Eine gewisse Aufgeregtheit ist den Medien angeboren oder
anerzogen, vor allem denen, die unsere Aufmerksamkeit erheischen müssen. Sie
drückt sich unter anderem darin aus, dass oft Gegensätze da gesehen werden, wo
eigentlich keine sind. Kaum ein Wort taucht als Modebegriff in der
gesellschaftlichen und politischen Diskussion häufiger auf als Transparenz. Es
gilt als Allheilmittel, wenn immer ein Projekt seine Ziele nicht erreichte oder
eine Behörde ihren Pflichten nicht nachkam. Es ist ein Teil der politischen
Hygiene. Die NSA-Affäre der letzten Monate gilt als Beweis, dass die Privatsphäre
vieler Menschen massiv verletzt wurde. Oft erscheint es so, als ob dieselben
Leute die Bedrohung ihrer Privatsphäre beklagen, die vorher die volle
Transparenz aller Daten und Prozesse verlangten. Es ist dies das typische Zeichen eines
Dilemmas. Es muss dies aber nicht sein. Dass die gesellschaftliche Diskussion
sich oft an vagen Bedrohungen festmacht, ist nicht neu. Dass von Generation zu
Generation ein Wandel von Werten und Einstellungen erfolgt, ist ebenfalls nicht
zu leugnen.
Verunsicherung
durch Technik
In ihrem 2010 erschienenen Buch ‚Schuld sind
die Computer‘ werden von Endres und Gunzenhäuser 36 Bedrohungen und Ängste
identifiziert, deren Ursprung im Fortschreiten von Informatik und
Computertechnik zu sehen sind. Zwei Kapitel behandeln den hier angesprochenen
Themenkreis. Es sind die Kapitel 5.1 (Gläserner Kunde und gläserner Bürger) und
5.2 (Großer Bruder). Wegen der durch die NSA-Affäre gewonnenen Aktualität seien
ein paar Sätze aus Kapitel 5.2 zitiert:
Das Schlagwort „Großer Bruder“ erinnert an
George Orwells Roman ‚1984’. Orwell beschrieb darin schon 1948 die negative
Utopie eines totalitären Überwachungs- und Präventionsstaates, die er auf das
Jahr 1984 projizierte. …Heute verfügen wir zweifellos über die Technologie, die
eine solche Schreckensvision ermöglichen würde. Einige Leute sind auch fest
davon überzeugt, dass wir uns – zwar langsam, aber unaufhaltsam – in die von
Orwell beschriebene Richtung bewegen, und das nicht nur in Deutschland, sondern
in fast allen größeren oder reichen Ländern dieser Erde. Kleineren und armen Staaten
fehlen meist die Mittel dazu….
Was den einen als Bedrohung erscheint, dient
andern zur Sicherung und Verteidigung ihrer Freiheit. „Internet-Puristen“ sehen
das Internet als öffentliches Gut an und als freien Marktplatz der Meinungen,
den es zu schützen gilt. Als Bedroher werden gewinnsüchtige Privatunternehmen
wie auch kontrollwütige Behörden angesehen. Es kommt für jeden einzelnen Nutzer
des Internets darauf an, eine gute Balance zwischen Chancen und Risiken zu
finden. Aus Angst vor dem ‚großen Bruder’ Staat sollten wir die Chancen nicht
ungenutzt lassen, die sich im Hinblick auf die Verbesserung der demokratischen
Prozesse bieten.
Was dort beschrieben wurde, ist heute keine rein potentielle Gefahr
mehr. Wie die NSA-Affäre bewies, ist es die aktuelle Praxis. Im Rest dieses
Beitrags wird versucht näher zu beschreiben, was unter einer ‚guten Balance‘
nicht nur der Chancen und Risiken zu verstehen ist, sondern auch bezogen auf
Forderungen und Erwartungen. Gedanklich sollte diese Abwägung der technischen
Implementierung vorausgehen. Manchmal können wir dies aber nicht und werden
erst von der realisierten Technik darauf aufmerksam gemacht, dass wir dies
eigentlich hätten tun müssen.
