Samstag, 30. November 2013

Koalitionsvertrag als verlängerter Wahlkampf

Ein Koalitionsvertrag wird von manchen Leuten mit der Bemerkung zur Seite geschoben, dass sei nur ein Stück Papier und Papier sei geduldig. Obwohl das Medium Papier nicht mehr im Vordergrund steht, halten viele dennoch an dieser Meinung fest. Im Folgenden will ich versuchen zu beschreiben, was ich aus dem Koalitionsvertrag herauslese, der in den letzten Wochen zwischen Union und SPD ausgehandelt wurde.

Allgemeiner Eindruck

Dieser Koalitionsvertrag ist in erster Linie als Wahlkampf-Dokument zu sehen. Weil den SPD-Mitgliedern die Rolle von Superwählern eingeräumt wurde, geht der Wahlkampf noch einige Wochen weiter. Er geht so zu sagen in eine zweite Runde. Statt alle 61,8 Millionen Wahlberechtigte zur Neuwahl aufzurufen, dürfen jetzt 470.000 SPD-Mitglieder entscheiden, welche Regierung gebildet wird. Die SPD-Mitglieder an der Basis haben ihren plötzlichen Machtzuwachs erkannt, und werden es denen da oben zeigen. Die zu Zuschauern degradierten 61,3 Millionen anderen Wähler müssen abwarten. Falls das Abstimmungsergebnis negativ sein sollte, sind alle 185 Seiten des Dokuments Makulatur. Die wochenlange Arbeit von etwa 50 Spitzenpolitikern des ganzen Landes wäre umsonst gewesen.

Immer wieder wird uns Lesern eingehämmert, dass es das letztendliche Ziel jeder Politik ist, zum Glück der Menschen in einem sozialen Gemeinwesen beizutragen. Aspekte dieses Glücks sind Wohlstand, Freiheit, Sicherheit, Frieden und Gesundheit. Wer mehr erwartet, wird mit Recht enttäuscht sein. Der Staat kann viel. Über das hinaus, was der Staat reguliert, gibt es jedoch auch noch Leben.

Zwei Dinge fallen mir auf, wenn ich den Vertrag auf mich wirken lasse. Er setzt sich von einem nur von der Union verfassten Dokument ab, indem er einige von der SPD im Wahlkampf gegebene Versprechen (Mindestlohn, doppelte Staatsangehörigkeit für Kinder von Einwanderern, Rente nach 45 Beitragsjahren) ausdrücklich ausweist. Diese Zugeständnisse werden relativiert, indem auf die vielen Dinge verwiesen wird, bei denen die Politik der bisherigen Regierung unverändert fortgesetzt wird. Dies ist auch der Grund, warum das Dokument im Vergleich zu früheren Koalitionsverträgen derart an Länge dazu gewonnen hat. Es entstand eine Bestandsaufnahme der derzeitigen Politik plus Fortschreibung. Dass neue Sozialleistungen, wie die verbesserte Mütterrente, Geld kosten, sollte niemanden überraschen.

Bei manchen Punkten hat man den Eindruck, dass sie für Leser im Ausland geschrieben sind. Es geht dabei vor allem um die Bevölkerung derjenigen Länder, die glauben unter der deutschen Vorherrschaft zu leiden. Die Botschaft heißt: Es ist nicht allein der Euro, der Deutschland stark macht, sondern die Politik, die richtige Anreize gibt und Schwerpunkte setzt. Bei uns hat die Politik die Wirtschaft einschließlich der Gewerkschaften voll im Griff. Außerdem sind bei uns Politik und Wirtschaft äußerst lernfähig. Wenn alle Länder Europas eine damit vergleichbare Politik betrieben, gäbe es keine Probleme mehr. Die Wahl des nächsten Europa-Parlaments steht nämlich vor der Tür. Zu befürchten sind einerseits eine geringe Wahlbeteiligung, anderseits das Vorrücken europa-feindlicher Parteien. Beidem muss entgegen gearbeitet werden.

Ganz deutlich ist die Botschaft der EU-Kommission gegenüber. Die PKW-Maut ist eine Art Köder für die EU. Böte man uns den gleichen Betrag (nur wenige Mrd. Euro), den diese Steuer auf Holländer, Österreicher, Polen und Italiener uns einbringen würde, dann ließe sich ein Deal machen. Der übrigen Welt gegenüber stellen wir uns als bescheidene Mittelmacht dar, die bereit ist Aufgaben zu übernehmen, sei es im Klimaschutz oder bei der Terrorbekämpfung. Dass CIA und NSA (also die USA) zu weit gehen, darin sind sich bei uns alle einig.

Detailpläne

Einige Details will ich noch kurz hervorheben. Es betrifft die geplante Wirtschafts- und Europapolitik sowie die Maßnahmen, die die Wissenschaft und hier speziell die Informatik berühren. Die SPD ist auf die Haltung der CDU/CSU eingeschwenkt, was die Steuer- und Währungspolitik betrifft. Es gibt (zunächst) keine Steuererhöhungen für Besserverdienende. Außerdem soll die Vergemeinschaftung von Schulden zwischen den Euroländern (etwa durch Ausgabe von Eurobonds) vermieden werden. Der Euro steht nicht zur Diskussion. Eine Erweiterung der Europäischen Union, etwa um die Türkei, wird nicht forciert. Die Finanzmärkte sollen stärker reguliert werden. Bankenaufsicht und Finanz-Transaktionssteuer sollen kommen. Zumindest in Deutschland ist man sich da einig. Ob man in Europa, und vor allem in England, damit durchkommt, ist fraglich.

Die Breitband-Versorgung ländlicher Gegenden wird weiter ausgebaut. Jedermanns Datenpakete sollen gleichberechtigt transportiert werden (auch als Netzneutralität bekannt). Die Vorratsdatenspeicherung soll kommen, allerdings mit einer auf drei Monate verkürzten Sperrfrist. Mit andern Ländern Europas will man einen ‚Schengenraum‘ für sichere Kommunikation im Internet schaffen, hoffend, dass da die fünf angelsächsischen ‚Rowdies‘ (USA, UK, Kanada, Australien und Neuseeland) nicht hinein können. Das Geschäft mit den Clowds will man ihnen entreißen. Europäischen Telekommunikationsanbietern soll verboten werden, den USA ihre Kundendaten zur Verfügung zu stellen. (Dass unsere Geheimdienste ohne amerikanische Daten schlecht aussehen, wird nicht erwähnt).

Industrie, Verwaltung, Verkehr und Gesundheitswesen sollen weiter digitalisiert werden. Aber auch unser Kulturgut soll durch Digitalisierung vor dem Verfall geschützt werden. Ergebnisse aus der Spitzenforschung kämen mittels Digitalisierung schneller zur Anwendung. ‚Big Data‘ wird ausgebaut, natürlich mit verbesserter Sicherheit. Man möchte deutsche Wagniskapitalgeber dazu bringen, auch in Deutschland zu investieren (Sie tragen nämlich ihr Geld heute mit Vorliebe in die USA). In vier Jahren sollen die Weichen gestellt sein, dass Deutschland und Europa eine Führungsrolle bei der ‚konsequenten, sozialverträglichen, vertrauenswürdigen und sicheren Digitalisierung der Gesellschaft und Wirtschaft einnehmen.‘

Die Informatik-Ausbildung in Grundschulen und Gymnasien soll bleiben und sogar verstärkt werden. (Auf die einschlägigen Diskussionen hatte ich in einem früheren Eintrag hingewiesen). Medienkompetenz soll bereits in Kitas gelehrt werden. Da dies bekanntlich nicht in den Kompetenzbereich des Bundes fällt, hat diese Aussage wenig zu bedeuten. Das Urheberrecht, so wie es heute steht, wird als wichtig anerkannt. Alle Forschungsprogramme, bei denen der Bund den Ländern hilft, werden beibehalten oder ausgebaut. Forschungsanstrengungen, insbesondere bei der IT-Sicherheit, werden intensiviert. Es soll einen Forschungscluster ‚IT-Sicherheit und kritische IT-Infrastruktur‘ geben. Die Bürgerinnen und Bürger werden aufgefordert, national entwickelte IT-Sicherheitstechnologien einzusetzen.

NB: Hier wird wieder der Karren vor den Esel gespannt. Wer Bürger aufruft, etwas zu nutzen, was gerade erforscht wird, klingt nicht sehr überzeugend. Diesen Denkfehler habe ich auch früher immer wieder beklagt.

Außer Sicherheit und Kryptografie werden die folgenden IT-Schlüsseltechnologien als förderungswürdig genannt: Netzwerktechnik, Embedded Systems, Prozess- und Unternehmens-Software,  Machine-to-machine-Kommunikation (S. 20). Mit dem Etikett ‚Software made in Germany‘ könnte ein Qualitätsversprechen verbunden werden. Weitere Informatik-Themen, die teilweise im Zusammenhang mit andern Tätigkeitsbereichen erwähnt werden, sind: Telearbeit, Gesundheitskarte, Telemedizin und Internet der Dinge. Wer auf einem nicht genannten Gebiet tätig ist, mag dieses weiterhin für wichtig und interessant halten. Sicherlich wird es schwieriger sein, an die für die Förderung erhofften öffentlichen Gelder heranzukommen.

Tipps an die Akteure

Zurück zur Bundespolitik. Sollte der vorliegende Koalitionsvertrag bei der SPD-Basis durchfallen, sollte Angela Merkel eine Minderheitsregierung bilden. Einige der an der Ausarbeitung des Koalitionsvertrags beteiligten Parlamentarier der SPD müssten eigentlich in der Lage sein, ihre Politik zu unterstützen. Sie ist jetzt sogar erstaunlich gut dokumentiert. Sigmar Gabriel scheint dem Unheil vorbeugen zu wollen, indem er keine Ministerkandidaten benennt, die dann ohne Hemd da stehen würden.

Mittwoch, 27. November 2013

Nochmals: Große Herausforderungen der Informatik

Das Thema ‚Große Herausforderungen‘ (engl. grand challenges) hatte mich schon im Januar 2012 in diesem Blog beschäftigt, also vor rund zwei Jahren. Ich hatte damals nicht nur drei damals bekannte Aktivitäten (Technische Informatik, Kerninformatik, Wirtschaftsinformatik) verglichen, sondern auch selbst einen Vorschlag generiert.

