Ein Besuch im Lindenmuseum
in Stuttgart am letzten Samstag veranlasst zu einigen Gedanken über einen sehr
interessanten Ausschnitt der Geschichte der Menschheit. Die nicht-europäischen
Kulturen haben mich schon seit meiner Jugend (beim Viehhüten) beschäftigt.
Viele von ihnen habe ich und meine Frau in späteren Jahren auf Reisen besucht,
sei es in Asien oder Amerika. Mit den Inkas klappte es leider nicht, dass wir ihre
Welt besuchten, dafür kamen sie zu uns nach Stuttgart. Das musste ich
ausnutzen. Einige Eindrücke aus der Inka-Ausstellung
will ich wiedergeben, erweitert um Gedanken zu heutigen ähnlichen Situationen
und Lösungen.
Besiedlung und Wanderung
Dass die ganze Besiedlung Amerikas über die Landbrücke der
Beringstraße erfolgte. wird kaum bestritten. Der Zeitpunkt des Vorstoßes aus
Sibirien ist weniger klar, ebenso die Dauer und Art der Ausbreitung nach Süden.
Jedenfalls stieß der Homo sapiens bis nach Feuerland vor. Was Charles Darwin um
1830 dort kennenlernte, war nicht allzu beeindruckend. In drei Gegenden waren
die Spanier im 16. Jahrhundert dagegen auf Hochkulturen gestoßen, bei den Azteken
in Zentral-Mexiko, den Maya in Guatemala und Yukatan und den Inkas in Peru.
© Wikipedia
Bei den Inkas
muss man sich immer wieder daran erinnern, dass mit ihrer Herrschaft nur eine
Zeitperiode gemeint ist, die unserem Mittelalter (13. bis 16. Jahrhundert)
entspricht. Vorgänger-Kulturen haben Namen wie Chimu, Moche und Nasza. Der Name Inka bedeutet Herrschaft.
Die Inkas seien Klimaflüchtlinge gewesen, hieß es. Sie wären
aus dem Hochland Boliviens, der Gegend um den Titicaca-See, nach Cusco herabgestiegen,
als ihre Heimat sie nicht mehr ernähren konnte. Andere Forscher vermuten auch
einen Aufstieg aus dem Amazonas-Becken. Darauf deuten gemeinsame mythologische
Vorstellungen. Die gefiederte Schlange, Quetzalcoatl bei den Azteken genannt,
taucht nicht nur bei den Mayas auf, sondern auch bei den Inkas. Vielleicht
trifft beides zu. Nur war die eine Wanderung früher als die andere.
Klima- oder Armutsflüchtlinge gab es immer wieder und
überall. Mal zogen Europäer über den Atlantik, heute drängen Asiaten und
Afrikaner über das Mittelmeer. Fast alle Menschen wanderten einmal.
Absicherung gegen Hungersnöte
Die besondere Geografie Südamerikas bewirkte, dass die
Lebensbedingungen sich von Ort zu Ort sehr unterschieden. Sehr früh entstand
ein reger Austausch von Landesprodukten. Es gab keine Währung, sondern nur
einen Tauschhandel. Wenn infolge von Katastrophen (Überschwemmungen,
Vulkanausbrüchen) das Saatgut verloren ging oder aufgezehrt wurde, kam es immer
wieder zu Hungersnöten. Die Inka benutzten ihre Macht, um systematisch gegen
Hungersnöte vorzubeugen. Sie legten einerseits Lager an, andererseits planten
sie den Anbau von Früchten, verteilt auf das ganze Staatsgebiet. Das ganze
gebirgige Land war durch Terrassen erschlossen. Ihre Pflege wurde zur staatlichen
Verpflichtung erhoben. Ihre Straßen verbanden den Wirtschaftsraum über Tausende
von Kilometern. Lama-Karawanen besorgten den Gütertransport. Gut trainierte
Läufer übermittelten Nachrichten. Die Haltbarkeit vieler Lebensmittel, vor
allem von Kartoffeln, wurde unter anderem durch Schockgefrierung erreicht.
Die Schaffung großer Wirtschaftsräume erfolgt auch heute mit
einem ähnlichen Ziel, aber weniger konsequent. Anstelle von Straßen stellen die
Fluglinien und Schiffsrouten heute die Verbindungen her. Ohne die Verwendung
ausgeklügelter Kühlsysteme ist kein Transport von Nahrungsmitteln mehr denkbar. Auch
unser System ist sehr künstlich und daher verletzlich. Zwischen den
Weltregionen werden Handelsabkommen langwierig ausgehandelt. Kriege finden in
einer etwas subtileren, aber nicht weniger effizienten Form statt als früher.
Die neueste Form heißt Cyber-Krieg.
