Wilhelm Gustav Spruth
war lange Jahre Leiter der Grundlagen-Entwicklung des IBM Labors Böblingen, ehe
er während seines Ruhestands die Position eines
Universitätsprofessors in Tübingen und Leipzig annahm. Während ich meine
Berufsjahre schwerpunktmäßig in der Software-Entwicklung verbrachte, war Spruth
einer der allseits geschätzten Pioniere und Leistungsträger auf der
Hardware-Seite. Diese Seite der Entwickler-Tätigkeit war früher sehr
vielseitig, wie sich an Spruths nachfolgend beschriebenen Aktivitäten zeigen
wird. Waren amerikanische Besucher im Hause, – was sehr oft der Fall war ̶
wurde er mit der Kurzform Wil seines ersten Vornamens angesprochen.
Amerikaner, die seinen Nachnamen nur vom Lesen her kannten, sprachen das ‚th‘
am Ende sehr oft englisch aus. Manchmal klang das dann für uns wie ‚spruce‘ (zu
Deutsch ‚Fichte‘).
Spruth hatte an der RWTH Aachen Elektrotechnik studiert und
promoviert. Er ging 1957 als Assistant Professor an die Carnegie Mellon
University in Pittsburgh, PA. Zwei Jahre später trat er in die IBM Advanced
Systems Development Division (ASDD) in Mohansic, NY, ein, um an dem
Flugreservierungssystem SABRE
für American Airlines mitzuarbeiten. Es war dies das erste System dieser Art
und war bis in die 1990er Jahre in Betrieb. Seine Erfahrungen in der
Software-Entwicklung bezogen sich vorwiegend auf diese ersten Jahre seiner
langen Berufslaufbahn.
Von Karl Ganzhorn, dem ersten Böblinger Laborleiter,
anlässlich eines USA-Besuchs angeworben, kam Spruth im September 1961 ins IBM
Labor Böblingen. Dort arbeitete er zunächst in der Qualitätskontrolle des
Systems 3000 mit. Mit diesem System wurden zum ersten Mal kleine Lochkarten in
die Praxis eingeführt. Wegen nicht behebbarer technischer Probleme wurde das
System schließlich vom Vertrieb zurückgezogen. Wider Erwarten wurden die
Entwickler nicht in die berühmte Wüste geschickt, sondern von Thomas Watson
sen. ermahnt, sich nie wieder ein System vom Vertrieb aus der Hand reißen zu lassen,
das technisch noch nicht ausgereift ist. Diese Botschaft hat sich ohne Zweifel
bei den Böblinger Entwicklern eingeprägt. Kleine Lochkarten wurden von
amerikanischen IBM-Entwicklern fast 10 Jahre später mit dem System/3 doch noch
zu einem Markterfolg gebracht.
Spruths Name wurde mir zum ersten Mal bekannt durch ein
Projekt namens Vocoder, das er leitete. Es handelte sich dabei um eines der
ersten Sprachausgabesysteme (engl. Voice Output System) der Welt. Da Böblingen durch andere Aufgaben
ausgelastet war, wurde der Vocoder vom IBM Labor in La Gaude, Frankreich, unter
der Produktbezeichnung IBM 7772 ins Feld gebracht. Er fand bei Banken,
Versicherungen und Fluggesellschaften Anwendung, um den Konto- oder
Buchungsstand telefonisch abzufragen.
Nach einigen Jahren in der System-Entwicklung übernahm
Spruth die Leitung der Abteilung Grundlagen-Entwicklung. Von da an
konzentrierte er sich auf die konzeptionelle Vorbereitung der nächsten
Generation der Böblinger Systeme. Nachdem die erste Generation des
Kleinrechners System/360 Mod 20 mit einem festen (in TROS gespeicherten)
Mikroprogramm ausgeliefert worden war, schlug Spruth für die nächste Generation
einen beschreibbaren Mikroprogramm-Speicher vor. Beim Submodell 5 kam diese
Idee bereits zum Einsatz. Der Mikrocode belegte einen Teil des normalen
Kernspeichers. Damit war der Weg frei zum ‚vertikalen‘ Mikrocode, d.h. man
verzichtete auf die Möglichkeit viele Funktionen mit einem Befehl zu steuern
und näherte sich der ‚normalen‘ Software mit all ihren Werkzeugen zur
Vereinfachung der Entwicklung und zur Verbesserung der Qualität. Vor allem
konnten zusätzliche Funktionen in Form von Mikrocode angeboten werden, mit denen
die Wartung verbessert wurde oder andere Architekturen emuliert wurden. Sehr
richtungsweisend war auch die von ihm initiierte Einführung eigener Ein-/Ausgabe-Prozessoren.
Das führte zu einer Systemstruktur, die sehr bestimmend wurde für alle späteren
Böblinger Systeme.