Inzwischen hat die Gesellschaft für Informatik (GI) unter Leitung von Frau Simone Rehm, der Vizepräsidentin, das Thema aufgegriffen. Ein entsprechender Aufruf befindet sich auf der Homepage der GI. Diese Aufforderung führte inzwischen zu einer Liste von über 20 Vorschlägen. Die GI beabsichtigt, auf der Basis der Einreichungen zu einer konsolidierten Liste von Vorschlägen zu gelangen. Es ist anzunehmen, dass dies im ersten Halbjahr 2014 geschieht. Ich will nicht die einzelnen Vorschläge diskutieren, sondern einige generelle Bemerkungen zum Thema und zum Auswahlverfahren machen. Dabei nehme ich Bezug auf Diskussionen, die ich im letzten Monat mit dem Kollegen Peter Mertens aus Nürnberg hatte.

Die Aufgabe, gute Vorschläge zu generieren und anschließend eine Auswahl zu treffen, ist alles andere als einfach. Ich möchte die damit befassten Kolleginnen und Kollegen sehr dazu ermutigen, diese Aufgabe nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Hier meine Gedanken.
 
(1) Man muss sich klar werden, was man überhaupt erreichen will und kann. Es besteht die Chance, die Fachdiskussion innerhalb der Informatik von vielen persönlichen Einzelzielen oder partikularen Gruppenzielen weg zu einer breiten Diskussion über das Potential des ganzen Fachgebiets zu lenken. Es werden damit keine direkten Fördermittel eingeworben oder versprochen. Es hilft jedoch Leuten die Förderprojekte ausschreiben, sich zu orientieren. Es zeigt, was die Fachleute (in ihrer Gesamtheit) für wichtig und lösbar halten. Es kann Erfindergeist beflügelt werden, sofern die zu lösenden technischen Probleme klar beschrieben sind und damit stärker ins Bewusstsein der technischen Community gebracht werden. 

(2) Man muss sich überlegen, wen man wie anspricht. Es wäre schön, wenn jede Informatikerin und jeder Informatiker sich angesprochen fühlte und hinter den Vorschlägen stehen würde. Das sollten nicht nur die paar Hundert Kolleginnen und Kollegen an deutschen Hochschulen sein, sondern mehrere Tausend in der ganzen Branche weltweit. Man muss die Ziele so beschreiben, dass auch Außenstehende sich etwas darunter vorstellen können. Mit Außenstehenden sind außer Nicht-Fachleuten vor allem Politiker und junge Menschen gemeint. Jungen Leuten kann es zeigen, was wir (Alten) als lösbar ansehen, wofür uns lediglich die Zeit fehlte. Zur Lösung dieser Probleme sind keine Heerscharen von Genies erforderlich noch wundersame Erleuchtungen. Es ist jedoch den Schweiß vieler Kollegen wert. 

(3) Man muss auf das Problem fokussieren. Man muss sich hüten, sowohl zu allgemein als auch zu spezifisch zu sein. Greift man ein zu breites Ziel auf, heißt es, man will die Welt verbessern (‚Boiling the ocean‘ sagen die Angelsachsen). Ist man zu speziell, sagt jemand, dass er jemanden kennt, der bereits an einer Lösung arbeitet. Insgesamt sollte man sich auf weniger als zehn prägnant formulierte Probleme einigen, an deren Lösung sich unser Fachgebiet in Zukunft messen lassen will. Bei jeder Zeitangabe müssten sich, zumindest intern, auch Zwischenschritte angeben lassen. Sonst taugt die Zeitangabe nichts, es sei denn man hofft auf Erleuchtungen. 
 
(4) Vor allem darf sich eine Beschreibung nicht mit Überschriften allein zufrieden geben. Einerseits geht dadurch sehr viel wichtige Information verloren. Andererseits schreckt man mit Überschriften (mit ein oder zwei Fachbegriffen, ohne Erklärung) jeden Nicht-Fachmann ab. Selbst Fachleute werden oft in die Irre geführt. Aus der Stoffsammlung muss anschließend eine leicht verständliche Publikation entstehen, die sowohl Fachleute wie Nicht-Fachleute anspricht und zum Nachdenken anregt. Das kostet einige Arbeit.

Sollte ich einen Leser erreicht haben, der relevante Ideen zu diesem Thema hat, würde ich mich freuen, davon zu erfahren.

Nachtrag am 2.12.2013:

Im Gegensatz zu vielen andern Buch- und Einzelhändlern hält Jeff Bezos bekanntlich Jammern nicht für eine gute Lösung. Noch hofft er, dass die nächste Regierung hilft. Hier sein neuestes Beispiel auf Youtube. Die Zulassung durch die Behörden fehlt noch.

Die Auslieferung per Drohnen verbessert den Service, reduziert den Einfluss der Gewerkschaften, entlastet die Straßen, verstopft stattdessen die Lüfte. Drohnen sind nach ihrer Bewährung beim Militär eine Lösung auf der Suche nach Problemen, d.h. zivilen Anwendungen. Das ist der Normalfall bei vielen technischen Errungenschaften, etwa Internet und GPS. Bei Grand Challenges ist es umgekehrt. Es geht meist um Probleme, die übersehen zu werden drohen oder zur Seite geschoben werden, weil kein Einzelner sie lösen kann. Selbst das Militär ist überfordert oder desinteressiert.

Mittwoch, 20. November 2013

Kaiser Karls Jugend im Frankenreich

Karl der Große (748-814) starb vor nunmehr 1200 Jahren. Da seine Figur für Historiker und für viele andere Leute eine starke Anziehungskraft ausübt, nimmt sich der Büchermarkt dieses Themas gerne an. Allein auf iBooks gibt es zwölf Biografien, die Hälfte davon frisch aus der Presse. Eine der Besonderheiten des großen Karls ist, dass Deutsche und Franzosen jeder ihn gerne für sich vereinnahmen möchte. Auch dieser Blog hat sich ihm bereits genähert, indem er Alchwin von York, seinem als Kulturminister anzusehenden Berater, einen Eintrag widmete. Heute möchte ich mich mit Karl selbst beschäftigen. Um den vielen verfügbaren Biografien nicht zu sehr in die Quere zu kommen, werde ich mich auf seine Jugend konzentrieren. Es sind dies die 20 Jahre zwischen 748 und 768, also von seiner Geburt bis zum Tode seines Vaters Pippin dem Jüngeren (714-768).

Geburtsjahr und -ort

Als sein Geburtstag gilt der 2. April. Lange waren sich die Historiker bezüglich des Geburtsjahrs nicht einig. Es wurden Daten zwischen 743 und 748 für möglich gehalten. Inzwischen hat man sich auf 748 geeinigt. Als ein Beweis gilt eine Urkunde aus Paris, in der festgehalten wurde, dass der siebenjährige Karl seinen Vater begleitete, als dieser im Jahre 755 anlässlich der Überführung der Gebeine des Hl. Germanus in  Paris weilte. St. Germain des Prés, so heißt heute noch ein bekannter Stadtteil von Paris (und eine Fußballmannschaft). Karl hatte einen drei Jahre jüngeren Bruder mit Namen Karlmann.

Der Ort seiner Geburt ist in den zeitgenössischen Biografien nicht vermerkt. Da sein Vater Pippin sich im Frühjahr des Jahres 748 in seiner Pfalz in Düren aufhielt, spricht vieles für Düren. Ich erinnere mich, irgendwo gelesen zu haben, dass er in Mürlenbach in der Eifel geboren sei. Das ist nicht allzu weit von Düren entfernt. Als anderer Geburtsort kommen andere Pfalzen Pippins in Frage. Genannt werden St. Denis, Compiègne und Soissons. Weder die sehr bekannte Pfalz der Karolinger in Ingelheim gilt als Kandidat, noch eine der etwa 50 anderen.

Sehr interessant fand ich den Hinweis in einer der neueren Biografien (J. Fried), dass seine Muttersprache Moselfränkisch gewesen sei (was eine Gemeinsamkeit mit diesem Autor bedeuten würde). Sofern das stimmt, gibt das Anlass für eine Reihe von Spekulationen. Seine Mutter war Bertrada die Jüngere (725-783). Sie war eine Tochter von Heribert von Laon. Wo genau dieser Zweig der Familie wohnhaft war, ist nicht belegt. Jedenfalls ist besagter Heribert zusammen mit seiner Mutter Bertrada der Älteren in der Gründungsurkunde des Klosters Prüm in der Eifel vermerkt. Bertrada die Ältere ihrerseits war eine Tochter der Irmina von Ören, der Gründerin des Klosters Echternach. Zwei Erklärungsmöglichkeiten bieten sich an. Entweder wurde Karl von Frauen (oder Männern) mit Abstammung in Luxemburg oder der Eifel erzogen, oder Moselfränkisch hatte einen wesentlich größeren Verbreitungsbereich als heute. Heute wird Moselfränkisch nur noch in Luxemburg und den angrenzenden Eifel- und Moselkreisen gesprochen.

Ausbildung und Kenntnisse

Ursprünglich im Nordwesten Germaniens zuhause hatten die Franken seit dem 5. Jahrhundert das Gebiet zwischen Trier und Paris besiedelt. Mit geschätzten 200.000 Angehörigen bilden sie fortan die militärisch starke, aber ungebildete Oberschicht in einem Gebiet mit etwa zwei Millionen gallisch-römischen Einwohnern. Unter den Königen aus dem Geschlecht der Merowinger (Childerich, Chlodwig) übernahmen sie alsbald die Verwaltungs- und Ordnungsfunktion der Römer. Beginnend mit Karl Martell (688-741), dem Vater Pippins, ging die politische Macht von den Merowingern zunächst als Hausmeier, dann als Könige, auf die nach ihm benannten Karolinger über. 

Karls Jugend spielte sich vorwiegend in den königlichen Pfalzen ab. Mindestens zwei Mal, wenn nicht vier Mal pro Jahr wechselte der Hofstaat seine Residenz. Mehr als tausend Menschen brachen mit Ochsenwagen auf und verlegten ihren Wohnsitz immer dann, wenn sie alle Vorräte verzehrt, die Wege ruiniert und die Abwässer verschmutzt hatten. So wurde nicht nur die Belastung etwas verteilt, sondern auch die Kontrolle des weit verzweigten Gebietes verbessert. An die Orte, zu denen der Hof nicht umziehen konnte oder wollte, wurden jährlich Inspektoren geschickt, so genannte Königsboten.

