Dieses Mal befasse ich mich mit einem Buch, das mir über
Google+ empfohlen wurde. Dort fand ich eine Rezension
eines Lesers aus Furtwangen im Schwarzwald, die ich auszugsweise wiedergebe.
Unsere Welt ist voll von
abstrakten Ideen, ohne dass wir uns darüber bewusst sind. … Die Leistung des
Buches besteht darin, dem Leser wirklich klar zu machen, dass es sich nicht um
reale Dinge handelt, sondern um Konventionen, die in der Kultur derart tief
verankert sind, dass alle daran glauben. … Die Naturwissenschaften erlauben
aber weiße Flecken und genau dies ist das Erfolgsgeheimnis, um weiter zu kommen
… Kann das Buch jedem, der unkonventionell denkt, wärmstens empfehlen.
Ich habe die 528 Seiten in einer Woche gelesen. Ich werde den
Inhalt von hinten erzählen. Nur so versteht man nämlich das Buch. Der letzte
Satz heißt sinngemäß: Gibt es etwas Gefährlicheres als unzufriedene und
verantwortungslose Selfmade-Götter, die nicht wissen, was sie wollen? Ich konzentriere
mich im Folgenden darauf, diesen Satz mit den Gedanken des Autors zu erklären.
Zunächst zum Autor. Yuval Noah Harari (Jahrgang 1976) ist
Historiker an der Hebrew University in Jerusalem. Das Buch erschien 2011 auf
Hebräisch, wurde zuerst ins Englische übersetzt und erschien im September 2013
in Deutsch mit dem Titel Eine
kurze Geschichte der Menschheit. Der Titel klingt an Stephen Hawkings Kurze
Geschichte der Zeit an, die sich nur mit der physikalischen Weltgeschichte
befasst. Ganz bescheiden räumt der Autor ein, dass die Physik bereits etwa 13,5
Milliarden Jahre aufzuweisen hat, die Chemie etwa 13,2 Milliarden, die Biologie
etwa 3,8 Milliarden, die Menschheitsgeschichte jedoch nur 70.000 Jahre. Eine
ähnlich breite Darstellung von Geschichte gab Ian
Morris, dessen Buch ich im Juli 2011 besprach. Hararis Buch ist wesentlich
unterhaltsamer und wendet sich an eine breitere Leserschaft. Es verpackt eine
bittere Botschaft mit sehr viel Zuckerguss. Ich habe selten ein so spritziges Buch gelesen.
Wer sind diese Selfmade-Götter?
Das sind natürlich wir, die jüngsten Vertreter der Art Homo
Sapiens. Das Prädikat Sapiens (Lateinisch für weise) haben wir uns selbst
verliehen. Der Sapiens (so nennt ihn der Autor der Einfachheit halber) war
bisher durch physikalische, chemische und biologische Gesetzmäßigkeiten und
Möglichkeiten beschränkt. Im Moment ist er gerade dabei diese Fesseln
abzuwerfen. Er kann nicht nur Masse in Energie umwandeln, wie bei der Atombombe
geschehen, er kann auch neue Arten von Lebewesen schaffen. Zuerst betrieb er
nur die Veränderung der Gene durch Zuchtwahl. Anders als die Natur gab er fetten
und trägen Hühnern den Vorzug. Jetzt kann er die Tiere und Pflanzen direkt
verändern. Er macht selbst Design und erschafft (als Kunstwerk) ein fluoreszierendes
Kaninchen. Er kann Wesen schaffen, in denen einzelne Organe, etwa Augen oder
Ohren, Implantate bekommen, die ihre Wirkungsweise verändern oder verbessern.
Er kann Beschränkungen seines Gehirns bezüglich seiner
Speicherkapazität erweitern durch externe Speicher. Er versucht das Denken
nachzuahmen oder Geräte mit Gedanken zu steuern. Als erstes Lebewesen hat er –
soweit wir dies wissen ̶ seinen Fuß auf andere Himmelskörper gesetzt. Er
steht kurz davor zu verstehen, was es heißt, die Endlichkeit der Funktion seiner
lebenswichtigen Organe zu überwinden. Innerhalb einer Generation hat er seine
Lebensspanne um mehr als 10% gesteigert. Dass er alsbald (d.h. noch in diesem
Jahrhundert) den eigenen Tod ausschalten kann, ist vorstellbar.
Vermittels der Gentechnik versetzt sich der Sapiens in die
Rolle eines Gottes. Nach der Anwendung auf Pflanzen und Tiere folgt ihre
Anwendung auf den Menschen. Die bisherige Geschichte der Menschheit ist nicht
mehr als eine Vorgeschichte.
