Gregor
von Rezzori (1914-1998) war ein Nachfahre einer sizilianischen Familie, die
zur Zeit der K.u.k.-Monarchie über Norditalien in österreichische Dienste
gelangt war. Er war mir als Autor vorwiegend satirischer Geschichten über das
einst österreichische Osteuropa schon seit meiner Jugend bekannt. Mit seinem
Namen verband ich das ‚Ein
Hermelin in Tschernopol‘ und die ‚Maghrebinischen
Geschichten‘. Zwischen den Jahren, also zwischen Weihnachten und Neujahr,
las ich seine Autobiografie von 1992. Sie trägt den Titel ‚Mir
auf der Spur‘. Zuerst dachte ich, dass dies zwar eine interessante Lektüre
war, aber nicht der Mühe wert, darüber zu reflektieren. Da ich mich noch nach
Tagen immer wieder mit dem Buch, also mit dem Schicksal des Autors beschäftige,
will ich doch einige Gedanken wiedergeben.
Rezzori ist altersmäßig zwischen meinem Vater und mir
einzuordnen. Er war zu jung, um den Ersten Weltkrieg zu erleben. Ihn traf aber
die Wucht der Nazijahre voll. Ich selbst war dafür etwas zu jung. Seine
Besonderheit war, dass er die Nazizeit zwar als Zeitzeuge erlebte, jedoch von
ihr im Grunde verschont blieb. Das lag an seiner Herkunft und seinem
Lebensweg.
Herkunft und Leben in Österreich und Rumänien
Rezzoris Vater war österreichischer Beamter in Tschernowitz (oder
Czernowitz), damals die Verwaltungshauptstadt der Bukowina. Dieser Name für eine
Landschaft östlich der Karpaten wäre heute fast vergessen. Durch von Rezzori
lebt sie weiter. Sie grenzte im Norden an Galizien (heutiger Bezirk Lemberg)
und im Süden an Siebenbürgen. Bukowina heißt Buchenland, nach den großen
Buchenwäldern, die seine Ebenen bedeckten. Es war die Heimat eines Gemischs aus
Polen, Rumänen, Ukrainern und Juden. Das Gebiet kam 1919 an Rumänien, ab 1940
zur Ukraine.
Da seine Eltern sich früh trennten, wuchs er im Haushalt eines protestantischen Pfarrers in Siebenbürgen (Kronstadt) auf. Er besuchte danach ein Gymnasium in der Steiermark. Da ein Praktikum in einer Manganerzgrube ihm das Gefühl gab, in der Suche nach Bodenschätzen eine nützliche und reizvolle Tätigkeit zu finden, begann er ein Studium der Bergbaukunde (in Leoben). Hier lernte er zwar das Leben in einer schlagenden Studentenverbindung kennen, das Studium jedoch überforderte ihn. Wie bei vielen anderen Ingenieurstudenten, so verleidete die Technische Mechanik auch ihm den Spaß am Studium. Er ging nach Wien und wollte Architektur studieren. Da seine Schwester schwer erkrankte, wechselte er jedoch zur Medizin. Er unterbrach auch dieses Studium, als er die Einberufung zur rumänischen Armee erhielt. Danach ging er für mehrere Jahre nach Bukarest, wo er als Schaufenster-Dekorateur und Maler arbeitete. Um diese Tätigkeit mit einem akademischen Titel zu versehen, begann er 1936 ein Kunststudium in Wien. Hier erlebte er den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich und den Einzug Hitlers in Wien.
Wien hatte die Kaiserzeit hinter sich. Jeder Schüler trug jedoch
weiter das Gefühl in sich, in einer besonderen Stadt zu leben. Mit Dürers
kleinen Hasen im Herzen, sowie Breugels Winterlandschaften, dem bei der Belagerung
Wiens erbeuteten Zelt des Sultans und Klimts Damenporträts – so beschreibt
Rezzori die Bewusstseinslage seiner Mitbürger. In den zwanziger Jahren hätten zunächst die Roten (so nannte man
die Sozialisten) geherrscht. In den dreißiger Jahren dominierten jüdische
Akademiker, Politiker und Künstler. Dann kamen die Nazis und machten Wien zur
judenfreien Stadt. Den Antisemitismus erlebte er auf zwei Ebenen. Die
Oberschicht spottete über die ehrgeizigen Aufsteiger. Bei der Arbeiterklasse überwog
der Hass auf die Konkurrenten. Sie fanden es richtig, dass der jüdische
Zahnarzt gezwungen wurde, mit der Zahnbürste den Bürgersteig zu schrubben. Rezzoni
sah Hitler aus wenigen Metern Entfernung, als die ganze Stadt ihm zujubelte. Die
Wiener glaubten daran, dass Hitler ihnen ihre Größe wiedergeben würde, die sie
längst verloren hatten. Rezzori nennt dies ‚Epochenverschleppung‘ und sieht
dies als gesamteuropäisches Problem an.
