Seit ich im Ruhestand bin, habe ich geradezu ein Faible
dafür entwickelt, über die gesellschaftlichen Auswirkungen meiner fachlichen Tätigkeit
und die meiner Kollegen nachzudenken und zu schreiben. Dieser Tage las ich ein
Buch, das voll in diese Richtung geht. Es heißt ‚Arbeitsfrei‘
und stammt von Constanze Kurz und Frank Rieger. Beide Autoren sind die
derzeitigen Sprecher des Chaos Computer Clubs (CCC). Als regelmäßige Autoren der FAZ und häufige Gäste
in Fernseh-Talkshows sind sie beide der deutschen Öffentlichkeit bestens
bekannt. Ich kann das Buch nur wärmstens empfehlen. Es ist die kompetenteste
Behandlung der durch die Informatik berührten gesellschaftlichen Fragen, die
ich in den letzten 20 Jahren gelesen habe.
Im Titel erinnerte das Buch mich
an den Bestseller ‚Ende
der Arbeit‘ von Jeremy Rifkin aus dem Jahre 2005. Weder dieses Buch noch vergleichbare Veröffentlichungen werden erwähnt. Ich will im Folgenden nicht nur den
Inhalt des Buches grob wiedergeben, sondern auch eigene Gedanken zu dem Thema
einflechten. Diese Freiheit nehme ich mir als unabhängiger und unbezahlter Blogger.
Den Autoren gegenüber besitze ich den Vorteil, über 30 Jahre länger als sie in
der Informatik-Branche aktiv gewesen zu sein.
Trotz aller Voreingenommenheit, die jemand normalerweise empfindet,
wenn er vom CCC hört, überrascht das Buch durch eine erstaunlich positive
Einstellung der Technik gegenüber, und der Informatik im Besondern. Der
historische Begriff der Ludditen wird zwar erwähnt, selbst möchte man aber
nicht in ihre Nähe gerückt werden. Die Menschheit nutze ihre Macht und ihr Wissen,
um die Kraft des Menschen durch Maschinen zu ersetzen oder zu ergänzen. Früher
ging es dabei um die körperliche Kraft, inzwischen auch um die geistige. Die etablierten
Lebens-, Arbeits- und Denkweisen würden obsolet. Die damit zusammenhängenden
Umbrüche seien nicht immer schmerzlos und friedlich. Ich kann dem voll zustimmen.
Dass heute neben der Digitalisierung und Roboterisierung die
Vernetzung im Vordergrund steht, kann niemand bestreiten. Selbst Schulkinder verfügen
über Smartphones, d.h. Rechner mit eingebauten Telefonen, Kameras und Fernsehern.
Unsere Maschinen würden zu Kollegen, teils freundlich, teils konkurrierend, nicht
nur bei der körperlichen Arbeit, sondern auch beim Denken. Maschinelle
Intelligenz (man beachte die Wortwahl!) sei keine Science Fiction. Sie käme
kleinteilig daher. Sie könne allerdings unglaubliche Datenmengen nutzen. Ist
die Folge davon die große Massenarbeitslosigkeit, wie immer noch von einigen befürchtet? Zu
versuchen, auf diese Frage eine überlegte Antwort zu geben, ist das Ziel der
Autoren. ‚Wir wollen der Zukunft informiert ins Auge sehen,‘ heißt es.
Entdeckung der Gegenwart
Die ‚Entdeckungsreise‘, von der im Untertitel des Buches die
Rede ist, führt zunächst auf Bauerhöfe. Hier ist die Technologie weiter als man
gemeinhin denkt. Dank der opulenten Förderung sind viele Bauern zu Produzenten
von Bioenergie geworden. Manche betreiben vollautomatische Hühnerställe. Fielen
bei einem von ihnen der Computer ein paar Stunden aus, wären 45.000 Hühner tot.
Andere wiederum beziehen stündlich eine Präzisionswettervorhersage. Im
Gegensatz zu den Diensten in Radio und Fernsehen ist sie kostenpflichtig. Die Milch
und das Fleisch, das im Laden angeboten wird, stammen aus so genannten Agrarfabriken.
Hier bestimmen Melk- und Stallreinigungsroboter die Szene. Alle Kälber und Kühe
sind in einer zentralen bundesweiten Datenbank erfasst, letztere mit allen
aktuellen Leistungsdaten. Da ich die bäuerliche Situation aus eigener
Anschauung recht gut kenne, kann ich die Aussagen im großen Ganzen bestätigen.