Hinterlassene Spur der Verwüstung
Im Laufe seiner 70.000 Jahre währenden Geschichte verbreitete
sich der Sapiens bekanntlich von Afrika aus über die ganze Erde. Seine erste
große Meerüberquerung – vergleichbar mir der Entdeckung Amerikas durch
Christoph Kolumbus – war die Besiedlung Australiens vor 45.000 Jahren. Sie
hatte den Effekt, dass alle dort lebenden großen Tiere (Megafauna) ausgelöscht
wurden. Dasselbe geschah in Sibirien mit den dort lebenden Landtieren (Mammut) sowie
nach Überqueren der Beringstraße vor 16.000 Jahren auf dem amerikanischen
Kontinent (Säbeltiger, Riesenfaultier).
Seinen Artgenossen erging es nicht besser. Bei der
Besiedlung Amerikas und Australiens überlebten etwa 10% der Ureinwohner. Die Kariben
und später die Tasmanier wurden völlig ausgelöscht. Cortez und Pizarro, die
jeweils mit einer kleinen Truppe ein großes Reich eroberten, benutzten dieselbe
Strategie. Sie gaben sich zuerst als Botschafter aus und nahmen anschließend
den jeweiligen Herrscher als Geisel, ehe sie das Volk dezimierten. Wie später
bei dem Thema Religion ausgeführt, waren auch die Mitglieder derselben
Volksgruppe nicht sicher vor einander.
Natürlich verdanken wir es modernen Vertretern des Sapiens,
dass wir Vergangenes überhaupt verstehen und es lesen können, sofern es eine
Schrift gab. Das gilt für Ägyptisch wie für Babylonisch, Sanskrit und
die Maya-Inschriften.
Verbreitete Unzufriedenheit und Ziellosigkeit
Sehr bedrückend ist der Befund, dass der Sapiens zwar über
Gefühle und Verstand verfügt, er aber nicht weiß, was er will. Er weiß nicht,
was Glück oder Zufriedenheit ist. Diese Begriffe kommen in der Geschichtsschreibung
nicht vor. Nichts belegt dieses Problem deutlicher als die Selbstmordrate. Da
die zitierten Zahlen mir etwas unwahrscheinlich vorkamen, habe ich Hararis
Quelle nachgeprüft. Es ist der Bericht der Weltgesundheitsorganisation (WHO) von 2004 (S.
124). Danach gab es im Jahre 2002 auf diesem Planeten 1,26 Mill. Tote bei
Verkehrsunfällen, 382k durch Ertrinken, 312k durch Feuer, 172k Kriegstote, 569k sonstige Gewaltopfer sowie 873k Selbstmorde. Die am Schluss genannte Zahl ist etwa 1,5% aller Toten
eines Jahres (57 Mill.).
Konflikte, bei denen ein Land das andere überfiel, um an
dessen Rohstoffe zu gelangen, scheinen weniger sinnvoll geworden zu sein. Nur
Saddam Husseins Überfall auf Kuweit, der 1990 zum zweiten Golfkrieg führte,
ging noch eindeutig in diese Richtung. Die Anzahl der bewaffneten Konflikte
überhaupt scheint jedoch unverändert zu sein. Für sie haben sich andere Gründe
gefunden.
Es sei eine Illusion zu versuchen,
dem Leben Einzelner oder dem aller Menschen einen Sinn zu geben. Die Erde
bestand nämlich bevor es Menschen gab und kann ohne Menschen weiterbestehen.
Vom Jäger- und Sammlerparadies zur bäuerlichen Idylle
Vieles von dem, was Harari sonst noch über die
Menschheitsgeschichte sagt, ist zwar nicht neu, wird aber sehr treffend und oft
überspitzt formuliert. Die längste Periode war die der Jäger und Sammler. Sie
formte die Gene des Sapiens. In der Überlieferung war es ein Paradies. Man
brauchte keine Uhr und keinen Kalender. Die Ernährung war sehr
abwechslungsreich. Nicht eingestehen wollen wir uns, dass Fleisch oft knapp
war. Der Sapiens pulte es oft als Mark aus Knochen, die Hyänen liegen ließen.
Das Feuer verlieh dem Sapiens eine große Macht. Er konnte bereits seine Umwelt
durch Brandrodungen verändern. Er konnte Dinge durch Kochen besser verdaulich
machen. Das verkürzte den Darm und ergab mehr Energie für das Gehirn.