Bei Mitschülern galt er als ‚Tschusche‘. Damit bezeichnen
die Nachkommen tschechischer und ungarischer Einwanderer, die Hawlitschkas und
Swobodas, die Spätaussiedler aus den später hinzugekommenen Ländern des
ehemaligen Kaiserreiches. Da sein beruflicher Erfolg ausblieb, plagten ihn
alsbald Selbstzweifel. Er kam sich vor, wie ein Schlitzohr vom Balkan, das
nichts konnte und nichts hatte. Er bezeichnete sich selbst als ‚Spreu im Zeitenwind‘.
Vorkriegs- und Kriegszeit in Berlin
Im Jahre 1938 übersiedelte Rezzori (von einer adeligen
Bekannten dazu animiert) nach Berlin, hoffend eine Stelle als Journalist zu
finden. Er begann mit dem Schreiben von Unterhaltungsromanen, die als
Fortsetzungen in Berliner Illustrierten erschienen. Da er ab 1940 die russische
Staatsangehörigkeit besaß, blieb er von einer Einberufung zum deutschen Militärdienst
verschont.
Er heiratete im Kriegsjahr 1942 eine damals als Reiterin bekannte
Tochter aus märkischem Adel, Priska von Tiedemann. Mit ihr zusammen fand er
Zuflucht auf Gütern in Pommern und Schlesien, als Berlin das Ziel alliierter
Luftangriffe wurde. Er erlebte das Kriegsende in der Lüneburger Heide. Ein
staatenloser Freund, der baltische Baron und Kochrezept-Autor Frank
Freytag-Loringhoven, war stets in seiner Nähe. Aus Rezzonis erster Ehe stammen seine
drei Söhne.
Nachkriegszeit in Deutschland
Nach einer Umschulung in einem von Winston Churchill
eingerichteten Erziehungslager in England (Wilton Park) wurden er und ein
Kollege 1948 von der britischen Besatzungsmacht mit dem Aufbau des
Unterhaltungsprogramms des NWDR in Hamburg betraut. Der NWDR war der Vorläufer
des NDR. Hier hatte er vier Jahre lang ein regelmäßiges Einkommen.
Als naturalisierter Ausländer wurde er als Beobachter zu den
Nürnberger Prozessen abgeordnet. Hier bekam er Einblick in Seiten der deutschen
Wesensart, die ihm alles andere als sympathisch waren. Alle Angeklagten sahen
sich als nicht schuldig an und verwiesen auf den Befehl, unter dem sie standen.
Keiner von ihnen bereute seine Taten, außer dem Gauleiter Koch. Dass dieser wie
ein Kind heulte, fand er seltsam. Alle wurden ohne Beteiligung deutscher
Instanzen verurteilt und größtenteils hingerichtet. Beim Besuch des
Konzentrationslagers Ausschwitz beeindruckten ihn die Berge von Schuhen,
Taschen und persönlicher Gegenständen, die den Opfern abgenommen worden waren.
Sie waren sauber geordnet und nummeriert. Dass Italiener Mussolini selbst
lynchten, mag zwar juristisch weniger korrekt sein. Für die Selbstreinigung der
Volksseele habe es eine ganz andere Wirkung gehabt als das Nürnberger Verfahren.
In der Einführung der D-Mark im Jahre 1948 sah er einen
ähnlichen Epochenwandel wie bei dem Einzug Hitlers in Wien. Während sich 1938
äußerlich wenig änderte, aber sehr viel in der inneren Einstellung, sei es 1948
umgekehrt gewesen. Die Deutschen dachten weiter wie bisher, aber um sie herum
änderte sich alles. Plötzlich gab es Waren in Hülle und Fülle, die Wirtschaft
florierte und Urlaubsreisen in alle Welt waren möglich. Die Deutschen vergaßen
Nazis und Krieg langsam aber sicher.
Um eine zufällige Lücke im Programm des NWDR zu füllen,
begann er einige von ihm erfundene Geschichten zu erzählen. Mit diesen so
genannten Maghrebinischen Geschichten hörten die Zuhörer (es gab damals nur ein
Radioprogramm) zum ersten Mal nach dem Kriege wieder Satiren, in denen Deutsche
wieder über sich selbst lachen durften. Da sie ein Erfolg wurden, erschienen
sie auf Betreiben von Kurt Wilhelm Marek (besser unter dem Pseudonym C. W.
Ceram bekannt) 1953 als Buch.
Rezzori beendete seine Festanstellung beim Sender in
Hamburg, als seine Frau mit den Kindern in die Nähe von Rothenburg ob der
Tauber zog. Es kam alsbald zur Ehescheidung. Seine Ex-Frau ging mit einem
Aussiedler nach Angola. Die Kinder kamen in ein Schulheim in Holland. Sie
trennten sich später von ihm, indem sie den Namen ihrer Mutter annahmen.