Effekte
der sozialen Medien
Der Begriff der Transparenz stammt aus der Optik. Hier bedeutet er
‚durchlässig‘ oder ‚durchscheinend‘. Das Bild des gläsernen Bürgers leitet sich
daraus ab. Geheim und vertraulich betrachte ich als gleichbedeutend.
Nach der Beschäftigung mit dem Phänomen Google hat sich Jeff Jarvis, ein in
Internetkreisen sehr bekannter Autor, Facebook und Twitter zugewandt. Sein 2011
erschienenes Buch hat in der deutschen Übersetzung den Titel ‚Mehr
Transparenz wagen!‘ Der Übersetzer ließ sich offensichtlich von Willy
Brandts Regierungserklärung von 1969 anstecken, die er damals unter den Slogan
‚Mehr Demokratie wagen‘ stellte.
Jarvis konstatiert einen Wandel der Einstellung der Privatsphäre
gegenüber zwischen sich und seinem Sohne. Dieser, den er zur Generation der
Digitalen Eingeborenen (engl. digital natives) rechnet, sehe vieles anders als
er. Schuld daran seien vor allem Mark Zuckerberg und Facebook. Sie würden die
Fragen aufwerfen, was privat oder öffentlich ist und warum. Facebook und
Twitter, aber auch Google verfolgen angeblich ein Geschäftsmodell, das auf
Offenheit beruht, also auf Transparenz. Dieselben Firmen fallen jedoch selbst
durch Geheimhaltung auf. Sie sagen ihren Nutzern nicht alles, was sie tun. Wenn
immer dieser Widerspruch zu eklatant wurde, mussten sie nachjustieren. Mark Zuckerberg
spricht von einer Vision, die er verwirklichen will. Er will die Welt offener
machen. Damit würde sie besser. Durch Offenheit entstünde mehr Vertrauen und
Verantwortungsbewusstsein, ja Integrität. Wer alles offenlegt, was er tut,
müsse ehrlicher sein. Die Plattform WikiLeaks gibt sich gerne als Vorkämpferin der
Offenheit aus, da sie die Macht von Regierungen einschränke. Sie hindere Beamte
daran Heimlichtuerei zu betreiben. Die Information, die man besaß, hielt WikiLeaks
allerdings geheim, bis dass sie mit drei Zeitungen (Guardian, NY Times, Spiegel)
entsprechende Verträge abgeschlossen hatte, um damit Geld zu verdienen. Mit verbesserter
Transparenz, wo immer mehr Leute immer mehr von sich mitteilen, hat das wenig zu tun.
Jarvis mokiert sich darüber, dass wir Deutsche besonders sensibel
seien. Ilse Aigner habe in ihrer Funktion als Verbraucherschutzministerin gegen
Street View protestiert, den Versuch von Google, Straßenbilder deutscher Städte
ins Internet zu stellen. Es wurde ein Formular angeboten, mit dem man Google
bitten konnte, bestimmte Häuser zu ‚verpixeln‘. Im Internet sähe Deutschland
bald so aus wie nach dem Kriege, als Bombeneinschläge überall sichtbar waren,
meinte er. Schließlich kommt Jarvis in Deutschland auf den Geschmack nackt in eine
Sauna zu gehen. Für einen Amerikaner sei dies ein stärkeres Eindringen in die
Privatsphäre als das Fotografieren an sich öffentlicher Straßen und Plätze.
Kulturell
bedingte Empfindungen
Es stellt sich daher die Frage, was als privat empfunden wird. Der
Begriff selbst leitet sich von dem negativen Ausdruck ‚beraubt‘ (lat. privatus)
ab,
was darauf hinweist, dass in vielen historischen Gesellschaften, die ja aus Familienverbünden
hervorgingen, die Öffentlichkeit der Normalfall war. Als privat gelten heute in
den meisten Kulturen z.B. bestimmte Regionen des menschlichen Körpers, Informationen
über den Gesundheitszustand, das Einkommen und das Vermögen. Bezüglich der
letzten beiden Bereiche gibt es bereits Unterschied innerhalb Europas. So soll man in Norwegen sehr offen sein.
Jarvis machte selbst eine interessante neue Erfahrung, als er sich entschlossen
hatte, in seinem Blog über eine Erkrankung (Prostrata-Krebs) zu berichten. Einige Kommentare hätten ihm echt geholfen. Im
Allgemeinen haben Kinder eine andere Vorstellung von Privatheit als Erwachsene.