Karl soll von einer Amme bis zu seinem dritten Lebensjahr gesäugt worden sein. Er lernte Grundbegriffe von Philosophie, katholischer Theologie und Rhetorik, etwas Physik, Mathematik und Astronomie. Vor allem lernte er Latein lesen und verstehen. Er konnte es jedoch nie (schön) schreiben. Dafür seien seine Hände zu ungeschickt gewesen. Diese benötigte er nämlich für wichtigere Aufgaben. Er benötigte sie, um mit Schwert, Axt und Lanze zu kämpfen, mit Pfeil und Bogen zu schießen und einen Speer zu werfen. Die Jagd auf Großwild (Rehe, Hirsche, Wildschweine) war nicht nur Privileg, sondern Pflicht eines jeden Adeligen. Karl soll ein guter Reiter gewesen sein und gern und viel geschwommen haben.

Aussehen und Charakter

Karl beeindruckte seine Zeitgenossen mit seiner Größe und Körperstärke. Er soll 1,90 Meter groß gewesen sein, was zu dieser Zeit sehr ungewöhnlich war. Die meisten Bilder, die von ihm existieren, stammen aus späteren Jahrhunderten. Sie sind offensichtlich in einem entscheidenden Punkte falsch. Im Gegensatz zu Fürsten seiner Zeit habe er keinen Vollbart getragen. In Anlehnung an den von ihm verehrten Theodorich von Ravenna trug er einen Oberlippenbart. Alle zeitgenössischen, sonst jedoch ungenauen Bilder auf Münzen bestätigen diesen Sachverhalt.

 Silber-Denar aus Frankfurt

Über seinen Charakter gibt eine Episode Auskunft, die in der Gründungsgeschichte des Klosters Tegernsee in Bayern überliefert ist. Karls Name wird zwar nicht genannt, aber alles deutet auf ihn.

Die Sage berichtet, dass der Sohn des Frankenkönigs [Pippin] den Sohn Oatkars aus Wut beim Schachspielen mit dem Schachbrett erschlug. Pippin  ̶  obwohl er der mächtige Frankenkönig war  ̶ fürchtete dennoch die Rache der Sippe der in Bayern und Burgund begüterten und mächtigen fürstlichen Brüder. Bevor nun Oatkar von dem Verbrechen überhaupt erfuhr, rief Pippin ihn und seinen Bruder Adalbert zu sich und fragte listig scheinbar um Rat: „Ratet mir, was würdet ihr tun: Wie würdet Ihr einem schrecklichen Übel begegnen, wenn es nun nicht mehr zu ändern ist“ Beide Brüder entgegneten „So ein schreckliches Übel müsste man gottergeben und mit Gleichmut hinnehmen.“ Da erst eröffnete ihnen der schlaue Pippin, was geschehen war. Da nun die beiden Brüder nicht gegen ihren eigenen Ratschlag zu Gewalt und Waffen greifen konnten, sahen sie sich gezwungen, diesen Mord hinzunehmen. Oatkar, der unglückliche Vater schwieg also trotz Wut, Schmerz und Trauer. Er beschloss aber, zusammen mit seinem Bruder Adalbert der Welt den Rücken zu kehren. So kam es, dass die beiden Brüder in ihrem Stammland, dem bayerischen Sundgau ein Kloster …gründeten, wohin sie sich zurückzogen. Die Szene mit den schachspielenden Fürstensöhnen war noch lange auf einem großen Tafelbild in der Egerner Kirche zu sehen.

Das Ereignis wird auf die Jahre 760-762 datiert, also in Karls Pubertätszeit. Wenn es historisch ist, könnte es belegen, dass Karl eine mögliche Veranlagung zum Jähzorn später besser im Griff hatte. Die genannten Brüder gehörten zu dem bayrischen Geschlecht der Agilolfinger, auf die ich später noch zurückkomme.

Obwohl Karls Beziehungen zu Frauen vielfach thematisiert wurden, sei hier erwähnt, dass er das erste Mal mit 15 Jahren heiratete. Seine Frau Himiltrude gebar einen Sohn, Pippin mit Namen. Später gelang es seiner Mutter Bertrada eine politisch motivierte Ehe zu vermitteln. Sie betraf Gerperga, die Tochter des Langobarden-Herzogs Desiderius in Pavia. Karl verstieß sie nach einem Jahr. Insgesamt hatte Karl vier Ehefrauen und vermutlich ebenso viele Konkubinen. Er soll 16 oder 18 Kinder gehabt haben.

Erlebte Weltpolitik

Karls Vater legte großen Wert darauf, seine Söhne früh mit ihren späteren politischen Aufgaben vertraut zu machen. Zwar war Karl noch zu jung, um es bewusst zu erleben, als Pippin sich 751 in Soissons von fränkischen Würdenträgern auf den Schild erheben ließ. Als drei Jahre danach Papst Stephan II. ins Frankenreich (nach Ponthion bei Reims) kam, um Hilfe gegen die Langobarden zu erbitten, wurde er zum direkten Beteiligten. Der Papst vollzog die Salbung zum König an Pippin, seiner Frau und seinen Söhnen, und ernannte seine Familie zu den Schutzherren der römischen Kirche. Pippin zog schließlich im Jahre 755 gegen die Langobarden unter Aistulf zu Felde, der seinen Vater Karl Martell als Sohn adoptiert hatte. Er bewog ihn, sich mit dem Papst zu arrangieren. Pippin schenkte daraufhin das strittige Gebiet zwischen Ravenna und Rom an den Papst. Diese Pippinische Schenkung bildete für die kommenden Jahrhunderte die Basis des päpstlichen Territorialbesitzes, auch Kirchenstaat genannt. Als der Nachfolger Aistulfs auf dem Thron der Lombardei, Desiderius von Brescia, diese Vereinbarungen brach, sah sich Karl 773 gezwungen, Pavia anzugreifen und zu belagern. Er nahm Desiderius, der zwischenzeitlich sein Schwiegervater war, zwar gefangen, schenkte ihm aber das Leben.


Frankenreich um 800

Ehe Pippin das dem Papst gegebene Versprechen einlösen konnte, musste er erst mit einem von seinem Vater ererbten Problem fertig werden. Allgemein gilt 732 als das Jahr, als das Abendland dem Ansturm der Araber Halt gebot. Zwar gelang es Karl Martell mit Hilfe der Burgunder und Langobarden eine Vorhut der Muslime daran zu hindern, das Grab des Hl. Martin in Tours zu schänden. Ihre Angriffe ließen jedoch nicht nach. Erst Pippin gelang es 759 durch die Eroberung von Narbonne die Araber hinter die Pyrenäen zu drängen. Auch Karl zog es über die Pyrenäen, wo er am Pass von Roncevalles 778 seinen Gefährten Roland verlor.

Süddeutsche und andere Beziehungen

Außer den Sarazenen und den Langobarden im Süden Europas hatten die Franken noch drei Feinde im Osten, nämlich die Alemannen, Bayern und Sachsen. Da die Sachsenkriege zum Schullehrstoff der später von Preußen beeinflussten Gebiete Deutschlands gehörten, will ich nur auf Alemannen und Bayern kurz eingehen. Die Alemannen waren bereits für die Römer sehr lästig. Von dem Merowinger Chlodwig konnten sie – wie er meinte – nur mit Hilfe des Christengotts 496 in der Schlacht bei Zülpich besiegt werden. Da sie keine Ruhe ließen, wurde ihr Gebiet als selbständiges Herzogtum aufgelöst und als Grenzmark besetzt. Im sogenannten Blutgericht zu Cannstatt im Jahr 746 hat Karlmann, Pippins Bruder, fast die ganze Führungsschicht der Alemannen getötet. Niemand spricht gerne noch darüber.

Das Verhältnis zu den Bayern gestaltete sich weniger schwierig. Sie behielten ihren Herzog, dessen Familie sich mit den fränkischen Herrschern verschwägerte. Die bereits erwähnten Agilolfinger, die in Regensburg residierten, ließen ihre Kinder am fränkischen Hof erziehen. Erst unter Karl dem Großen gab es Ärger. Er musste 787 gegen Tassilo III. ins Feld ziehen und besiegte ihn unweit von Augsburg auf dem Lechfeld. Tassilo wurde gefangen genommen und 788 in Ingelheim wegen Untreue zu Tode verurteilt. Karl begnadigte ihn und verbannte ihn in ein Kloster. Beim Lechfeld denkt man heute lieber an eine Schlacht zwischen Otto I. und den Ungarn im Jahre 955.

Über die Beziehungen Pippins zu Ost-Rom ist wenig bekannt. Er dachte aber darüber hinaus. Im Jahre 765, also drei Jahre vor seinem Tod, schickte Pippin eine Gesandtschaft zu dem Kalifen nach Bagdad. Das Ergebnis ist nicht bekannt. Viele Jahre später (801) kam ein Elefant als Geschenk des Sultans Harun-al-Rachid nach Aachen.

Ausblick und Nachwirkung

Das Frankenreich nahm erst nach dem Tode von Karls Bruder Karlmann im Jahre 771 die in der Karte gezeigte geschlossene Form an. Nicht nur die Franzosen, deren Sprache er nicht sprach, auch alle deutschen Stämme haben sich mit Karl versöhnt. Als der Sachse Otto I. (912-973) Kaiser wurde, eilte er zu Karls Grab in Aachen, um ihm seine Reverenz zu erweisen. Otto III., sein Enkel, tat dasselbe. Später wurden die deutschen Könige Jahrhunderte lang in Aachen gekrönt. Friedrich Barbarossa (1122-1190), ein Nachfahre der Alemannen, ließ Karl heilig sprechen. Der Luxemburger Heinrich VII. (1278-1313) unternahm die seit Karl übliche Romfahrt, um den Titel des Römischen Kaisers zu erwerben. Er kehrte nicht zurück.

Im Jubiläumsjahr 2014 wird es viele Veröffentlichungen über Karl und Erinnerungen an ihn geben. Seine Persönlichkeit war derart facettenreich, dass deren Autoren so schnell nicht der Stoff ausgehen dürfte.


Nachtrag vom 22.11.2013: Literatur über Karl den Großen

Auf Wunsch eines einzelnen Lesers gebe ich im Folgenden eine Einführung in die verfügbare Literatur. Zuerst bespreche ich die als E-Book verfügbaren Texte, die ich entweder ganz gelesen oder nur (mittels des kostenlosen Probetexts) angelesen habe.

Karl der Große: Gewalt und Glaube von Johannes Fried; C.H.Beck 2013; 736 Druckseiten, € 29,95 für Papierversion. Das neue Standardwerk eines Mediävisten im Ruhestand. Sehr ausführlich und flüssig geschrieben.

Karl der Große: Der heilige Barbar von Stefan Weinfurter; Piper 2013; 352 Druckseiten; € 22,99 für Papierversion. Analysiert kritisch die Quellenlage. Diskutiert die Widersprüche in der Person Karls und die kirchlich-politischen Zwänge seiner Zeit.