In der bäuerlichen Periode, die vor etwa 9.000 Jahren
begann, hat sich zwar das Gehirn des Menschen verkleinert, aber die Kinderzahl
pro Frau schoss in die Höhe. Es kam zu einer ersten Bevölkerungsexplosion. Die
Weltbevölkerung wuchs von einer auf 10 Millionen. Während die Sammler sehr gesund
lebten, kam es bei Bauern bereits zu ansteckenden Krankheiten (Tuberkulose, Masern,
Pocken), die von Tieren übertragen wurden. Der Übergang zur Landwirtschaft
erfolgte (vermutlich) gleichzeitig an vielen Orten. Die Agrarpflanzen wie
Weizen, Reis und Kartoffeln ‚domestizierten‘ den Menschen (und nicht
umgekehrt).
Die Tiere, die der Mensch züchtete (Rinder, Ziegen, Hühner) hatten
fortan ein trauriges Schicksal. Anzunehmen, sie hätten keine Gefühle, sei
Unsinn. Sie vermehrten sich teilweise noch schneller als der Mensch. Es gibt
heute über eine Milliarde Rinder. Täglich werden mehrere Millionen Hühner
getötet. Der Kampf gegen Ameisen, Spinnen und Kakerlaken dauert unverändert an.
Der Mensch fing an, die Zukunft zu planen. Anstelle der kleinen Rudel (unter 30
Leuten) entstanden komplexe Gesellschaften und Staaten.
Warum Europa einmal modern und erfolgreich war
Um 1500 begann die dritte Periode der Menschheitsgeschichte.
Sie kann als die Periode der Wissenschaft angesehen werden und begann zuerst in
Europa. Die alten Kulturen (Ägypter, Perser, Chinesen) glaubten alles zu
wissen. Was sie nicht wussten, war irrelevant. Die Europäer akzeptierten weiße
Flecken auf der Landkarte und in der Wissenschaft. Ihr Eingeständnis des
Nicht-Wissens wies der Beobachtung eine zentrale Rolle zu. Die Europäer entwickelten
neue Fähigkeiten, die zu einer wissenschaftlichen Revolution führten. Aus
Beobachtungen entstand Wissen. Neues Wissen wurde für wichtiger gehalten als
alte Überlieferungen - zumindest von Einigen von ihnen.
Die Europäer verbanden ihren Vorsprung in den Wissenschaften
mit den wirtschaftlichen und politischen Bestrebungen von Kapitalismus und
Imperialismus. Sie eroberten andere Teile der Welt, nicht nur um zu besitzen,
sondern um etwas Neues zu entdecken. Die vormodernen Herrscher hatten Priester, Philosophen
und Dichter finanziert. Jetzt standen Kapitäne und Offiziere im Vordergrund,
mit Wissenschaftlern und Kapitalgebern im Rücken. Ein funktionierendes
Rechtssystem ermöglichte die Expansion der Wirtschaft auf der Basis von
Krediten. Es entstand ein allgemeiner Fortschrittsglaube, der sowohl von der
Wissenschaft wie von der Wirtschaft genährt wurde.
Was machen wir mit Neandertaler und Co.?
Die Art des Homo Sapiens hatte Vorgänger unter den Hominiden
(auch Menschenaffen genannt) und wird wo möglich auch Nachfolger haben. Inzwischen weiß
man, dass der Sapiens sich mit seinen Vorgängern vermischt hatte. So besitzen
westliche Menschen etwa 4% Gene, die vom Neandertaler stammen. Der Denisowa-
und der Java-Mensch haben sogar einen höheren Anteil hinterlassen.
Angeblich wird mit der Idee gespielt, (aus rein
wissenschaftlichen Gründen) den Neandertaler aus seinem Genom zu rekonstruieren.
Man könnte dann die Entwicklung unseres Gehirns besser studieren. Mit dieser
Diskussion wird die Frage aufgeworfen, für wen die Menschenrechte gelten. Die
gleiche Frage gilt für neue Wesen, die ganz allein durch die Technik geschaffen
werden (Stichwort Künstliches Leben). Es wäre anzunehmen, dass sie uns nicht nur
körperlich, sondern auch intellektuell überträfen. Das führt wiederrum zu der Frage,
was wollen wir werden oder was wollen wir wollen?
Über abstrakte Ordnungen und fiktive Geschichten
Harari widmet sehr viel Aufmerksamkeit einer auch von mir in
diesem Blog mehrfach aufgegriffenen Frage, nämlich der Rolle von Abstraktionen.
Für einen Geisteswissenschaftler wie Harari ist dies ein faszinierendes Thema,
für einen Ingenieur ist es ein Gräuel.