Bei Erwachsenen nimmt die Angst zu, Fehler öffentlich zu gestehen. Auch die Bereitschaft
zum Risiko nimmt ab.
Auf den Umgang mit Computern bezogen betrachten die meisten Leute folgende
Informationen als nicht öffentlich: Kreditkarten-Nummern, Paßwörter, Inhalte
ihrer eigenen E-Mails, den Browser-Verlauf, Playlists bei iTunes, Einkäufe bei
Amazon und dgl. Bei einigen andern Tätigkeiten und Informationen sind wir
etwas unsicher. Dazu gehören die vielen so genannten Freunde, die uns in
sozialen Netzen angeboten oder vermittelt werden. Hier kommt es sehr auf die
bisherige Erfahrung an.
Es ist sehr unangenehm, dass der Begriff Privatsphäre inhaltlich nur schwer
zu definieren ist. Es gibt keine statische Definition, die für einen längeren
Zeitraum oder für mehrere Situationen gelten kann. Es findet ein fortlaufender
Anpassungsprozess statt. Nur der einzelne Mensch möchte und kann nämlich bestimmen,
was für ihn öffentlich und was privat ist. Der Nutzer eines
Kommunikationsdienstes möchte selbst bestimmen können, was andere über ihn wissen.
Wird irgendwann ein Zustand erreicht, der befriedigend ist, oder an den wir uns
gewöhnt haben, kann neue Technik zur Bedrohung werden. So war es mit
photographischen Kameras und elektromagnetischen Tonaufnahmegeräten. Mit dem Aufkommen
des Internets sahen viele das 'Ende der Privatsphäre' (so der Titel eines 2007
erschienen Buches von Peter Schaar, dem Bundesbeauftragten für den Datenschutz) herbeikommen.
Jarvis meint, dass es bei der Privatsphäre im Grunde um eine Ethik
des Wissens ginge, bei der Öffentlichkeit um eine Ethik des Teilens. ‚Was
andere nicht wissen dürfen, sollte man nicht tun‘ (so lautet ein berühmter
Ausspruch von Eric Schmidt, dem ehemaligen Geschäftsführer von Google). Das Verstecken in der Anonymität ist eine beliebte Form des Privatseins.
Anders als bei der Privatsphäre lässt sich der Begriff der
Öffentlichkeit leichter konkretisieren. Hier hilft das Bild unterschiedlich
großer Kreise, die sich überlappen. Einen Kreis bildet die Familie, einen weiteren
die Verwandtschaft, wieder einen anderen die Freunde und dann die
Arbeitskollegen, die Schüler und Leser. Das sind die individuellen
Öffentlichkeiten. Weiter außen ist dann die generelle Öffentlichkeit, über die
die öffentlichen Medien berichten.
Juristische
und soziologische Sicht
Der Begriff der Privatsphäre ist
juristisch zwar aus andern Grundrechten ableitbar, aber als solcher ist er nicht
direkt definiert. Das gilt sowohl für die deutsche Verfassung, als auch für
andere Länder. Ein Arbeitskreis der
Gesellschaft für Informatik (GI), der
sich mit der NSA-Affäre befasste, hat kürzlich darauf hingewiesen, dass erst
das Bundesverfassungsgericht (BVG) spezifische Grundrechte auf diesem Gebiet konkretisiert
habe.
Für den Schutz des Persönlichkeitsrechts
unterscheidet [das BVG] Intimsphäre, Privatsphäre und Öffentlichkeitssphäre und
gewährleistet einen nach betroffener Sphäre einen unterschiedlichen Schutz
gegen das Eindringen der Öffentlichkeit…In den USA wird kein Grundrecht auf informationelle
Selbstbestimmung anerkannt, sondern nur ein „Right to be left alone“.
Das hier erwähnte Recht, in Ruhe gelassen zu werden oder das Recht
auf Einsamkeit, ist anders motiviert und definiert als der deutsche Begriff der
‚informationellen Selbstbestimmung‘. In der Scobel-Sendung bei 3Sat
vom 7.11.2013 klangen einige Aspekte an, die das Bild vervollständigen. Mit dem
Wunsch nach Transparenz verbinde sich ein Traum. Es sei der Traum, dass alles
besser wird, wenn alle alles wissen. Die Privatsphäre sterbe immer aufs Neue.
