Montag, 13. Januar 2014

Denkwürdiges aus dem Inkareich

Ein Besuch im Lindenmuseum in Stuttgart am letzten Samstag veranlasst zu einigen Gedanken über einen sehr interessanten Ausschnitt der Geschichte der Menschheit. Die nicht-europäischen Kulturen haben mich schon seit meiner Jugend (beim Viehhüten) beschäftigt. Viele von ihnen habe ich und meine Frau in späteren Jahren auf Reisen besucht, sei es in Asien oder Amerika. Mit den Inkas klappte es leider nicht, dass wir ihre Welt besuchten, dafür kamen sie zu uns nach Stuttgart. Das musste ich ausnutzen. Einige Eindrücke aus der Inka-Ausstellung will ich wiedergeben, erweitert um Gedanken zu heutigen ähnlichen Situationen und Lösungen.

Besiedlung und Wanderung

Dass die ganze Besiedlung Amerikas über die Landbrücke der Beringstraße erfolgte. wird kaum bestritten. Der Zeitpunkt des Vorstoßes aus Sibirien ist weniger klar, ebenso die Dauer und Art der Ausbreitung nach Süden. Jedenfalls stieß der Homo sapiens bis nach Feuerland vor. Was Charles Darwin um 1830 dort kennenlernte, war nicht allzu beeindruckend. In drei Gegenden waren die Spanier im 16. Jahrhundert dagegen auf Hochkulturen gestoßen, bei den Azteken in Zentral-Mexiko, den Maya in Guatemala und Yukatan und den Inkas in Peru.



 © Wikipedia

Bei den Inkas muss man sich immer wieder daran erinnern, dass mit ihrer Herrschaft nur eine Zeitperiode gemeint ist, die unserem Mittelalter (13. bis 16. Jahrhundert) entspricht. Vorgänger-Kulturen haben Namen wie Chimu, Moche und Nasza. Der Name Inka bedeutet Herrschaft.

Die Inkas seien Klimaflüchtlinge gewesen, hieß es. Sie wären aus dem Hochland Boliviens, der Gegend um den Titicaca-See, nach Cusco herabgestiegen, als ihre Heimat sie nicht mehr ernähren konnte. Andere Forscher vermuten auch einen Aufstieg aus dem Amazonas-Becken. Darauf deuten gemeinsame mythologische Vorstellungen. Die gefiederte Schlange, Quetzalcoatl bei den Azteken genannt, taucht nicht nur bei den Mayas auf, sondern auch bei den Inkas. Vielleicht trifft beides zu. Nur war die eine Wanderung früher als die andere.

Klima- oder Armutsflüchtlinge gab es immer wieder und überall. Mal zogen Europäer über den Atlantik, heute drängen Asiaten und Afrikaner über das Mittelmeer. Fast alle Menschen wanderten einmal.

Absicherung gegen Hungersnöte

Die besondere Geografie Südamerikas bewirkte, dass die Lebensbedingungen sich von Ort zu Ort sehr unterschieden. Sehr früh entstand ein reger Austausch von Landesprodukten. Es gab keine Währung, sondern nur einen Tauschhandel. Wenn infolge von Katastrophen (Überschwemmungen, Vulkanausbrüchen) das Saatgut verloren ging oder aufgezehrt wurde, kam es immer wieder zu Hungersnöten. Die Inka benutzten ihre Macht, um systematisch gegen Hungersnöte vorzubeugen. Sie legten einerseits Lager an, andererseits planten sie den Anbau von Früchten, verteilt auf das ganze Staatsgebiet. Das ganze gebirgige Land war durch Terrassen erschlossen. Ihre Pflege wurde zur staatlichen Verpflichtung erhoben. Ihre Straßen verbanden den Wirtschaftsraum über Tausende von Kilometern. Lama-Karawanen besorgten den Gütertransport. Gut trainierte Läufer übermittelten Nachrichten. Die Haltbarkeit vieler Lebensmittel, vor allem von Kartoffeln, wurde unter anderem durch Schockgefrierung erreicht.

Die Schaffung großer Wirtschaftsräume erfolgt auch heute mit einem ähnlichen Ziel, aber weniger konsequent. Anstelle von Straßen stellen die Fluglinien und Schiffsrouten heute die Verbindungen her. Ohne die Verwendung ausgeklügelter Kühlsysteme ist kein Transport von Nahrungsmitteln mehr denkbar. Auch unser System ist sehr künstlich und daher verletzlich. Zwischen den Weltregionen werden Handelsabkommen langwierig ausgehandelt. Kriege finden in einer etwas subtileren, aber nicht weniger effizienten Form statt als früher. Die neueste Form heißt Cyber-Krieg.