Kultur ohne Schrift und Rad
Gegenüber andern hochentwickelten Wirtschaftsräumen kam man
ohne die Erfindung der Schrift und des Rades aus. Was die Frage einer Schrift
anbetrifft, ist die Forschungslage noch unklar. Offensichtlich hatten die vielen
Farben und Webmuster eine Aufgabe. Wir können sie noch nicht interpretieren.
© Lindenmuseum
Dass es nicht zur Erfindung des Rades kam, hat zwei Gründe.
Das Gelände, in dem die Inkas ihren wirtschaftlichen Schwerpunkt hatten, weist
sehr große Höhenunterschiede auf. Der zweite Grund war, dass es keine Zugtiere
gab. Als Kleinkamele sind Lamas zwar sehr gut als Lasttiere verwendbar, nicht
jedoch als Zugtiere.
Bevölkerungspolitik im Dienste der Wirtschaft
Um die Produktion der notwendigen Güter sicherzustellen,
fanden Zwangsumsiedlungen ganzer Bevölkerungsgruppen statt. Dabei wurden keine
Rücksichten auf ethnische oder sprachliche Eigenheiten genommen. Wo es an Mais
fehlte, wurden Maisbauern angesiedelt. Wo Terrassen benötigt wurden, wurden
Experten für Terrassenbau hin beordert.
Das einer Währung am nächsten kommende Wirtschaftsgut waren
Textilien. Das Angebot an fremde Staaten, sich dem Wirtschaftsraum der Inka anzuschließen,
wurde mit Geschenken schöner und wertvoller Textilien begleitet.
Die Abhängigkeit der Anden-Westseite vom Schneewasser der
Berge führte zur besonderen Verehrung von Berg-Gottheiten. Außer Naturalien
wurde diesen Göttern auch Tieropfer, ja sogar Menschenopfer gebracht. So legten
vor wenigen Jahren die infolge der Erderwärmung zurückweichenden Gletscher die
Mumien kleiner Kinder frei. Sie waren im berauschten Zustand ausgesetzt worden und
anschließend erfroren. Besser erging es den jungen Frauen, die in
klosterähnlichen Konventen eine sorgfältige Ausbildung in fortgeschrittener
Haushaltstechnik erfuhren. Sie ergaben gleichzeitig ein Reservoir für politisch
motivierte Heiraten.
Die Ausbildung des Fachkräftenachwuchses ist auch heute ein
primäres Anliegen des Staates. Die Ausbildung für sakrale Tätigkeiten und
Tätigkeiten in der Familie hatte auch bei uns noch bis vor kurzem einen hohen
Stellenwert.
Quipus und die Informationstheorie
Der Unterstützung der ökonomischen Planung wie der
Verteilung diente ein ausgeklügeltes Buchhaltungssystem. Es war eine
Buchhaltung ohne Schrift, nur mit Zahlen. Nichts ist davon übrig geblieben außer
etwa 800 Knotenschnüre, Quipus genannt. Fast die Hälfte (289) davon liegt in
einem einzigen Museum, dem Museum für Völkerkunde in Berlin-Dahlem.
© Lindenmuseum
Das abgebildete Exemplar enthält das Vielfache des Informationsgehalts
einer Lochkarte. Jede senkrechte Schnur entspricht einer Dezimalzahl, wobei in
der Regel bis zu vier Dezimalstellen vorkommen können, also ein Wert zwischen 0 und
9999. Diese Quipu hat etwa 90 Schnüre, d.h. sie enthält etwa 90 Zahlenwerte. Diese
sind in etwa 20 Gruppen zusammengefasst. Soweit ist alles klar. Genau wie bei
einer Lochkarte, die wir irgendwo in einer Schublade finden, wissen wir nicht
was die Zahlen bedeuten. Es kann eine Bevölkerungsstatistik für einen Bezirk
sein, verbunden mit Nahrungsmittelvorräten und dem Steueraufkommen. Es sind
bestimmt keine Lottozahlen oder Sudokas. Wir würden eine Beschreibung benötigen
oder ein Programm, das die Daten verarbeiten kann. In den Anden gab es speziell
ausgebildete Quipu-Ersteller und Quipu-Leser. Ihr Wissen steht uns nicht mehr
zur Verfügung.