Dabei kommt allerdings zu kurz, dass die hohen Investitionen viele Betriebe
schwer belasten. Es beschleunigt die schon länger stattfindende Konzentration.
Dies führt nicht nur zu einer veränderten Landschaft, sondern treibt viele
Familienbetriebe in den Ruin.
Fast ebenso eindrucksvoll ist die Beschreibung heutiger Mühlen-
oder Backbetriebe. Mühlen waren vor 200 Jahren vielerorts die Vorboten der
Mechanisierung. Heute liegen sie in der Nähe der Autobahn und verarbeiten
zwischen 1000 und 5000 Tonnen Getreide pro Tag. Dabei
gehen alle Körner einzeln an Kameras vorbei, um sicherzustellen, dass keine
Fremdkörper oder Krankheitserreger (Mutterkorn) darunter sind. Bäckereien
zeigen einen unterschiedlichen Automatisierungsgrad, je nach ihrer Größe.
Besonders im Kommen ist die Trennung von Teigerstellung und Backen. Außer der
Nahrungsmittelindustrie werden noch einige weitere Branchen beschrieben. Die Veränderung
der Druckindustrie habe ich selbst miterlebt. Vor
Raffinerien staunten wir Nicht-Experten schon immer über ein
unverständliches Gewirre von Leitungen. Die Transportlogistik und Lagerhaltung
hat in den letzten 20 Jahren große Fortschritte erzielt. Es sind nicht nur die automatisierten
Hochregallager und Gabelstapler-Roboter, die Schlagzeilen machten. Dass ein T-Shirt
aus Bangladesch zu Transportkosten von nur fünf Cent in ein deutsches
Textilgeschäft gelangt, ist nicht weniger beachtenswert.
Vorahnungen der Zukunft
Der zweite Teil des Buches befasst sich mit einigen
technischen Lösungen, die wir in der Zukunft erwarten können. Am Anfang wird
das Thema der selbstfahrenden Autos beleuchtet. Es wird überall auf der Welt
daran gearbeitet. Das primäre Ziel ist es, eine Lösung zu finden, die besser ist
als der Mensch. Dass der Straßenverkehr allein in Deutschland rund 5000 Tote
pro Jahr zu verantworten hat, davon 600 auf den Autobahnen, ist in meinen Augen
ein Skandal. Nicht eine Umerziehung des Menschen, sondern nur Technik kann das
durch Technik verursachte Problem lösen. Die von europäischen Autoherstellern
verfolgten Lösungen versuchen die ‚Freude am Fahren‘ nicht zu eliminieren. Die
Assistenz des Fahrers steht im Vordergrund. Spurhaltungssysteme werden bald zur
Pflicht für LKWs. Ein völlig anderer Ansatz wird von Google verfolgt. Dem im
Werbegeschäft erfolgreichen Unternehmen wird unterstellt, die im Auto
verbrachte Zeit für Werbung ausnutzen zu wollen. Nach Meinung dieses Autors
besteht die Herausforderung nicht darin, das Auto zu retten oder zu verbessern.
Es müssen bessere Lösungen für das Problem des Personen- oder des Güterverkehrs
gefunden werden.
Ein weiterer Komplex wird mit den Stichworten Telepräsenz
und Drohnen beschrieben. Die dahinter stehende Technik zielt auf Anwendungen in
der Chirurgie, im Haushalt (Staubsauger) und beim Militär. Die militärische
Anwendung reicht von der Bombenentschärfung bis zur offensiven Kriegführung
mittels Drohnen. Es wird die Frage aufgeworfen, ob es eher zum Krieg kommt,
wenn die zu erwartenden eigenen Verluste gering werden. Sehr interessant ist
die Frage, wie sich unsere Einstellung zu Robotern verändern wird, wenn die
Kosten pro Stück unter 500 Euro fallen und wenn sie vom Nutzer selbst programmiert
werden. Werden sie dann als nützliches Hilfsmittel akzeptiert und nicht mehr
als Bedrohung angesehen? Das System Kinect von Microsoft habe bereits die Roboterforschung
revolutioniert. Der Staubsauger Roomba von iRobot (von Rodney Brooks gegründet) hat nicht nur
Technikfans überzeugt. Ich wage zu behaupten, dass wir genau so überrascht sein
werden wie wir es im Falle von Smartphones und Tablets waren. Die meisten
Anwendungen für diese Geräteklasse haben sich erst ergeben, nachdem
leistungsfähige Produkte im Markt vorhanden waren.