Karl der Große: Der mächtigste Kaiser des Mittelalters von Dietmar Pieper und Johannes Saltzwedel; DVA 2013; 288 Druckseiten, € 19,99 für Papierversion. Eine Sammlung von Einzelaufsätzen von historisch interessierten SPIEGEL-Redakteuren. Versucht Fragen zu beantworten, die heutige Menschen interessieren. Enthält ein Interview mit dem Mediävisten Johannes Fried.

Ich und Karl der Große von Steffen Patzold; Klett-Cotta 2013; 407 Druckseiten, € 26,95 für die Papierversion. Eine Biografie des Einhard, des Biografen Karls des Großen.

Karl der Große. Der Roman seines Lebens von Thomas R. P. Mielke; Schneekluth Verlag 1995. Ein im Sinne eines Romans unterhaltsam und locker geschriebene Erzählung, die Namen historischer Personen und Orte verwendet, sich aber nicht durch die historisch belegten Fakten gebunden fühlt.

Unvollständige Liste weiterer verfügbarer Bücher

Karl der Grosse von Matthias Becher; C.H.Beck 2007; €8,95

Karl der Große und der Feldzug der Weisheit: Lebendige Geschichte von Maria Regina Kaiser und Klaus Puth; Arena 2009; € 8,95

Karl der Große: Herrscher des Abendlandes von Dieter Hägermann; ECON 2003; € 14,95

Karl der Große  von Wilfried Hartmann;  Kohlhammer 2010; € 19,90

Karl der Große: Leben und Wirkung, Kunst und Architektur von Michael Imhof und Christoph Winterer; Imhof, Petersberg  2013; € 14,95

Karl der Große von Wolfgang Braunfels; Rowohlt 1972; (nur antiquarisch)

Karl der Große von Rosamond McKitterick und Susanne Fischer; Primus 2008; € 39,90

Karl der Große. Der mächtigste Herrscher des Mittelalters von Karin Schneider-Ferber; Theiss 2013; € 29,95

Karl der Grosse. Vater Europas von Alessandro Barbero und Annette Kopetzki; Klett-Cotta 2007; € 32,00

Vita Karoli Magni / Das Leben Karls des Großen von Einhard; Reclam 1986; € 3,40

Mittwoch, 13. November 2013

Transparenz und Vertraulichkeit, Öffentlichkeit und Privatsphäre - Gegenpole oder Gegensätze?

Eine gewisse Aufgeregtheit ist den Medien angeboren oder anerzogen, vor allem denen, die unsere Aufmerksamkeit erheischen müssen. Sie drückt sich unter anderem darin aus, dass oft Gegensätze da gesehen werden, wo eigentlich keine sind. Kaum ein Wort taucht als Modebegriff in der gesellschaftlichen und politischen Diskussion häufiger auf als Transparenz. Es gilt als Allheilmittel, wenn immer ein Projekt seine Ziele nicht erreichte oder eine Behörde ihren Pflichten nicht nachkam. Es ist ein Teil der politischen Hygiene. Die NSA-Affäre der letzten Monate gilt als Beweis, dass die Privatsphäre vieler Menschen massiv verletzt wurde. Oft erscheint es so, als ob dieselben Leute die Bedrohung ihrer Privatsphäre beklagen, die vorher die volle Transparenz aller Daten und Prozesse verlangten. Es ist dies das typische Zeichen eines Dilemmas. Es muss dies aber nicht sein. Dass die gesellschaftliche Diskussion sich oft an vagen Bedrohungen festmacht, ist nicht neu. Dass von Generation zu Generation ein Wandel von Werten und Einstellungen erfolgt, ist ebenfalls nicht zu leugnen.

Verunsicherung durch Technik

In ihrem 2010 erschienenen Buch ‚Schuld sind die Computer‘ werden von Endres und Gunzenhäuser 36 Bedrohungen und Ängste identifiziert, deren Ursprung im Fortschreiten von Informatik und Computertechnik zu sehen sind. Zwei Kapitel behandeln den hier angesprochenen Themenkreis. Es sind die Kapitel 5.1 (Gläserner Kunde und gläserner Bürger) und 5.2 (Großer Bruder). Wegen der durch die NSA-Affäre gewonnenen Aktualität seien ein paar Sätze aus Kapitel 5.2 zitiert:

Das Schlagwort „Großer Bruder“ erinnert an George Orwells Roman ‚1984’. Orwell beschrieb darin schon 1948 die negative Utopie eines totalitären Überwachungs- und Präventionsstaates, die er auf das Jahr 1984 projizierte. …Heute verfügen wir zweifellos über die Technologie, die eine solche Schreckensvision ermöglichen würde. Einige Leute sind auch fest davon überzeugt, dass wir uns – zwar langsam, aber unaufhaltsam – in die von Orwell beschriebene Richtung bewegen, und das nicht nur in Deutschland, sondern in fast allen größeren oder reichen Ländern dieser Erde. Kleineren und armen Staaten fehlen meist die Mittel dazu….

Was den einen als Bedrohung erscheint, dient andern zur Sicherung und Verteidigung ihrer Freiheit. „Internet-Puristen“ sehen das Internet als öffentliches Gut an und als freien Marktplatz der Meinungen, den es zu schützen gilt. Als Bedroher werden gewinnsüchtige Privatunternehmen wie auch kontrollwütige Behörden angesehen. Es kommt für jeden einzelnen Nutzer des Internets darauf an, eine gute Balance zwischen Chancen und Risiken zu finden. Aus Angst vor dem ‚großen Bruder’ Staat sollten wir die Chancen nicht ungenutzt lassen, die sich im Hinblick auf die Verbesserung der demokratischen Prozesse bieten.

Was dort beschrieben wurde, ist heute keine rein potentielle Gefahr mehr. Wie die NSA-Affäre bewies, ist es die aktuelle Praxis. Im Rest dieses Beitrags wird versucht näher zu beschreiben, was unter einer ‚guten Balance‘ nicht nur der Chancen und Risiken zu verstehen ist, sondern auch bezogen auf Forderungen und Erwartungen. Gedanklich sollte diese Abwägung der technischen Implementierung vorausgehen. Manchmal können wir dies aber nicht und werden erst von der realisierten Technik darauf aufmerksam gemacht, dass wir dies eigentlich hätten tun müssen.

Effekte der sozialen Medien

Der Begriff der Transparenz stammt aus der Optik. Hier bedeutet er ‚durchlässig‘ oder ‚durchscheinend‘. Das Bild des gläsernen Bürgers leitet sich daraus ab. Geheim und vertraulich betrachte ich als gleichbedeutend.

Nach der Beschäftigung mit dem Phänomen Google hat sich Jeff Jarvis, ein in Internetkreisen sehr bekannter Autor, Facebook und Twitter zugewandt. Sein 2011 erschienenes Buch hat in der deutschen Übersetzung den Titel ‚Mehr Transparenz wagen!‘ Der Übersetzer ließ sich offensichtlich von Willy Brandts Regierungserklärung von 1969 anstecken, die er damals unter den Slogan ‚Mehr Demokratie wagen‘ stellte.

Jarvis konstatiert einen Wandel der Einstellung der Privatsphäre gegenüber zwischen sich und seinem Sohne. Dieser, den er zur Generation der Digitalen Eingeborenen (engl. digital natives) rechnet, sehe vieles anders als er. Schuld daran seien vor allem Mark Zuckerberg und Facebook. Sie würden die Fragen aufwerfen, was privat oder öffentlich ist und warum. Facebook und Twitter, aber auch Google verfolgen angeblich ein Geschäftsmodell, das auf Offenheit beruht, also auf Transparenz. Dieselben Firmen fallen jedoch selbst durch Geheimhaltung auf. Sie sagen ihren Nutzern nicht alles, was sie tun. Wenn immer dieser Widerspruch zu eklatant wurde, mussten sie nachjustieren. Mark Zuckerberg spricht von einer Vision, die er verwirklichen will. Er will die Welt offener machen. Damit würde sie besser. Durch Offenheit entstünde mehr Vertrauen und Verantwortungsbewusstsein, ja Integrität. Wer alles offenlegt, was er tut, müsse ehrlicher sein. Die Plattform WikiLeaks gibt sich gerne als Vorkämpferin der Offenheit aus, da sie die Macht von Regierungen einschränke. Sie hindere Beamte daran Heimlichtuerei zu betreiben. Die Information, die man besaß, hielt WikiLeaks allerdings geheim, bis dass sie mit drei Zeitungen (Guardian, NY Times, Spiegel) entsprechende Verträge abgeschlossen hatte, um damit Geld zu verdienen. Mit verbesserter Transparenz, wo immer mehr Leute immer mehr von sich mitteilen, hat das wenig zu tun.

Jarvis mokiert sich darüber, dass wir Deutsche besonders sensibel seien. Ilse Aigner habe in ihrer Funktion als Verbraucherschutzministerin gegen Street View protestiert, den Versuch von Google, Straßenbilder deutscher Städte ins Internet zu stellen. Es wurde ein Formular angeboten, mit dem man Google bitten konnte, bestimmte Häuser zu ‚verpixeln‘. Im Internet sähe Deutschland bald so aus wie nach dem Kriege, als Bombeneinschläge überall sichtbar waren, meinte er. Schließlich kommt Jarvis in Deutschland auf den Geschmack nackt in eine Sauna zu gehen. Für einen Amerikaner sei dies ein stärkeres Eindringen in die Privatsphäre als das Fotografieren an sich öffentlicher Straßen und Plätze.

Kulturell bedingte Empfindungen

Es stellt sich daher die Frage, was als privat empfunden wird. Der Begriff selbst leitet sich von dem negativen Ausdruck ‚beraubt‘ (lat. privatus) ab, was darauf hinweist, dass in vielen historischen Gesellschaften, die ja aus Familienverbünden hervorgingen, die Öffentlichkeit der Normalfall war. Als privat gelten heute in den meisten Kulturen z.B. bestimmte Regionen des menschlichen Körpers, Informationen über den Gesundheitszustand, das Einkommen und das Vermögen. Bezüglich der letzten beiden Bereiche gibt es bereits Unterschied innerhalb Europas. So soll man in Norwegen sehr offen sein. Jarvis machte selbst eine interessante neue Erfahrung, als er sich entschlossen hatte, in seinem Blog über eine Erkrankung (Prostrata-Krebs) zu berichten. Einige Kommentare hätten ihm echt geholfen. Im Allgemeinen haben Kinder eine andere Vorstellung von Privatheit als Erwachsene. Bei Erwachsenen nimmt die Angst zu, Fehler öffentlich zu gestehen. Auch die Bereitschaft zum Risiko nimmt ab.