Leben in Frankreich und Italien
Nach einer Zwischenstation in Bad Tölz, wohin auch seine
Mutter zog, ging er zunächst nach Paris. Dort betätigte er sich als Begleiter
eines amerikanischen Mode-Mannequins. Er knüpfte dabei Kontakte nicht nur zur
Mode-, sondern auch zur Filmwelt. Er genoss den Ruf eines Beau und Lebemanns.
Im Januar 1959 hat es von Rezzori dann erwischt. Der SPIEGEL widmete
ihm die Titel-Geschichte. Man bezeichnete ihn als Hochstapler und
Netzbeschmutzer des deutschen Adels. Mit so jemandem verkehrt man nicht. Die
Abstammung seiner Familie wurde angezweifelt. Nur ein in Laibach geadelter Tabak-Oberinspektor
namens Rezori konnte in Adelsarchiven nachgewiesen werden, allerdings schrieb
der seinen Namen mit nur einem R. Rezzoris Texte seien alle nur seichtes Gelaber.
Mir ist nicht bekannt, dass er sich gegen diese Anschuldigungen je zur Wehr
gesetzt hat – was sehr verdächtig ist. Eine zweite Ehe mit der Malerin Hanna
Axmann aus München wurde nach kurzer Zeit geschieden.
Danach verließ er Deutschland für immer. Nachdem er einige
Jahre allein an der tyrrhenischen Küste zwischen Rom und Neapel (in Cicerone) gelebt
hatte, heiratete er 1967 die Mailänder Galeristin Beatrice Monti della Corte.
Sie begeisterte Rezzori für Kunst und er begann Gemälde zu sammeln. Er wohnte
abwechselnd in Mailand, in der Toskana und auf Rhodos. Als Wohnsitz in der
Toskana ließ er eine alte Zollstation zwischen Florenz und Arezzo (in der Nähe
von Donnini) umbauen. Dort starb er auch.
Schriftstellerisches und künstlerisches Werk
Rezzori war zweifellos ein sprachlich sehr versierter Autor.
Sein Genre waren in erster Linie Unterhaltungsromane. Er sah sich in der
Tradition von Joseph Roth und Robert Musil. Der Roman ‚Ein Hermelin in
Tschernopol‘ gilt als kleines Meisterwerk, intelligent, amüsant und poetisch
zugleich. Nach den ‚Maghrebinischen Geschichten‘ und andern humoristischen
Unterhaltungsromanen schrieb Rezzori auch ernste Romane wie zum Beispiel ‚Der Tod
meines Bruders Abel‘. Insgesamt verfasste er etwa 30 Bücher. Das letzte Manuskript erschien posthum im
Jahre 2001. Er gilt als Chronist einer versunkenen Epoche.
Daneben arbeitete er als Journalist und Hörfunkautor. Er
wirkte auch als Drehbuchautor und wirkte in rund einem Dutzend Filmen als Schauspieler
mit, zum Beispiel in ‚Viva
Maria!‘ und ‚‘Michael
Kohlhaas. Der Rebell‘. Eine Kurzfassung des späteren Buches ‚Denkwürdigkeiten
eines Antisemiten‘ erschien zuerst in Englisch in der Zeitschrift ‚The New Yorker‘. Dadurch
wurde er auch international bekannt.
Lebensphilosophie und sonstige Ansichten
Zum Schluss möchte ich einige Kostproben seines Denkens
geben. Seine Einstellung dem Leben gegenüber war locker und leicht. „Mein Leben
lebt über mich hinweg. Was ich selbst dafür tue, ist nebensächlich“ schrieb er.
Er nannte dies die ‚literarische Auffassung der Wirklichkeit‘, wenn man das
Leben als eine Art Schattenspiel sieht, wo nicht wir es sind, die Regie führen.
Seine Art von Literatur rechtfertigte er mit den Worten: ‚Wer
schreibt, will sich befreien. Befreit wird, wer tanzen kann. Nur wer sich
leicht nimmt, zwingt keinen jüdischen Nachbarn dazu, mit der Zahnbürste den
Gehsteig zu schrubben.‘ Er sah bei
Österreichern und bei Deutschen unterschiedliche Schwachstellen im
Volkscharakter und bezeichnete sich selbst daher als leidenden Patrioten.
Er könnte Hass auf alle Menschen haben, wenn er bedenkt, wie
sie nicht nur die Natur ruinieren, sondern auch ihre eigenen Nachkommen. Er
hält es für idiotisch, wenn jemand um Kopfschmerzen loszuwerden, ein ungeborenes
Kind zum Krüppel macht. Ich nehme an, er dachte dabei an die Contergan-Opfer. Seine
Altersgenossen tröstete er mit den Worten: ‚Die Beschwerden des Alters sind da,
damit wir die Wonnen des Alters nicht zu sehr genießen.‘ Als Rezzori dies
schrieb, war er 78 Jahre alt.
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