Kein Produkt verbinde ich mehr mit Spruth als den
Elektro-Erosionsdrucker IBM 4250. Böblingen verfügte damals über eine eigene
Druckerentwicklung. Aus ihr entstammte eine Familie von Aufschlagdruckern (IBM
2203, u.a.). Auf einer umlaufenden Kette oder einem Stahlband waren die zu
druckenden Typen mehrmals angeordnet. Sie wurden durch eine Umlaufbewegung des
Typenträgers in die entsprechende Position gebracht, wo dann ein Druckhammer
Farbband und Papier auf die Drucktype zubewegte. Damit konnte zwar schnell,
aber nur mit einem beschränkten Satz von Zeichen gedruckt werden. Das Drucken
von Zeichnungen, Bildern und variabler Schriftzeichen verlangte nach neuen
Drucktechniken. Zuerst wurden Nadeldrucker angeboten.
Es folgten Tintenstrahl-Drucker, ehe Laserdrucker das Feld
übernahmen. Auch diese neuen Techniken schienen anfangs nicht in der Lage zu
sein, das Problem der hohen Druckgenauigkeit, auch Auflösung genannt, zu lösen.
Sie lieferten etwa 200 Bildpunkte pro Zoll, obwohl von einigen Anwendungen etwa
1000 verlangt wurden. Die Druckindustrie arbeitete daher weitgehend mit
chemischen oder fotografischen Verfahren, also teilweise sehr langsamen und
teuren Verfahren, um ihre Druckplatten für die einzelnen Seiten zu erstellen.
Das im Böblinger Labor entwickelte Verfahren stellte eine
erheblich kostengünstigere Alternative dar. Aus einer dünnen, mit Aluminium bedampften
Folie wurde die Druckplatte auf einem Gerät in der Größe eines heutigen
Laserdruckers erstellt. Die zu druckenden Bestandteile der Seite wurden von
einer dünnen Elektrode (aus Wolfram) herausgebrannt. So einfach dieses Konzept
physikalisch war, umso größer war die Komplexität der Software. Man musste sich
mit minitiösen Details der Textformatierung und Layout-Gestaltung vertraut machen,
die man vorher nicht erahnt hatte. Die Geräte fanden Jahre lang begeisterte
Anwender, unter anderem im eigenen Hause zum Erstellen von
Produkt-Dokumentation. Die Kollegen Jürgen Bahr für die Hardware und Helmut
Hasselmeier für die Software fanden so etwas wie eine Lebensaufgabe. Dieter
Paris hatte seine Erfahrungen aus dem Buchdruck (mit den Hunderten von
Schriften) eingebracht.
Nur in Stichworten möchte ich einige andere Gebiete
erwähnen, auf denen Spruth und seine Mitarbeiter tätig waren. Geleitet von
Peter Stucki, abgeordnet von der IBM Zürich, entstand ein System zur Erstellung
grafischer Entwürfe und der Verbesserung von Bildern. Zusammen mit Ulrich Kulisch
von der Universität Karlsruhe wurden Software- und Mikrocode-Pakete (ACRITH
genannt) entwickelt, um variable Gleitkomma-Arithmetik anzubieten. In
Kooperation mit amerikanischen Labors der IBM entstand ein Konzept für ein verteiltes,
netzwerk-basiertes System zur Erfassung von Messdaten und zur Steuerung von
Prozessen. Einige Projekte, zu denen ich weniger Bezug hatte, habe ich weg
gelassen.
Seit 1970 bot Spruth eine Vorlesung an der Universität
Karlsruhe über Interaktive Systeme an. Aufbauend auf den Erfahrungen mit SABRE
gab die Vorlesung einen umfassenden Einblick in die damals modernen Systeme und
deckte in gleichem Maße Hardware- und Software-Aspekte ab. Die Vorlesung
erschien in Buchform im SRA-Verlag in Stuttgart im Jahre 1977. Die Serie wurde
später vom Oldenbourg-Verlag in München übernommen und fortgeführt. Im
Springer-Verlag in Heidelberg erschien im Jahre 1989 das Buch ‚The
Design of a Microprocessor‘. Das Buch fasst die gesamte Hardware-Kompetenz
des Böblinger Labors wie in einem Schnappschuss zusammen. Es ist der Zeitpunkt
des Übergangs von Systemen, deren Prozessoren aus einzelnen Komponenten
bestanden zu Systemen, die aus mehreren gekoppelten Prozessoren bestehen, den
Mehrkernsystemen. Spruth trat 1993 in den Ruhestand, soweit dies seine
IBM-Tätigkeit betraf.
Spruths Liste externer Publikationen
ist für einen Praktiker aus der Industrie recht beachtlich. Wie es sich für
einen Ingenieur – wie er einer mit Leib und Seele war ̶
geziemt, hatte Spruth auch ein stolzes Patent-Portfolio.
Er war Erfinder bzw. Miterfinder von 32 Erfindungen, die zu 92 erteilten
Patenten in unterschiedlichen Ländern führten, und zwar in der Zeit von 1958
bis 2006.