Kultur ohne Schrift und Rad

Gegenüber andern hochentwickelten Wirtschaftsräumen kam man ohne die Erfindung der Schrift und des Rades aus. Was die Frage einer Schrift anbetrifft, ist die Forschungslage noch unklar. Offensichtlich hatten die vielen Farben und Webmuster eine Aufgabe. Wir können sie noch nicht interpretieren.


© Lindenmuseum

Dass es nicht zur Erfindung des Rades kam, hat zwei Gründe. Das Gelände, in dem die Inkas ihren wirtschaftlichen Schwerpunkt hatten, weist sehr große Höhenunterschiede auf. Der zweite Grund war, dass es keine Zugtiere gab. Als Kleinkamele sind Lamas zwar sehr gut als Lasttiere verwendbar, nicht jedoch als Zugtiere.

Bevölkerungspolitik im Dienste der Wirtschaft

Um die Produktion der notwendigen Güter sicherzustellen, fanden Zwangsumsiedlungen ganzer Bevölkerungsgruppen statt. Dabei wurden keine Rücksichten auf ethnische oder sprachliche Eigenheiten genommen. Wo es an Mais fehlte, wurden Maisbauern angesiedelt. Wo Terrassen benötigt wurden, wurden Experten für Terrassenbau hin beordert.

Das einer Währung am nächsten kommende Wirtschaftsgut waren Textilien. Das Angebot an fremde Staaten, sich dem Wirtschaftsraum der Inka anzuschließen, wurde mit Geschenken schöner und wertvoller Textilien begleitet.

Die Abhängigkeit der Anden-Westseite vom Schneewasser der Berge führte zur besonderen Verehrung von Berg-Gottheiten. Außer Naturalien wurde diesen Göttern auch Tieropfer, ja sogar Menschenopfer gebracht. So legten vor wenigen Jahren die infolge der Erderwärmung zurückweichenden Gletscher die Mumien kleiner Kinder frei. Sie waren im berauschten Zustand ausgesetzt worden und anschließend erfroren. Besser erging es den jungen Frauen, die in klosterähnlichen Konventen eine sorgfältige Ausbildung in fortgeschrittener Haushaltstechnik erfuhren. Sie ergaben gleichzeitig ein Reservoir für politisch motivierte Heiraten.

Die Ausbildung des Fachkräftenachwuchses ist auch heute ein primäres Anliegen des Staates. Die Ausbildung für sakrale Tätigkeiten und Tätigkeiten in der Familie hatte auch bei uns noch bis vor kurzem einen hohen Stellenwert.

Quipus und die Informationstheorie

Der Unterstützung der ökonomischen Planung wie der Verteilung diente ein ausgeklügeltes Buchhaltungssystem. Es war eine Buchhaltung ohne Schrift, nur mit Zahlen. Nichts ist davon übrig geblieben außer etwa 800 Knotenschnüre, Quipus genannt. Fast die Hälfte (289) davon liegt in einem einzigen Museum, dem Museum für Völkerkunde in Berlin-Dahlem.


© Lindenmuseum

Das abgebildete Exemplar enthält das Vielfache des Informationsgehalts einer Lochkarte. Jede senkrechte Schnur entspricht einer Dezimalzahl, wobei in der Regel bis zu vier Dezimalstellen vorkommen können, also ein Wert zwischen 0 und 9999. Diese Quipu hat etwa 90 Schnüre, d.h. sie enthält etwa 90 Zahlenwerte. Diese sind in etwa 20 Gruppen zusammengefasst. Soweit ist alles klar. Genau wie bei einer Lochkarte, die wir irgendwo in einer Schublade finden, wissen wir nicht was die Zahlen bedeuten. Es kann eine Bevölkerungsstatistik für einen Bezirk sein, verbunden mit Nahrungsmittelvorräten und dem Steueraufkommen. Es sind bestimmt keine Lottozahlen oder Sudokas. Wir würden eine Beschreibung benötigen oder ein Programm, das die Daten verarbeiten kann. In den Anden gab es speziell ausgebildete Quipu-Ersteller und Quipu-Leser. Ihr Wissen steht uns nicht mehr zur Verfügung.