Die Automatisierung geistiger Arbeit ist für viele ein
Widerspruch in sich. Statt sich diesem Problem in seiner Allgemeinheit zu
widmen, können Beispiele dem Verständnis auf die Sprünge helfen. Die Autoren
nehmen die Bewertung der Kreditwürdigkeit eines Bankkunden als Beispiel. Den
Kern des Verfahrens bilden Daten und Algorithmen. Ein Mensch macht ggf. Plausibilitätsprüfungen.
Im Tagesgeschäft vieler Firmen geht nichts mehr ohne die Software von SAP oder
Oracle. Auch Stimmerkennung und
Sprachauskunft spielen nicht nur in Demo-Projekten eine Rolle, sondern sind Teil
des Alltags. Das Wissen der Welt steht auf einem Handy zur Verfügung, nachdem es
einmal erfasst ist. Wem Google zu passiv ist, kann das System Alpha der Firma
Wolfram Fragen beantworten lassen.
Soziale und gesellschaftliche Aspekte
Sind Roboter einmal programmierbar durch Zeigen und
Vorspielen, dann sei die Spaltung der Arbeitswelt in Spezialisten und Ungelernte
hinfällig. Dann kann die Produktion von Massengütern wieder aus den
Billigländern zurückgeholt werden. Wenn nämlich die Lohnkosten gegen Null
tendieren, spielen niedrige Löhne keine Rolle mehr. Nur das verfügbare Kapital ist
entscheidend. In zunehmendem Maße ist das Ziel der Automatisierung jedoch nicht
die Kostensenkung, sondern die qualitative Verbesserung der Ergebnisse.
Moderne Software steuert die individualisierte
Massenfertigung. Wer erkannt hat, dass die bessere Software für seinen
Betriebserfolg entscheidend ist, wird kein Outsourcing mehr betreiben. Maschinen
sind Machtverstärker. Sie können die ökonomischen Verhältnisse verändern oder zementieren.
Autonom handelnde Systeme können zur Gefahr werden. Der Mensch als Konstrukteur
oder Befehlsgeber bleibt jedoch verantwortlich.
Jede Technologiewelle zwinge zu neuem Nachdenken.
Insbesondere muss die Frage beantwortet werden, wem die Automatisierungsdividende
zu Gute kommt. Sie sollte nicht nur privaten Kapitalgebern nützen, sondern der
Allgemeinheit. Die Autoren legen sich nicht fest, ob dies durch die
Versteuerung privater Gewinne zu erfolgen hat, oder durch die Verstaatlichung
der Betriebe. Es sei deshalb wichtig, dass die Allgemeinheit daran beteiligt
wird, weil sie (in der Regel) für die Opfer aufkommen muss. Fast jede neue
Technik verändert die Arbeitsverhältnisse. Sie macht hochgeschätzte
Spezialisten zu Lehrjungen, anpackende Kraftmenschen zu unnützen Kostgängern. Sollte
der fahrerlose Straßenverkehr sehr bald kommen, würden allein in Deutschland
70.000 LKW-Fahrer arbeitslos. Wer das Problem so darstellt, verkennt, dass ein
derartiger Wandel nicht schlagartig erfolgt.
Jede der im Buch beschriebenen Branchen hat gerade einen enormen Automatisierungsschub erfahren. Nach klassischer Theorie müsse Massenarbeitslosigkeit herrschen. Das Gegenteil ist der Fall. Jede punktuelle oder regionale Arbeitslosigkeit wird von einen durch die Altersstruktur bedingten Fachkräftemangel überlagert. Die Zahl abhängig Beschäftiger hat sich vermutlich gegenüber der Zahl der Selbständigen verändert. Darauf wird jedoch nicht eingegangen.
Jede der im Buch beschriebenen Branchen hat gerade einen enormen Automatisierungsschub erfahren. Nach klassischer Theorie müsse Massenarbeitslosigkeit herrschen. Das Gegenteil ist der Fall. Jede punktuelle oder regionale Arbeitslosigkeit wird von einen durch die Altersstruktur bedingten Fachkräftemangel überlagert. Die Zahl abhängig Beschäftiger hat sich vermutlich gegenüber der Zahl der Selbständigen verändert. Darauf wird jedoch nicht eingegangen.