Vor allem der in Berlin lehrende Koreaner Byung Chul Han fand ein paar kluge
Worte: Transparenz sei mit Pornografie vergleichbar. Sie lasse weder
Innerlichkeit, noch Scham oder Distanz zu. Es käme einem ‚entinnerlichen‘
entgegen. Wer nicht alles enthülle (bildlich: die Hosen runter lasse), der
stehe draußen. Totale Transparenz führe zur vollständigen Überwachung, zu
Terror. Nur eine Privatsphäre schaffe Freiheit.
Meine
Erklärungsversuche
Vertraulichkeit und Transparenz, Öffentlichkeit und Privatsphäre
sind Begriffspaare, deren Elemente einander bedingen. Es gibt das eine nicht,
ohne das andere. Sie sind daher keine Gegensätze, sondern nur Gegenpole. Wie in
der folgenden Grafik dargestellt, sind sie Endpunkte einer Skala.
Für jede Situation und für jede Person oder Gruppe sind andere
Punkte auf den Skalen optimal. Entscheidend ist, dass der Einzelne diese Punkte
wählen darf und wählen muss. Diese von außen vorzugeben, ist bereits ein
Eingriff in die Rechte des Individuums oder einer Gruppe.
Die derzeitige Diskussion kann dem Individuum und Gruppen dabei
helfen, erneut das richtige Gleichgewicht zu finden. Lange Zeit hatten die
Menschen vor allem Angst vor Eingriffen der Wirtschaft. Die Ereignisse um die NSA-Affäre haben
bewirkt, dass im Moment die größte Angst vor Eingriffen des Staates besteht. Große
Staaten sind immer noch mächtiger als große Wirtschaftsunternehmen. Vor allem
stehen ihnen außer finanziellen und personellen Ressourcen noch zwei weitere Hebel
zur Verfügung, welche die private Wirtschaft nicht hat, nämlich Gewaltanwendung (Polizei, Militär) und Gesetzgebung. Die angeschnittene
Diskussion entscheidet letztlich auch darüber, wie sich eine Gesellschaft definiert.
Am 16.11.2013 schrieb Hartmut Wedekind aus Darmstadt:
So „clean cut“ ist das nicht mit Vertraulichkeit und Öffentlichkeit. Schauen Sie mal auf die Datenbanksprache SQL und hier die umstrittene „grant option“. Zuerst bei MySql, dann bei Oracle.
Am 16.11.2013 schrieb Hartmut Wedekind aus Darmstadt:
So „clean cut“ ist das nicht mit Vertraulichkeit und Öffentlichkeit. Schauen Sie mal auf die Datenbanksprache SQL und hier die umstrittene „grant option“. Zuerst bei MySql, dann bei Oracle.
Nachbemerkung (BD): Es ist klar, dass 'im wahren Leben' und bei Datenbanksystemen Rechte oder Privilegien an Objekten sehr differenziert vergeben und widerrufen werden können. Ich hatte gehofft, für den Begriff 'Privatsphäre' eine allgemein akzeptierte fixe Bedeutung zu finden. Da suche ich weiter nach gedanklicher Hilfe.
Am 13.11.2013 schrieb Peter Hiemann aus Grasse:
AntwortenLöschenTransparenz institutioneller (vor allem politischer) Prozeduren ist notwendig, auch um Korruption zu vermeiden. Transparenz individueller Vorstellungen und Absichten unterliegt ausschliesslich individuellen Kriterien.
Bei dem Versuch den Begriff ‚Privatsphäre‘ zu erläutern, schwankte ich zwischen Sinn (Intension) und Bedeutung (Extension). Es ist relativ leicht den Sinn anzugeben. Bei der Bedeutung treten Schwierigkeiten auf. Meistens ist es umgekehrt. In diesem Falle kann ich nur die Merkmale beschreiben aber nicht die Menge der Objekte.
AntwortenLöschenIst das der Grund, warum unsere Verfassungsväter und -mütter den Begriff ausließen?