Das gleiche Schicksal droht zum Beispiel unseren Lochkartenbeständen, d.h. es ist ihnen größtenteils bereits widerfahren. Das Problem der partiellen Codierung von Informationen haben wir uns in den Jahrzehnten seit Einführung der Lochkartentechnik in riesigem Umfange geschaffen. Der Wechsel von Lochkarten zu Magnetbändern und Magnetplatten hat dieses Problem nicht vereinfacht, sondern verschlimmert. Informatiker sind sich dieses Problems kaum bewusst. Der Grund dafür liegt nicht zuletzt in der Fokussierung auf einen etwas seltsamen Informationsbegriff. Weder Shannon noch Chaitin (mit dem algorithmischen Informations-Begriff) sind für dieses Problem sensibel. Sie trugen mit dazu bei, dass Generationen von Informatikern ebenfalls zur Nicht-Sensibilität erzogen wurden. Die theoretische Klarheit und die mathematische Reinheit ihrer Informationsbegriffe verdanken diese Ansätze bekanntlich der Tatsache, dass die Bedeutung wegabstrahiert wurde. Erst in neueren Systemen kommt Typinformation oft explizit vor. Manchmal wird sogar versucht, auch die Semantik zu kodieren.

Gesellschaftsstruktur und Arbeitsteilung

Die Gesellschaft zur Zeit der Inka hatte eine klare Struktur. An der Spitze stand der Adel, also die Nachfahren der Einwanderer. Am unteren Ende war das aus unterschiedlichen ethnischen Gruppen bestehende Volk. Dazwischen war das Heer der Staatsdiener, nämlich Soldaten, Beamte und Priester. Die Erträge des Landes wurden nach einem einfachen Schlüssel aufgeteilt. Ein Drittel ging an die Götter, ein weiteres Drittel an den Staat, das restliche Drittel verblieb den Erzeugerfamilien. Außer Abgaben gab es eine Verpflichtung zum Frondienst für den Staat. Für die Zufriedenstellung der Götter, also die Organisation religiöser Riten, war der Adel zuständig. Das beinhaltete auch die Sammlung astronomischen Wissens, die Festlegung des Kalenders und die Festsetzung von Festzyklen.

Die Entwicklung gesellschaftlicher Strukturen führte auf der ganzen Welt zu vielfältigen Formen. Im Moment finden überall Änderungen statt, wobei man deutlich unterscheiden kann zwischen den einzelnen Ländern. Nicht überall gehören starre Strukturen der Vergangenheit an.

Untergang einer Kultur

Für jede Menschengruppe, die Jahrtausende in Isolation lebte, ist das Auftauchen unbekannter fremder Menschen ein Schock. Bei den Inkas herrschte die Vorstellung, dass die Ahnen nicht tot waren, sondern sich in eine andere Welt (oder Weltregion) verabschiedet hatten. Viracocha, der Urvater der Inka-Dynastie, soll übers Meer, also den Pazifik, verschwunden sein. Als Pizarros Schiffe 1532 an der Küste erschienen, glaubte man deshalb Viracocha käme zurück.



© Lindenmuseum

Während seiner zweijährigen Gefangenschaft in Cajamarca musste Atahualpa einsehen, dass diese Vorstellung trog. Er wurde dann zum Zerstörer der eigenen, indigenen Kultur. Um sein Leben zu retten, ließ er alle Goldschätze aus dem ganzen Lande abtransportieren. Sie wurden größtenteils von den Spaniern eingeschmolzen. Nur wenige versteckte Überreste blieben erhalten.

Dass die Großen der Welt oft ganze Länder und Kulturen ins Verderben mitreißen oder zumindest damit drohen, ist auch uns bekannt. Hitler war einer von ihnen, aber Gaddafi, Saddam Hussein und Assad sind noch viel frischer in Erinnerung.

Verdankung

Der Kuratorin der Ausstellung, Doris Kurella, danke ich nicht nur dafür, dass sie die Inkas nach Stuttgart gebracht hat. Sie gab auch eine sehr gute Führung zu den Exponaten. Ich danke auch zwei ungenannten Helfern aus der Familie, die den Besuch möglich machten.
 

Am 14.1.2014 schrieb Gerhard Schimpf aus Pforzheim:

Vielen Dank für die lesenswerte Zusammenschau der Inka Kultur und danke auch für die Erinnerung an diese wegweisende Ausstellung im Lindenmuseum. Ich war vor zwei Jahren mit meiner Frau unterwegs in Chile und Argentinien - immer entlang der Andenkette von Nord nach Süd bis Patagonien. Im Nordwesten Argentiniens befinden sich schöne Kolonialstädte, die bei uns kaum bekannt sind. Wir hatten viel Zeit, um herumzustöbern. In Salta sind wir auch auf Spuren der Inkakultur gestoßen. Der kleine Bericht erinnert an die im Beitrag erwähnten Kinderopfer.

1 Kommentar:

  1. Am 13.1.2014 schrieb Marcus Land aus Tübingen:

    Die Tatsache, dass Du einen Blog über die Inkas schreibst, impliziert ja schon, dass Dir der Ausflug gefallen hat. Das freut mich. Schade dass ich nicht dabei sein konnte. Aber dank Deines Blogs hat es mich kurzzeitig nach Südamerika verschlagen.

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