Auf den Umgang mit Computern bezogen betrachten die meisten Leute folgende Informationen als nicht öffentlich: Kreditkarten-Nummern, Paßwörter, Inhalte ihrer eigenen E-Mails, den Browser-Verlauf, Playlists bei iTunes, Einkäufe bei Amazon und dgl. Bei einigen andern Tätigkeiten und Informationen sind wir etwas unsicher. Dazu gehören die vielen so genannten Freunde, die uns in sozialen Netzen angeboten oder vermittelt werden. Hier kommt es sehr auf die bisherige Erfahrung an.

Es ist sehr unangenehm, dass der Begriff Privatsphäre inhaltlich nur schwer zu definieren ist. Es gibt keine statische Definition, die für einen längeren Zeitraum oder für mehrere Situationen gelten kann. Es findet ein fortlaufender Anpassungsprozess statt. Nur der einzelne Mensch möchte und kann nämlich bestimmen, was für ihn öffentlich und was privat ist. Der Nutzer eines Kommunikationsdienstes möchte selbst bestimmen können, was andere über ihn wissen. Wird irgendwann ein Zustand erreicht, der befriedigend ist, oder an den wir uns gewöhnt haben, kann neue Technik zur Bedrohung werden. So war es mit photographischen Kameras und elektromagnetischen Tonaufnahmegeräten. Mit dem Aufkommen des Internets sahen viele das 'Ende der Privatsphäre' (so der Titel eines 2007 erschienen Buches von Peter Schaar, dem Bundesbeauftragten für den Datenschutz) herbeikommen.

Jarvis meint, dass es bei der Privatsphäre im Grunde um eine Ethik des Wissens ginge, bei der Öffentlichkeit um eine Ethik des Teilens. ‚Was andere nicht wissen dürfen, sollte man nicht tun‘ (so lautet ein berühmter Ausspruch von Eric Schmidt, dem ehemaligen Geschäftsführer von Google). Das Verstecken in der Anonymität ist eine beliebte Form des Privatseins.

Anders als bei der Privatsphäre lässt sich der Begriff der Öffentlichkeit leichter konkretisieren. Hier hilft das Bild unterschiedlich großer Kreise, die sich überlappen. Einen Kreis bildet die Familie, einen weiteren die Verwandtschaft, wieder einen anderen die Freunde und dann die Arbeitskollegen, die Schüler und Leser. Das sind die individuellen Öffentlichkeiten. Weiter außen ist dann die generelle Öffentlichkeit, über die die öffentlichen Medien berichten.

Juristische und soziologische Sicht

Der Begriff der Privatsphäre ist juristisch zwar aus andern Grundrechten ableitbar, aber als solcher ist er nicht direkt definiert. Das gilt sowohl für die deutsche Verfassung, als auch für andere Länder. Ein Arbeitskreis der Gesellschaft für Informatik (GI), der sich mit der NSA-Affäre befasste, hat kürzlich darauf hingewiesen, dass erst das Bundesverfassungsgericht (BVG) spezifische Grundrechte auf diesem Gebiet konkretisiert habe.

Für den Schutz des Persönlichkeitsrechts unterscheidet [das BVG] Intimsphäre, Privatsphäre und Öffentlichkeitssphäre und gewährleistet einen nach betroffener Sphäre einen unterschiedlichen Schutz gegen das Eindringen der Öffentlichkeit…In den USA wird kein Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung anerkannt, sondern nur ein „Right to be left alone“.

Das hier erwähnte Recht, in Ruhe gelassen zu werden oder das Recht auf Einsamkeit, ist anders motiviert und definiert als der deutsche Begriff der ‚informationellen Selbstbestimmung‘. In der Scobel-Sendung bei 3Sat vom 7.11.2013 klangen einige Aspekte an, die das Bild vervollständigen. Mit dem Wunsch nach Transparenz verbinde sich ein Traum. Es sei der Traum, dass alles besser wird, wenn alle alles wissen. Die Privatsphäre sterbe immer aufs Neue. Vor allem der in Berlin lehrende Koreaner Byung Chul Han fand ein paar kluge Worte: Transparenz sei mit Pornografie vergleichbar. Sie lasse weder Innerlichkeit, noch Scham oder Distanz zu. Es käme einem ‚entinnerlichen‘ entgegen. Wer nicht alles enthülle (bildlich: die Hosen runter lasse), der stehe draußen. Totale Transparenz führe zur vollständigen Überwachung, zu Terror. Nur eine Privatsphäre schaffe Freiheit.

Meine Erklärungsversuche

Vertraulichkeit und Transparenz, Öffentlichkeit und Privatsphäre sind Begriffspaare, deren Elemente einander bedingen. Es gibt das eine nicht, ohne das andere. Sie sind daher keine Gegensätze, sondern nur Gegenpole. Wie in der folgenden Grafik dargestellt, sind sie Endpunkte einer Skala.

 

Für jede Situation und für jede Person oder Gruppe sind andere Punkte auf den Skalen optimal. Entscheidend ist, dass der Einzelne diese Punkte wählen darf und wählen muss. Diese von außen vorzugeben, ist bereits ein Eingriff in die Rechte des Individuums oder einer Gruppe.

Die derzeitige Diskussion kann dem Individuum und Gruppen dabei helfen, erneut das richtige Gleichgewicht zu finden. Lange Zeit hatten die Menschen vor allem Angst vor Eingriffen der Wirtschaft. Die Ereignisse um die NSA-Affäre haben bewirkt, dass im Moment die größte Angst vor Eingriffen des Staates besteht. Große Staaten sind immer noch mächtiger als große Wirtschaftsunternehmen. Vor allem stehen ihnen außer finanziellen und personellen Ressourcen noch zwei weitere Hebel zur Verfügung, welche die private Wirtschaft nicht hat, nämlich Gewaltanwendung (Polizei, Militär) und Gesetzgebung. Die angeschnittene Diskussion entscheidet letztlich auch darüber, wie sich eine Gesellschaft definiert.

Am 16.11.2013 schrieb Hartmut Wedekind aus Darmstadt:

So „clean cut“ ist das nicht mit Vertraulichkeit und Öffentlichkeit. Schauen Sie mal auf die Datenbanksprache SQL und hier die umstrittene „grant option“. Zuerst bei MySql, dann bei Oracle.

Nachbemerkung (BD):  Es ist klar, dass 'im wahren Leben' und bei Datenbanksystemen Rechte oder Privilegien an Objekten sehr differenziert vergeben und widerrufen werden können. Ich hatte gehofft, für den Begriff 'Privatsphäre' eine allgemein akzeptierte fixe Bedeutung zu finden. Da suche ich weiter nach gedanklicher Hilfe.

Donnerstag, 7. November 2013

Andreas Arning über die Praxis des Erfindens und die Patentierung von Software-Erfindungen

Andreas Arning (Jahrgang 1958) ist Leitender Spezialist im IBM Entwicklungslabor Böblingen. Er war u.a. in den Bereichen Unix, Data Mining und Workflow-Entwicklung tätig. Er hatte an der Universität Stuttgart Informatik studiert und hat später an der Universität Osnabrück promoviert. Als Interview-Partner vertritt Andreas Arning eine jüngere Generation als alle seine Vorgänger. Vor 30 Jahren hätte dieses Thema in dieser Form überhaupt noch nicht diskutiert werden können. Über Teilaspekte hätten nur Hardware-Kollegen Auskunft geben können.



Bertal Dresen (BD): Wir haben uns um 1982, also vor nunmehr 30 Jahren, in meiner Vorlesung "Entwurf großer Systeme" an der Universität Stuttgart kennen gelernt. Sie waren Student der Informatik und ich externer Lehrbeauftragter. Ich durfte Ihnen das Diplomarbeitsthema stellen und ihre Diplomarbeit beurteilen. Nach Beendigung des Studiums übernahmen Sie 1985 eine Stelle im Entwicklungsbereich der IBM. Können Sie kurz Ihren Werdegang bei IBM beschreiben. Welches waren die technisch interessantesten Aufgaben, an denen Sie mitwirkten?

Andreas Arning (AA): Die erste Herausforderung bestand darin, Unix Version V mit dem IBM System/370-Großrechner zu verheiraten. Damals prallten hier noch Welten aufeinander. Heute ist das Linux-System auf der unerschütterlichen Großrechner-Hardware der IBM ein wichtiger Beitrag zur IT-Welt. Dann bekam ich die Chance, in einem Grundlagenforschungsprojekt mitzuwirken. Dort durften wir in einem frühen Stadium wissenschaftliche Spitzenforschung betreiben: das inhaltliche Verstehen von natürlich-sprachlichem Text durch einen Computer mit linguistischen und logischen Methoden (Projekt LiLog). Wenn man so will, haben wir dort einen erster Vorläufer des heutigen Watson-Systems gebaut, zusammen mit fünf deutschen Universitäten, und ich durfte die Implementierung leiten.

Als Nächstes holten meine Kollegen und ich einen Data-Mining-Prototypen aus dem IBM Forschungslabor Almaden in Kalifornien nach Deutschland, um ihn in kurzer Zeit zur Produktreife zu bringen. Aktuell arbeite ich in der Entwicklung des WebSphere Application Servers, wo wir es geschafft haben, die Entwicklungsverantwortung für wichtige Komponenten dieses erfolgreichen Produktes nach Deutschland zu holen.

BD: Wie ich erfahren habe, haben Sie zwischen 1992 und 1996 an der Universität Osnabrück promoviert. Was war Ihr Thema und wie kamen Sie auf Osnabrück? In welcher Beziehung stand das Thema zu Ihrer Arbeit bei IBM?

AA: Als Belohnung für die erfolgreich verlaufene Arbeit im Forschungsprojekt LiLog durfte ich für einige Monate ein Forschungsthema meiner Wahl bearbeiten, an einer Universität meiner Wahl. Ich hatte mich schon länger für Methoden der künstlichen Intelligenz interessiert, war allerdings immer wieder verwundert, warum in diesem Forschungsfeld eine entscheidende Trumpfkarte des Computers so hartnäckig nicht ausgespielt wurde: die Fähigkeit, gigantische Datenmengen zu verarbeiten. Es war stattdessen gängige Praxis, den Computer aus einer Handvoll Beispiele etwas lernen zu lassen. Darüber hinaus wollte ich an etwas für die Praxis Nützlichem arbeiten; so kam ich zu dem Thema meiner Doktorarbeit „Fehlersuche in großen Datenmengen unter Verwendung der in den Daten vorhandenen Redundanz“. Und weil ich zuvor schon mit 15 Professoren zusammengearbeitet hatte, konnte ich mir auch noch den Lehrstuhl aussuchen, der besonderes Interesse an diesem Thema hatte. Ich entschied mich für Osnabrück. Das Thema hatte auch in meiner weiteren Arbeit einige Überlappung mit dem Gebiet „Data Mining“. Heute kennt man dies auch unter dem Namen „Big Data“. 