Das gleiche Schicksal droht zum Beispiel unseren
Lochkartenbeständen, d.h. es ist ihnen größtenteils bereits widerfahren. Das
Problem der partiellen Codierung von Informationen haben wir uns in den Jahrzehnten seit Einführung
der Lochkartentechnik in riesigem Umfange geschaffen. Der Wechsel von
Lochkarten zu Magnetbändern und Magnetplatten hat dieses Problem nicht
vereinfacht, sondern verschlimmert. Informatiker sind sich dieses Problems kaum
bewusst. Der Grund dafür liegt nicht zuletzt in der Fokussierung auf einen etwas
seltsamen Informationsbegriff. Weder Shannon noch Chaitin (mit dem
algorithmischen Informations-Begriff) sind für dieses Problem sensibel. Sie
trugen mit dazu bei, dass Generationen von Informatikern ebenfalls zur
Nicht-Sensibilität erzogen wurden. Die theoretische Klarheit und die mathematische
Reinheit ihrer Informationsbegriffe verdanken diese Ansätze bekanntlich der
Tatsache, dass die Bedeutung wegabstrahiert wurde. Erst in neueren Systemen
kommt Typinformation oft explizit vor. Manchmal wird sogar versucht, auch die
Semantik zu kodieren.
Gesellschaftsstruktur und Arbeitsteilung
Die Gesellschaft zur Zeit der Inka hatte eine klare
Struktur. An der Spitze stand der Adel, also die Nachfahren der Einwanderer. Am
unteren Ende war das aus unterschiedlichen ethnischen Gruppen bestehende Volk.
Dazwischen war das Heer der Staatsdiener, nämlich Soldaten, Beamte und Priester. Die
Erträge des Landes wurden nach einem einfachen Schlüssel aufgeteilt. Ein Drittel
ging an die Götter, ein weiteres Drittel an den Staat, das restliche Drittel
verblieb den Erzeugerfamilien. Außer Abgaben gab es eine Verpflichtung zum
Frondienst für den Staat. Für die Zufriedenstellung der Götter, also die
Organisation religiöser Riten, war der Adel zuständig. Das beinhaltete auch die
Sammlung astronomischen Wissens, die Festlegung des Kalenders und die Festsetzung
von Festzyklen.
Die Entwicklung gesellschaftlicher Strukturen führte auf der
ganzen Welt zu vielfältigen Formen. Im Moment finden überall Änderungen statt,
wobei man deutlich unterscheiden kann zwischen den einzelnen Ländern. Nicht
überall gehören starre Strukturen der Vergangenheit an.
Untergang einer Kultur
Für jede Menschengruppe, die Jahrtausende in Isolation
lebte, ist das Auftauchen unbekannter fremder Menschen ein Schock. Bei den Inkas
herrschte die Vorstellung, dass die Ahnen nicht tot waren, sondern sich in eine
andere Welt (oder Weltregion) verabschiedet hatten. Viracocha, der Urvater der
Inka-Dynastie, soll übers Meer, also den Pazifik, verschwunden sein. Als
Pizarros Schiffe 1532 an der Küste erschienen, glaubte man deshalb Viracocha
käme zurück.
© Lindenmuseum
Während seiner zweijährigen Gefangenschaft in Cajamarca musste
Atahualpa einsehen, dass diese Vorstellung trog. Er wurde dann zum Zerstörer
der eigenen, indigenen Kultur. Um sein Leben zu retten, ließ er alle
Goldschätze aus dem ganzen Lande abtransportieren. Sie wurden größtenteils von
den Spaniern eingeschmolzen. Nur wenige versteckte Überreste blieben erhalten.
Dass die Großen der Welt oft ganze Länder und Kulturen ins
Verderben mitreißen oder zumindest damit drohen, ist auch uns bekannt. Hitler
war einer von ihnen, aber Gaddafi, Saddam Hussein und Assad sind noch viel frischer
in Erinnerung.
Verdankung
Der Kuratorin der Ausstellung, Doris Kurella, danke ich
nicht nur dafür, dass sie die Inkas nach Stuttgart gebracht hat. Sie gab auch
eine sehr gute Führung zu den Exponaten. Ich danke auch zwei ungenannten Helfern
aus der Familie, die den Besuch möglich machten.
Vielen Dank für die lesenswerte Zusammenschau der Inka
Kultur und danke auch für die Erinnerung an diese wegweisende Ausstellung im
Lindenmuseum. Ich war vor zwei Jahren mit meiner Frau unterwegs in Chile und
Argentinien - immer entlang der Andenkette von Nord nach Süd bis Patagonien. Im
Nordwesten Argentiniens befinden sich schöne Kolonialstädte, die bei uns kaum
bekannt sind. Wir hatten viel Zeit, um herumzustöbern. In Salta sind wir auch
auf Spuren der Inkakultur gestoßen. Der kleine Bericht erinnert an die im Beitrag erwähnten Kinderopfer.
Am 14.1.2014 schrieb Gerhard Schimpf aus Pforzheim:
Am 13.1.2014 schrieb Marcus Land aus Tübingen:
AntwortenLöschenDie Tatsache, dass Du einen Blog über die Inkas schreibst, impliziert ja schon, dass Dir der Ausflug gefallen hat. Das freut mich. Schade dass ich nicht dabei sein konnte. Aber dank Deines Blogs hat es mich kurzzeitig nach Südamerika verschlagen.