Wenn wir alle Vorgänger des Sapiens mit hinzurechnen, hätte
unsere Geschichte nicht vor 70.000 sondern vor 700.000 Jahren begonnen. Ab da
erfolgte die erste der vielen Revolutionen in der Geschichte der Biologie, die
so genannte kognitive Revolution. Es entstanden Lebewesen wie die Menschenaffen,
die über ein komplexes Gehirn verfügten. Wie alle Affen, so hatten auch die
Vormenschen ein großes Interesse an sozialer Information. Kein Lebewesen
klatscht so gerne und so viel. Es ist unsere Sprache, die es erlaubt, auch über
Dinge zu reden, die es gar nicht gibt (Legenden, Mythen, Götter). Einige abstrakte
Ordnungen sind uns auch heute noch sehr wichtig, z.B. Geld, Gesetze und
Organisationen. Diese Dinge existieren nicht real, sondern nur in den Köpfen
von Menschen. Sie sind soziale Konstruktionen oder Fiktionen.
Geld ist eine äußerst geniale Abstraktion. Es macht
Tauschgeschäfte möglich, ohne passende Tauschobjekte vor Ort haben zu müssen.
Harari nennt Geld den ‚Gipfel der Toleranz‘. Es gibt nichts, was Völker mehr
verbindet. Es schafft Vertrauen und setzt Vertrauen voraus. Für die 473
Billionen Dollar, die im Jahre 2006 die Wirtschaft der Welt ermöglichten, waren
nur 47 Billionen als Bargeld im Umlauf. Der Rest existiert nur in Form eines
Kredits auf einem Computer-Konto.
Eine weitere Meisterleistung ist die um 3000 vor Chr. von
den Sumerern erfundene (Keil-)Schrift.
Sie diente zunächst der Buchhaltung, gestattete es aber später auch
Heldentaten, Mythen und soziale Gefühle zu beschreiben. Das so beliebte
Geschichtenerzählen wurde zur Kulturleistung erklärt. Man nennt es Literatur. Gemeinsamkeiten
auf verschiedenen Gebieten, die zuerst durch eine herrschende Gruppe oder durch
die gemeinsame Sprache (oder ‚Rasse‘) begründet wurden, sonderten sich als spezielle
Kultur ab. Aus Rassismus wurde Kulturismus. Allmählich geht es jetzt in
Richtung einer einheitlichen Weltkultur und einer einzigen Menschheitsgeschichte,
eine Idee, die bei Ian Morris auch schon anklang. Es wäre an der Zeit, dass Juristen
einmal mit Biologen reden – lässt der Autor so ganz am Rande einfließen.
Vergleichende Religionslehre
Sehr provozierend klingt das, was Harari zum Thema Religion
zu sagen hat. Die Jäger und Sammler waren Animisten, die Bauern Theisten. Es
waren oft Zufälle, die den Ausschlag
gaben, dass eine bestimmte Religion zur Staats- oder Weltreligion wurde, andere
zur Sekte verkümmerte. Nicht alle Religionen sind universell und missionierend.
Außer dem Buddhismus haben alle Weltreligionen auch Gewalt angewandt.
Das Judentum sei immer ein regionaler Monotheismus gewesen.
Das Christentum wurde durch Paulus auf den Weg zur Weltreligion gebracht. Der
Monotheismus kann nicht das Böse in der Welt erklären. Das tun jedoch
dualistische Religionen wie die Anhänger des Zarathustra. Im Grunde gäbe es nur
Mischungen von Monotheismus, Dualismus und Animismus. Die modernen ‚Naturgesetz-Religionen‘
wie Liberalismus, Kapitalismus, Kommunismus und Nationalismus würden auch als Ideologien
bezeichnet.
Was ist Geschichte?
Das Studium der Geschichte kann uns (nur) lehren, welche
Möglichkeiten bestanden, die nicht ergriffen wurden. Historiker könnten
Geschichte nicht erklären. Sie können nicht sagen, warum ein bestimmter Weg
genommen wurde. Geschichte verläuft chaotisch. Sie wird durch Vorhersagen
beeinflusst. Sie hat nicht den Zweck, dem Menschen zu nutzen.
PS: Ein weiteres Buch dieses Autors besprach ich im Jahre 2017.
PS: Ein weiteres Buch dieses Autors besprach ich im Jahre 2017.
Ein Zitat aus dem Buch von Harari möchte ich nachtragen: „Nur eine Theorie, die neue Werkzeuge liefert, ist nützlich“. Ich bin sicher, das würde auch dem Ingenieur Plattner gefallen, vielleicht sogar besser als der von Hartmut Wedekind in der Rezension von Plattners Buch benutzte Spruch: „Forschung ist nur dann etwas wert, wenn sich mit ihr eine Geschichte erzählen lässt.“ Diese Auffassung von Theorie passt sehr gut zu den Geisteswissenschaften, zu denen sich Wedekind ja sehr stark hingezogen fühlt.
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