BD: In Ihrem Profileintrag im sozialen Netz ‚LinkedIn fielen mir die 17 erteilten Patente auf, die Sie alle einzeln auflisten. Weitere 11 sind eingereicht. Die Anmeldungen erstrecken sich über die Zeit von 1986 bis 2010. Einige stammen von Ihnen allein; die meisten von mehreren Erfindern. Was hat Sie bewogen, so offen über Ihre Erfindungen zu reden? Gab es außer mir noch Leute, die Sie direkt darauf ansprachen.

AA: Ja, im Laufe der Zeit hat sich da so einiges angesammelt. Das Patentwesen in unserer Firma ist gut organisiert: die Erfinder dürfen sich auf das Darstellen der Kernidee konzentrieren, die Prior-Art-Suche und das Übertragen in Juristensprache und natürlich die Anmeldungskosten werden von der IBM übernommen. Und wir werden explizit ermutigt, eine Erfindung mit Kollegen zu diskutieren – wenn ein Kollege in so einer Diskussion die Erfindung verbessern hilft und dadurch zum  Miterfinder wird, bedeutet dies beispielsweise bei den Prämien in der Regel keine Einbußen. Deshalb gibt es so oft Erfindergemeinschaften. Man darf eine Person aber nur dann als Miterfinder benennen, wenn sie auch etwas beigetragen hat.

In unserer Firma gibt es einen Titel „Master Inventor“, der nach strengen Regeln verliehen wird und außer der eigenen erfinderischen Tätigkeit vor allem das ‚Mentoring honoriert. Diesen Titel muss man sich alle drei Jahre neu erwerben, und ich darf ihn aktuell wieder für drei Jahre in meiner elektronischen Visitenkarte führen. Da werde ich natürlich auch gelegentlich drauf angesprochen. Kurzum, IBM ist ein guter Platz für Erfinder. Man wird hervorragend unterstützt.

BD: Wie Sie sicher wissen, ist die Idee der Patentierung von Software nicht ganz unumstritten. Ich selbst hatte mich in den 1980er Jahren dafür engagiert, Kollegen innerhalb und außerhalb der IBM für diese vorher nur den Hardware-Kollegen vertraute Denkweise zu gewinnen. Was hat Sie und ihre Kollegen dazu bewogen, sich mit den Mühen der Patentierung zu belasten? Welche Aspekte machten die meisten Schwierigkeiten? Ist es der ‚juristische Kram‘, wie z.B. das Abstecken der Ansprüche (Claims)?

AA: Ja, es gibt zu dem Thema Patentierung von Software ganz verschiedene Ansichten, an einem Ende des Spektrums „Software ist für alle da“ (und sollte ohne Einschränkung für jeden gratis sein), auf der anderen Seite schlagzeilenträchtige juristische Patentstreitigkeiten großer Firmen. Die Firma IBM geht da einen ganz pragmatischen Weg. Wir versuchen einfach, viele unserer Ideen durch Patente abzusichern, um unsere Handlungsfreiheit zu behalten. Ein großes Patent-Portfolio gibt uns da einige Sicherheit, und gleichzeitig sind wir bemüht, in beiden Richtungen eine faire Lizenzpolitik zu betreiben sowohl gegenüber größeren Firmen aber gerade auch gegenüber kleinen Firmen.

Zu den Mühen der Patentierung: Es gibt in der Tat eine Hemmschwelle, denn die Ausarbeitung einer Patentschrift in der eigenen juristischen Sprache hat sehr wenig Verwandtschaft mit Software-Entwicklung. Aber Erfinder werden   ̶  wie schon erwähnt   ̶  bei uns sehr gut unterstützt, und den ersten Schubs geben dann manchmal die Master-Inventoren, nicht als Miterfinder, sondern als Mentor.

Die meisten Schwierigkeiten macht es erfahrungsgemäß, eine patentwürdige Lösung als solche zu erkennen. Wenn man ein – scheinbar unlösbares – Problem irgendwann einmal bezwungen hat, scheint einem die Lösung rückblickend manchmal geradezu trivial. Um diesen Unterschied zu verdeutlichen, mag die Erfindung „Reißverschluss“ helfen. Das Prinzip des Reißverschlusses könnte ich gut genug erklären und niederschreiben, so dass ihn jemand nach meinen Vorgaben produzieren könnte. Ich könnte mir also den Reißverschluss rückblickend auch selbst ausdenken, da bin ich zuversichtlich. Aber ich bin schon mit Reißschlüssen aufgewachsen, deshalb gilt das nicht! Erst wenn ich mir dann – mit viel Mühe – eine Welt mit allen technischen Errungenschaften nur eben ohne jeden Reißverschluss ausgemalt habe, wird mir allmählich klar: nein, diese Erfindung wäre mir nicht eingefallen, sondern ich wäre wie alle anderen mit Knöpfen und Klettverschlüssen zufrieden gewesen. Konkret: es braucht einige Erfahrung und Respekt für erfinderische Leistungen anderer, eine rückblickend gesehen einfache Lösung (eventuell patentierbar) von einer naheliegenden Lösung (nicht patentierbar) zu unterscheiden. Auch hier helfen bei uns die Master-Inventoren.

Schwierig ist weiterhin, die Patentansprüche so zu formulieren, dass die nicht zu allgemein sind (und damit durch den Stand der Technik schon vorweggenommen), aber auch nicht zu speziell (d.h. mit leichter Änderung umgehbar und damit wertlos). Aber auch hierbei wird der Erfinder nicht allein gelassen.

BD: Ihre Erfindungen sind – so scheint es mir  ̶  alle software-bezogen. Können Sie anhand eines ihrer Patente erklären, worin die so genannte Erfindungshöhe besteht.

AA: Das US Patent 5715469, erteilt im Februar 1998, beschreibt ein Verfahren zur Rechtschreibprüfung, das ohne Lexikon auskommt. Der erfinderische Schritt besteht darin, einen (vorzugsweise langen) Text mit seiner Redundanz als Lexikon-Ersatz zu verwenden, während es Schreibfehler in demselben Text sucht. Gleichzeitig geht dieses Verfahren die Problemstellung „Schreibfehler finden“ von einer unkonventionellen Richtung an: Statt „Finde alle Schreibfehler“ verfolgt das Verfahren ein unsinnig oder zumindest exotisch erscheinendes Ziel, nämlich „Finde nur einen einzigen Schreibfehler, der aber mit größter Sicherheit auch wirklich ein Fehler ist“. Dazu nimmt das Verfahren die langen, besonders häufig vorkommenden Wörter aus dem Text her, baut in diese künstlich Fehler ein, nach den üblicherweise vorkommenden Fehlermustern, und sucht alle diese Variationen im Text. Den so ermittelten Kandidaten kann man dann eine Wahrscheinlichkeit zuordnen, die ausdrückt, ob wir eher einen wirklichen Fehler vorliegen haben oder eher einen falschen Alarm.

Natürlich muss man sich dabei nicht auf den einen wahrscheinlichsten Fehlerkandidaten beschränken, sondern man kann auch eine längere Liste erzeugen, in der sich dann allerdings, je weiter man in der Liste von oben nach unten navigiert, zunehmend falsche Alarme finden. Auf diese Weise kommt man dem sinnvolleren Ziel „Finde alle Schreibfehler“ dann doch wieder näher. Das Verfahren funktioniert übrigens tatsächlich: angewendet auf Ihren kompletten Blog sieht die Top 10 der Ergebnisse so aus:


Dabei habe ich die tatsächlichen Fehler mit '+' markiert, die ‚false alarms‘ durch '-'. Um dies zu entscheiden, habe ich die links stehenden Zeichenketten im Text gesucht und den Kontext berücksichtigt. In der äußeren rechten Spalte ist die Wahrscheinlichkeit des Zutreffens angegeben. Das Verfahren findet ansonsten noch die weiter unten angegebenen Fälle. Die ‚false alarms‘, die weiter unten immer häufiger werden, habe ich dabei weggelassen.


Dieses Patent ist übrigens inzwischen abgelaufen. Die Idee ist damit Allgemeingut und jeder darf diese Idee implementieren und nutzen.

Eine Eigenschaft dieser Erfindung ist charakteristisch für software-bezogene Erfindungen: rückblickend kann man sie ohne Einarbeitung in Elektronik oder Mechanik verstehen. Es können also viele mitreden. Und wenn nun einer dabei ist, der den kurzen Moment der Verblüffung vergessen hat („Rechtschreibprüfung ohne Lexikon – wie kann das jemals funktionieren?“), kann wie beim Reißverschluss wieder die Verwechslung zwischen „rückblickend einfach“ und „naheliegend“ passieren. Die Konsequenz ist, dass Zweifel an der Patentwürdigkeit laut werden. Aber mit diesem Risiko müssen alle Erfindungen, nicht nur die software-bezogenen,  nun einmal leben.

BD: Worin liegen für Sie persönlich der Reiz und der Wert des Erfindens? Gibt es finanzielle Vergütungen? Welche Rolle spielt heute das deutsche Arbeitnehmererfindergesetz? Treibt es kreative Firmen aus Deutschland weg?

AA: Schon als Kind habe ich große Ehrfurcht für berühmte Erfinder empfunden, und am liebsten wollte ich auch einer von denen werden. Nun ja, eine bahnbrechende Erfindung, die vielen Menschen nützt, ist nicht jedem vergönnt, aber die Romantik schwingt auch bei kleinen Erfindungen mit. Immerhin bekommt man von amtlicher Seite mit einiger Zuverlässigkeit bescheinigt, dass man mit einer Idee der erste war. Außerdem gibt es in unserer Firma schon für das Einreichen von Patenten eine Belohnung. Das ist besser für die Erfinder, denn ob ein Anspruch nach dem  Arbeitnehmererfindergesetz überhaupt besteht, entscheidet sich oft erst Jahre später – wenn es wirklich zu einer Erteilung kommt.

