sowjetunion etablierten und kontrollierten osteuropäischen Imperiums („Staatenbundes“?). Diesem Zusammenbruch waren gesellschaftliche Revolten in Tschechien und Polen vorausgegangen. Der plötzliche Fall der Mauer in Berlin kam für alle überraschend. Wer hätte es für möglich gehalten, dass die SED ihre politische Macht ohne gewaltsame Auseinandersetzungen aufgeben müsste ? Es war wohl auch Zufall im Spiel, dass der Zusammenbruch der DDR in Kohls Regierungszeit viel. Damit will ich aber nicht Kohls wichtige Rolle bei den Verhandlungen zur deutschen Wiedervereinigung schmälern. Aber es gilt wohl zu beachten, dass Geschichte immer von vielen Beteiligten „geschrieben“ wird. Einschneidende politische Veränderungen scheinen nur möglich zu werden, wenn ökonomischen Kreisläufe außer Kontrolle geraten oder gar zusammenbrechen und „das Volk“ auf die Straße geht.