Ich persönlich erinnere mich besonders gerne daran, wie der
Kollege Spruth stets das Gespräch mit seinen Arbeitskollegen im ganzen Labor suchte.
Es ging dabei um Gott und die Welt, aber auch um die immer wiederkehrende
Frage, wie man die Mitarbeiter seines Bereichs, aber auch die des ganzen Labors
zu gesteigerten technischen Leistungen anregen könnte. Nach meiner Rückkehr von
meinem Sabbatical an der Universität Stuttgart im Jahre 1975 arbeitete ich zwei
Jahre lang in seinem Bereich. Ich habe nicht nur die herbstlichen Wanderungen
im Schönbuch in sehr angenehmer Erinnerung. Auch danach zeigte er stets
Interesse an meinen Projekten und meinem Berufsweg.
Die Familie Spruth
führt ihren Stammbaum auf die Besitzer des Sprutenhofs in Mosebeck zurück,
einer kleinen Gemeinde zwischen den westfälischen Städten Detmold und Lemgo.
Dieser Hof ist seit dem 13. Jahrhundert nachgewiesen. Spruths Vater und ̶ nebenbei
bemerkt ̶ auch
sein Schwiegervater waren Siegener bzw. Gelsenkirchner Bergbauassessoren. Er hinterlässt seine Frau
Angela, die sich als Gemeinderätin für den Böblinger Stadtteil Dagersheim
engagierte, und sieben erwachsene Kinder. Spruths ältester Sohn Henning hat an
der TU München in Elektrotechnik promoviert. Die fachliche Tradition der
Familie wird also fortgeführt. Ob sie sich von Westfalen über das Rheinland und
Baden-Württemberg weiter nach Süden ausbreitet, ist abzuwarten.
Am 9.1.2014 schrieb Otto Buchegger aus Tübingen:
Danke, eine schöne Würdigung meines Ex-Chefs! Ich habe ihm in meinem Ewigen Garten auch ein Denkmal gesetzt.
Am 9.1.2014 schrieb Otto Buchegger aus Tübingen:
Danke, eine schöne Würdigung meines Ex-Chefs! Ich habe ihm in meinem Ewigen Garten auch ein Denkmal gesetzt.
Ingrid and I recall the Schoenbuch Wanderungen with pleasure as well. He had great walking rhythm ... one had the feeling he could have walked to Warsaw.
AntwortenLöschenAre you familiar with his SAP adventure? Can you share it? I am not sure whether it is under a confidentiality mandate.
Calvin Arnason ...
And could you say something about his assistant in those 1970 years? Who had that remarkable Spruch on his Mercedes.
AntwortenLöschenSorry, I do not recollect the stories you are alluding to.
LöschenSie müssen mir helfen.
I am not sure of the dates ... but approximately 1984 or 85 Herr Spruth had 3 of us in his office and told the story of his having been approached in the late 70s by the owners of SAP with the proposal that IBM acquire the company. I don't know why they chose Herrn Spruth for this approach. He was convinced that the idea would be good for IBM and he did all he could to move it forward. It was ultimately rejected because somewhere in IBM a similar product was being considered.
LöschenHerr Spruth had an assistant who appeared to me to stand very close to him professionally and personally - but I have forgotten his name. He was very nuechtern and spoke little to others at least when I was present ... and he had a Spruch on the back window of his yellow Mercedes that said "JESUS CHRISTUS - Die einzige Hoffnung fuer Dich." This was so bizarre - surely gewagt, because I didn't see religion being openly discussed then. He seemed like he would have been a great asset in the Kaiserreich. And I mean that as a compliment. Who was he? You MUST have seen his car !!
Thanks, Calvin,
LöschenBeide Geschichten sind neu für mich. Ich war nur 27 Jahre im Labor, davon zwei Jahre an der Uni Stuttgart.
Ich hatte die Gelegenheit, Herrn Prof. Spruth an der Universität Leipzig von 1992-1997 kennen und schätzen zu lernen. Anfangs eher skeptisch betrachtet, schaffte er es immer wieder durch seine Fähigkeit zur konstruktiven Fragestellung, nicht nur das Wissen und die Vorstellung eines jeden herauszufragen, sondern auch gleichzeitig ohne jegliche Beeinträchtigung des Gegenüber auf Fehler aufmerksam zu machen und sowohl die Diskussion als auch das weitere Denken in die korrekte Richtung zu leiten.
AntwortenLöschenHerr Prof. Spruth war eine permanente Quelle von sowohl vielfältigem und breitem theoretischen Wissen und ebenso reichhaltiger, praktischer Erfahrung in vielen, wenn nicht allen Bereichen der Datenverarbeitung und weit darüber hinaus und versuchte, wohl sehr erfolgreich, dies mit seinen Studenten und Assistenten zu teilen.
Ich empfinde es als ein Privileg, Herrn Spruth kennengelernt und von ihm gelernt haben zu dürfen.