Das Arbeitnehmererfindergesetz schreibt vor, den/die Erfinder angemessen an dem kommerziellen Erfolg der Erfindung zu beteiligen. Der Gesetzgeber mutet den Unternehmen hier aber nur einen sehr überschaubaren Betrag für die Erfindervergütung zu. Nach meiner Einschätzung überwiegt der Anreiz für die Erfinder, kreativ zu sein, die Kosten für die gesetzliche Erfindervergütung. Mit anderen Worten ausgedrückt, würde ich folgendes vermuten: bevor dieses Gesetz eine Firma aus dem Land vertreibt, weckt es vielleicht noch eher in einer Firma die schlummernde Kreativität. Aber belastbare Zahlen habe ich für diese Vermutung nicht.

BD: Was wissen Sie über den Wert oder die Wirkung Ihrer Erfindungen für die Firma? Wie wird Erfolg gemessen? Ist es nur die Nutzung innerhalb der Firma IBM oder spielt auch der Wert für Lizenznehmer eine Rolle?

AA: Da sprechen Sie einen sehr interessanten Aspekt an. Der individuelle Beitrag eines Patentes zum Geschäftserfolg eines großen Produktes ist naturgemäß sehr schwierig zu erfassen. Man findet sich unmittelbar in Fragestellungen wie „welches Umsatzplus hat diese neu eingebaute, patentierte Lösung dem Produkt beschert?“ Zwar kann man Umsatz oder Umsatzplus noch leicht ermitteln, aber das Herunterbrechen auf eine von vielen Neuerungen ist naturgemäß nicht einfach.

Dennoch nehmen wir genau diese Frage sehr ernst, und betrachten im Expertengremium jedes Patent im Detail und entscheiden für jedes Patent seinen relativen Wert im Produkt sowie sein Potential für etwaige Lizenznehmer. Und bei diesen Entscheidungen gilt grundsätzlich: im Zweifel für den Erfinder. Allerdings ist auch zu bedenken, dass ein Produkt, das vielleicht eine dreistellige Anzahl von Patenten beinhaltet, nicht jeweils 10% seines Umsatzes an jeden beteiligten Erfinder weitergeben kann. Auch hier hat man als Mentor eine Aufgabe, nämlich unrealistische Vorstellungen von Erfindern zu dämpfen. Und wenn es zu Lizenzübertragungen an andere Firmen kommt, stellen sich ähnliche Probleme, denn oft werden gleich mehrere Patente auf einmal gehandelt, so dass es auch hier schwerfällt, den individuellen Anteil eines einzelnen Patentes zu ermitteln. Aber die Firma ist stets darauf bedacht, eine gerechte Lösung zu finden.

BD: Gab es Kommentare oder gar Anfechtungen (engl. litigations) für Ihre Patente? Wie sehr werden einzelne Erfindungen in der Fachwelt diskutiert?

AA: Mir sind keine Kommentare oder Anfechtungen für meine bestehenden Patente bekannt, dabei wäre eine Anfechtung ja eher ein gutes Zeichen – zeigt sie doch, dass man eine relevante Lösung aufgezeigt hat, die andere ohne Lizenznahme auch gerne verwenden wollen. Anfechtungen vor Ablauf eines Patentverfahrens dagegen kenne ich besser. Es passiert gelegentlich, dass ein Patentverfahren es nicht bis zur Erteilung schafft, weil doch noch „Prior Art“ aufgetaucht ist, von denen wir zur Zeit des Patentantrages keine Kenntnis hatten oder keine Kenntnis haben konnten; das ist mir auch schon passiert.

BD: Wie Sie vielleicht wissen, war ich 15 Jahre lang Hauptherausgeber einer deutschsprachigen Fachzeitschrift für Informatik.

AA: … die Zeitschrift „Informatik - Forschung und Entwicklung“. Das habe ich in der Laudatio zu Ihrer Ernennung zum GI-Fellow gelesen …

BD: Deshalb möchte ich Sie fragen: Was halten Sie von der weitverbreiteten Meinung, dass Informatiker mehr ans Publizieren in Fachzeitschriften denken sollten als ans Patentieren? Wie viele Zeitschriften-Publikationen haben Sie? Welche Fachzeitschriften lesen Sie regelmäßig? Wie glauben Sie herauszufinden, was geschützt ist?

AA: Eine Patentanmeldung ist eine gut sichtbare Form der Publikation, mit einem wohldefinierten Review-Prozess. Und durch die zusätzliche Schutzwirkung eignet sie sich auch für Themen, bei denen ohne diese Schutzwirkung Fortschritte geheim bleiben müssten – weil die Wettbewerbsfähigkeit einer Firma auf dem Spiel steht. Aber auch für Universitäten kann sich eine Patentanmeldung lohnen. Dafür gibt es beeindruckende Beispiele.

Jede Patentschrift wird übrigens nach 18 Monaten von Patentamt veröffentlicht, auch wenn das Verfahren dann noch nicht abgeschlossen ist. Diese so genannten „Offenlegungsschriften“ bekommt man über das DEPATISnet. Sie dienen dazu, Fortschritte der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, und man kann sie wie andere Publikationen zitieren und auf den Ergebnissen aufbauen.

Ich selbst habe in meiner aktuellen Position vorwiegend mit technischen Detailfragen zu tun, wo die Überlappung mit Themen in Fachzeitschriften nicht besonders hoch ist. Demzufolge habe ich auch keine eigenen Publikationen in Fachzeitschriften. Aber ich lese Fachzeitschriften gerne und regelmäßíg, speziell das „Informatik Spektrum“. Und gelegentlich die Zeitschrift „Künstliche Intelligenz“.

Übrigens gibt es noch eine interessante Art von Publikation, zu der ich auch beitrage. Gelegentlich publizieren wir Erfindungen, für die wir keinen Patentschutz anstreben, aber die wir trotzdem nutzen können wollen. Diese Ideen stellen wir der Welt einfach so zur Verfügung, z.B. auf dem IBM-unabhängigen Portal ip.com. Durch die Veröffentlichung werden diese Ideen zur „Prior Art“, und im Gegenzug können wir sicher sein, dass niemand anders ein Schutzrecht für unsere Ideen bekommt und dann gegen uns verwendet.

Damit sind wir schon wieder bei dem Thema „Prior Art“ gelandet. In der Tat mache ich für jede potentielle Patentidee eine erste Recherche selbst. Hier spielen ja nicht nur andere Patenteinreichungen eine Rolle, sondern es sind alle Veröffentlichungen relevant. Diese Recherche mache ich immer mit etwas Herzklopfen und dem inständigen Wunsch, nichts zu finden. Aber diesen Schritt, so unangenehm er ist, darf man einfach nicht weglassen. Denn je später im Verlauf eines Patentverfahrens sich herausstellt, dass eine Idee nicht neu ist, umso mehr unnötige Arbeit hat man geleistet – die man besser in eine andere Idee investiert hätte.

BD: Vielen Dank für die ausführlichen Auskünfte! Vielleicht hilft dies angehenden Informatikern und ihren Lehrern dieses Thema etwas anders anzugehen als in der Vergangenheit.

Mittwoch, 6. November 2013

Vom automatisierten Bauernhof zur Zukunft der Arbeit

Seit ich im Ruhestand bin, habe ich geradezu ein Faible dafür entwickelt, über die gesellschaftlichen Auswirkungen meiner fachlichen Tätigkeit und die meiner Kollegen nachzudenken und zu schreiben. Dieser Tage las ich ein Buch, das voll in diese Richtung geht. Es heißt ‚Arbeitsfrei‘ und stammt von Constanze Kurz und Frank Rieger. Beide Autoren sind die derzeitigen Sprecher des Chaos Computer Clubs (CCC). Als regelmäßige Autoren der FAZ und häufige Gäste in Fernseh-Talkshows sind sie beide der deutschen Öffentlichkeit bestens bekannt. Ich kann das Buch nur wärmstens empfehlen. Es ist die kompetenteste Behandlung der durch die Informatik berührten gesellschaftlichen Fragen, die ich in den letzten 20 Jahren gelesen habe.

Im Titel erinnerte das Buch mich an den Bestseller ‚Ende der Arbeit‘ von Jeremy Rifkin aus dem Jahre 2005. Weder dieses Buch noch vergleichbare Veröffentlichungen werden erwähnt. Ich will im Folgenden nicht nur den Inhalt des Buches grob wiedergeben, sondern auch eigene Gedanken zu dem Thema einflechten. Diese Freiheit nehme ich mir als unabhängiger und unbezahlter Blogger. Den Autoren gegenüber besitze ich den Vorteil, über 30 Jahre länger als sie in der Informatik-Branche aktiv gewesen zu sein.

Trotz aller Voreingenommenheit, die jemand normalerweise empfindet, wenn er vom CCC hört, überrascht das Buch durch eine erstaunlich positive Einstellung der Technik gegenüber, und der Informatik im Besondern. Der historische Begriff der Ludditen wird zwar erwähnt, selbst möchte man aber nicht in ihre Nähe gerückt werden. Die Menschheit nutze ihre Macht und ihr Wissen, um die Kraft des Menschen durch Maschinen zu ersetzen oder zu ergänzen. Früher ging es dabei um die körperliche Kraft, inzwischen auch um die geistige. Die etablierten Lebens-, Arbeits- und Denkweisen würden obsolet. Die damit zusammenhängenden Umbrüche seien nicht immer schmerzlos und friedlich. Ich kann dem voll zustimmen.

Dass heute neben der Digitalisierung und Roboterisierung die Vernetzung im Vordergrund steht, kann niemand bestreiten. Selbst Schulkinder verfügen über Smartphones, d.h. Rechner mit eingebauten Telefonen, Kameras und Fernsehern. Unsere Maschinen würden zu Kollegen, teils freundlich, teils konkurrierend, nicht nur bei der körperlichen Arbeit, sondern auch beim Denken. Maschinelle Intelligenz (man beachte die Wortwahl!) sei keine Science Fiction. Sie käme kleinteilig daher. Sie könne allerdings unglaubliche Datenmengen nutzen. Ist die Folge davon die große Massenarbeitslosigkeit, wie immer noch von einigen befürchtet? Zu versuchen, auf diese Frage eine überlegte Antwort zu geben, ist das Ziel der Autoren. ‚Wir wollen der Zukunft informiert ins Auge sehen,‘ heißt es.