Wenig konkret sind Aussagen folgender Form: „Wir müssen
dafür sorgen, dass die Menschen gewinnen und nicht die Maschinen.“ Es sei falsch gegen Maschinen anzurennen. Ein solches Rennen ist
nicht zu gewinnen. Der Autor Stanislaus Lem gab bereits die einzig richtige
Antwort: „Jede Arbeit, die Maschinen machen können, sollen sie tun.“ Die echten
Gewinner in der derzeitigen Situation seien professionelle Software-Entwickler.
Die Arbeitsverhältnisse von vielen modischen Tätigkeiten (z.B. Web Designer)
seien eher prekär.
Das Ideal, das den Autoren vorschwebt, ist eine ‚bessere,
gerechtere und lebenswerte Gesellschaft, in der Macht und Geld nicht weiter in
den Händen weniger konzentriert werden‘. Soviel Sozialismus kann sogar ich
verkraften.
Tagespolitische Fragen und mehr
Die aktuelle Diskussion um die Einführung eines Mindestlohns
würde die Automatisierung weiter antreiben. Ein Mindestlohn verschaffe nämlich allen
Automatisierungsprojekten eine klare Kalkulationsbasis.
Zu den deutschen Hochschulen wird kritisch bemerkt, dass sie
zu sehr auf Mittelmäßigkeit aus seien und keine Spitzenkräfte ausbilden würden.
Die Hochschullehrer selbst hätten keine Zeit, um gute Forschung zu betreiben,
da sie sich in einem Rattenrennen um Fördermittel befänden. Die industrielle Forschung
sei deshalb der Hochschulforschung oft um Jahre voraus. Mit Google und Co. könne
die öffentliche Forschung nun mal nicht mithalten. Weil gute Köpfe sich an die Industrie
‚verdingten‘, würde sehr viel Wissen privatisiert. Dass ich hier deutlich anderer
Ansicht bin, möchte ich nur erwähnen, aber nicht näher ausführen. Dass nur Produktivität von den Autoren als entscheidend für die
Software-Entwicklung erwähnt wird, deutet darauf hin, dass sie Software noch primär als reinen Kostenfaktor auffassen. Wird Software als Geschäft verstanden, ist die Rentabilität wichtiger als die Produktivität. Auch darüber habe ich anderswo geschrieben.
Am 7.11.2013 schrieb Peter Hiemann aus Grasse:
AntwortenLöschenFinanztransaktionen des 21. Jahrhunderts werden über globale Netzwerke und mittels Computerprogrammen abgewickelt (1000+ Transaktionen/Sekunde). Die Finanzindustrie bedient sich der digitalen Möglichkeiten, um mit unglaublich großen Kapitalbeträgen globale, oft auch spekulative Investitionsgeschäfte zu betreiben. Traditionelle Geschäftsbanken, deren Geschäftsmodell ausschließlich auf der Kreditversorgung mittelständischer Unternehmen basierte, können ohne Beteiligung an globalen Investitionsgeschäften mit Großbanken nicht konkurrieren. Der individuelle Service von „Kleinkunden“ an Bankschaltern wird auf ein Minimum an Personalaufwand heruntergefahren. Kleinkunden werden aufgefordert, Transaktionen über Internet abzuwickeln.
Mit Internet haben sich Geschäftsfelder verändert oder sind neue entstanden, z.B. Informationsservices, Konversationsservices, Internetwerbung, Online Handel, Internetkriminalität etc. Veränderte oder neue Geschäftsfelder bedingen veränderte oder neue Institutionen, die ihrerseits veränderte oder neue Verhaltensweisen (auch der Arbeitswelt) nach sich ziehen.
Ein spezielles globales Geschäftsfeld mit geschätzten 60 Milliarden Umsatz wird in gesellschaftlichen Analysen oft übersehen, obwohl dessen Einfluss auf menschliche Verhaltensweisen nicht mehr zu übersehen ist: Es handelt sich um die Industrie der Videospiele, die den Markt von Film und TV hinter sich gelassen hat. Die veränderten und neuen menschlichen Verhaltensweisen betreffen die „Flucht“ in virtuelle Welten.