Entdeckung der Gegenwart

Die ‚Entdeckungsreise‘, von der im Untertitel des Buches die Rede ist, führt zunächst auf Bauerhöfe. Hier ist die Technologie weiter als man gemeinhin denkt. Dank der opulenten Förderung sind viele Bauern zu Produzenten von Bioenergie geworden. Manche betreiben vollautomatische Hühnerställe. Fielen bei einem von ihnen der Computer ein paar Stunden aus, wären 45.000 Hühner tot. Andere wiederum beziehen stündlich eine Präzisionswettervorhersage. Im Gegensatz zu den Diensten in Radio und Fernsehen ist sie kostenpflichtig. Die Milch und das Fleisch, das im Laden angeboten wird, stammen aus so genannten Agrarfabriken. Hier bestimmen Melk- und Stallreinigungsroboter die Szene. Alle Kälber und Kühe sind in einer zentralen bundesweiten Datenbank erfasst, letztere mit allen aktuellen Leistungsdaten. Da ich die bäuerliche Situation aus eigener Anschauung recht gut kenne, kann ich die Aussagen im großen Ganzen bestätigen. Dabei kommt allerdings zu kurz, dass die hohen Investitionen viele Betriebe schwer belasten. Es beschleunigt die schon länger stattfindende Konzentration. Dies führt nicht nur zu einer veränderten Landschaft, sondern treibt viele Familienbetriebe in den Ruin.

Fast ebenso eindrucksvoll ist die Beschreibung heutiger Mühlen- oder Backbetriebe. Mühlen waren vor 200 Jahren vielerorts die Vorboten der Mechanisierung. Heute liegen sie in der Nähe der Autobahn und verarbeiten zwischen 1000 und 5000 Tonnen Getreide pro Tag. Dabei gehen alle Körner einzeln an Kameras vorbei, um sicherzustellen, dass keine Fremdkörper oder Krankheitserreger (Mutterkorn) darunter sind. Bäckereien zeigen einen unterschiedlichen Automatisierungsgrad, je nach ihrer Größe. Besonders im Kommen ist die Trennung von Teigerstellung und Backen. Außer der Nahrungsmittelindustrie werden noch einige weitere Branchen beschrieben. Die Veränderung der Druckindustrie habe ich selbst miterlebt. Vor
Raffinerien staunten wir Nicht-Experten schon immer über ein unverständliches Gewirre von Leitungen. Die Transportlogistik und Lagerhaltung hat in den letzten 20 Jahren große Fortschritte erzielt. Es sind nicht nur die automatisierten Hochregallager und Gabelstapler-Roboter, die Schlagzeilen machten. Dass ein T-Shirt aus Bangladesch zu Transportkosten von nur fünf Cent in ein deutsches Textilgeschäft gelangt, ist nicht weniger beachtenswert.

Vorahnungen der Zukunft

Der zweite Teil des Buches befasst sich mit einigen technischen Lösungen, die wir in der Zukunft erwarten können. Am Anfang wird das Thema der selbstfahrenden Autos beleuchtet. Es wird überall auf der Welt daran gearbeitet. Das primäre Ziel ist es, eine Lösung zu finden, die besser ist als der Mensch. Dass der Straßenverkehr allein in Deutschland rund 5000 Tote pro Jahr zu verantworten hat, davon 600 auf den Autobahnen, ist in meinen Augen ein Skandal. Nicht eine Umerziehung des Menschen, sondern nur Technik kann das durch Technik verursachte Problem lösen. Die von europäischen Autoherstellern verfolgten Lösungen versuchen die ‚Freude am Fahren‘ nicht zu eliminieren. Die Assistenz des Fahrers steht im Vordergrund. Spurhaltungssysteme werden bald zur Pflicht für LKWs. Ein völlig anderer Ansatz wird von Google verfolgt. Dem im Werbegeschäft erfolgreichen Unternehmen wird unterstellt, die im Auto verbrachte Zeit für Werbung ausnutzen zu wollen. Nach Meinung dieses Autors besteht die Herausforderung nicht darin, das Auto zu retten oder zu verbessern. Es müssen bessere Lösungen für das Problem des Personen- oder des Güterverkehrs gefunden werden.

Ein weiterer Komplex wird mit den Stichworten Telepräsenz und Drohnen beschrieben. Die dahinter stehende Technik zielt auf Anwendungen in der Chirurgie, im Haushalt (Staubsauger) und beim Militär. Die militärische Anwendung reicht von der Bombenentschärfung bis zur offensiven Kriegführung mittels Drohnen. Es wird die Frage aufgeworfen, ob es eher zum Krieg kommt, wenn die zu erwartenden eigenen Verluste gering werden. Sehr interessant ist die Frage, wie sich unsere Einstellung zu Robotern verändern wird, wenn die Kosten pro Stück unter 500 Euro fallen und wenn sie vom Nutzer selbst programmiert werden. Werden sie dann als nützliches Hilfsmittel akzeptiert und nicht mehr als Bedrohung angesehen? Das System Kinect von Microsoft habe bereits die Roboterforschung revolutioniert. Der Staubsauger Roomba von iRobot (von Rodney Brooks gegründet) hat nicht nur Technikfans überzeugt. Ich wage zu behaupten, dass wir genau so überrascht sein werden wie wir es im Falle von Smartphones und Tablets waren. Die meisten Anwendungen für diese Geräteklasse haben sich erst ergeben, nachdem leistungsfähige Produkte im Markt vorhanden waren.

Die Automatisierung geistiger Arbeit ist für viele ein Widerspruch in sich. Statt sich diesem Problem in seiner Allgemeinheit zu widmen, können Beispiele dem Verständnis auf die Sprünge helfen. Die Autoren nehmen die Bewertung der Kreditwürdigkeit eines Bankkunden als Beispiel. Den Kern des Verfahrens bilden Daten und Algorithmen. Ein Mensch macht ggf. Plausibilitätsprüfungen. Im Tagesgeschäft vieler Firmen geht nichts mehr ohne die Software von SAP oder Oracle.  Auch Stimmerkennung und Sprachauskunft spielen nicht nur in Demo-Projekten eine Rolle, sondern sind Teil des Alltags. Das Wissen der Welt steht auf einem Handy zur Verfügung, nachdem es einmal erfasst ist. Wem Google zu passiv ist, kann das System Alpha der Firma Wolfram Fragen beantworten lassen.

Soziale und gesellschaftliche Aspekte

Sind Roboter einmal programmierbar durch Zeigen und Vorspielen, dann sei die Spaltung der Arbeitswelt in Spezialisten und Ungelernte hinfällig. Dann kann die Produktion von Massengütern wieder aus den Billigländern zurückgeholt werden. Wenn nämlich die Lohnkosten gegen Null tendieren, spielen niedrige Löhne keine Rolle mehr. Nur das verfügbare Kapital ist entscheidend. In zunehmendem Maße ist das Ziel der Automatisierung jedoch nicht die Kostensenkung, sondern die qualitative Verbesserung der Ergebnisse.

Moderne Software steuert die individualisierte Massenfertigung. Wer erkannt hat, dass die bessere Software für seinen Betriebserfolg entscheidend ist, wird kein Outsourcing mehr betreiben. Maschinen sind Machtverstärker. Sie können die ökonomischen Verhältnisse verändern oder zementieren. Autonom handelnde Systeme können zur Gefahr werden. Der Mensch als Konstrukteur oder Befehlsgeber bleibt jedoch verantwortlich.

Jede Technologiewelle zwinge zu neuem Nachdenken. Insbesondere muss die Frage beantwortet werden, wem die Automatisierungsdividende zu Gute kommt. Sie sollte nicht nur privaten Kapitalgebern nützen, sondern der Allgemeinheit. Die Autoren legen sich nicht fest, ob dies durch die Versteuerung privater Gewinne zu erfolgen hat, oder durch die Verstaatlichung der Betriebe. Es sei deshalb wichtig, dass die Allgemeinheit daran beteiligt wird, weil sie (in der Regel) für die Opfer aufkommen muss. Fast jede neue Technik verändert die Arbeitsverhältnisse. Sie macht hochgeschätzte Spezialisten zu Lehrjungen, anpackende Kraftmenschen zu unnützen Kostgängern. Sollte der fahrerlose Straßenverkehr sehr bald kommen, würden allein in Deutschland 70.000 LKW-Fahrer arbeitslos. Wer das Problem so darstellt, verkennt, dass ein derartiger Wandel nicht schlagartig erfolgt. 

Jede der im Buch beschriebenen Branchen hat gerade einen enormen Automatisierungsschub erfahren. Nach klassischer Theorie müsse Massenarbeitslosigkeit herrschen. Das Gegenteil ist der Fall. Jede punktuelle oder regionale Arbeitslosigkeit wird von einen durch die Altersstruktur bedingten Fachkräftemangel überlagert. Die Zahl abhängig Beschäftiger hat sich vermutlich gegenüber der Zahl der Selbständigen verändert. Darauf wird jedoch nicht eingegangen.

Wenig konkret sind Aussagen folgender Form: „Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen gewinnen und nicht die Maschinen.“ Es sei falsch gegen Maschinen anzurennen. Ein solches Rennen ist nicht zu gewinnen. Der Autor Stanislaus Lem gab bereits die einzig richtige Antwort: „Jede Arbeit, die Maschinen machen können, sollen sie tun.“ Die echten Gewinner in der derzeitigen Situation seien professionelle Software-Entwickler. Die Arbeitsverhältnisse von vielen modischen Tätigkeiten (z.B. Web Designer) seien eher prekär.

Das Ideal, das den Autoren vorschwebt, ist eine ‚bessere, gerechtere und lebenswerte Gesellschaft, in der Macht und Geld nicht weiter in den Händen weniger konzentriert werden‘. Soviel Sozialismus kann sogar ich verkraften.

Tagespolitische Fragen und mehr

Die aktuelle Diskussion um die Einführung eines Mindestlohns würde die Automatisierung weiter antreiben. Ein Mindestlohn verschaffe nämlich allen Automatisierungsprojekten eine klare Kalkulationsbasis.

Zu den deutschen Hochschulen wird kritisch bemerkt, dass sie zu sehr auf Mittelmäßigkeit aus seien und keine Spitzenkräfte ausbilden würden. Die Hochschullehrer selbst hätten keine Zeit, um gute Forschung zu betreiben, da sie sich in einem Rattenrennen um Fördermittel befänden. Die industrielle Forschung sei deshalb der Hochschulforschung oft um Jahre voraus. Mit Google und Co. könne die öffentliche Forschung nun mal nicht mithalten. Weil gute Köpfe sich an die Industrie ‚verdingten‘, würde sehr viel Wissen privatisiert. Dass ich hier deutlich anderer Ansicht bin, möchte ich nur erwähnen, aber nicht näher ausführen. Dass nur Produktivität von den Autoren als entscheidend für die Software-Entwicklung erwähnt wird, deutet darauf hin, dass sie Software noch primär als reinen Kostenfaktor auffassen. Wird Software als Geschäft verstanden, ist die Rentabilität wichtiger als die Produktivität. Auch darüber habe ich anderswo geschrieben.