Die neue Staatslehre, die zurzeit in vielen Staaten ihre
Anwendung findet, ist mit dem Namen ihres bekanntesten Vertreters belegt.
Wladimir Wladimirowitsch Putin
(Jahrgang 1952) hatte seine Lehrzeit 1985 bis 1990 als Mitarbeiter des
russischen Geheimdienstes KGB in Dresden verbracht. Dort arbeitete er eng mit
dem Staatssicherheitsdienst der DDR (Abk. Stasi) zusammen. Er war zuletzt
stellvertretender Abteilungsleiter in der KGB-Residentur. Laut Angaben des
ehemaligen Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes und
heutigen Bundespräsidenten Joachim Gauck, war es seine letzte Tat, dass er 1990
versuchte aus Mitgliedern der Stasi einen Spionagering aufzubauen. Als dies misslang,
ging er in die sich auflösende Sowjetunion zurück.
Seit er durch die Vermittlung Jelzins in der Spitze der nach-sowjetischen Russischen Föderation in der Politik Fuß fasste, betreibt der sowohl Innen- wie Außenpolitik nach der nach ihm benannten Doktrin. In einen einzigen Satz ausgedrückt lautet sie:
Alle Macht geht von den Sicherheitsdiensten aus!
Der Putinismus ist eine absurde Weiterentwicklung des
Demokratie-Begriffes, bei dem es heißt: Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus
(Artikel 20.2 GG). Die meisten Autoren, die den Begriff Putinismus bisher
benutzten, bezogen ihn primär auf die Art, wie Putin seine Macht innerhalb
Russlands aufbaute und ausbalancierte. Nach meiner Meinung verfolgen auch
andere Staaten die von Putin propagierte Staatslehre.
Begründung und Ausprägung der Doktrin
Der eben zitierte Artikel 20.2 GG ist von sehr idealistischen, um nicht zu sagen utopischen Vorstellungen des 18. Jahrhunderts geprägt. Es wird angenommen, dass die Masse eines Volkes in der Lage ist, vernünftig auf Krisensituationen zu reagieren. Dass dies bei so heterogenen und politisch ungebildeten Gemeinwesen wie der früheren Sowjet-Union eine (geradezu unverantwortliche) Fehleinschätzung ist, bedarf keiner psychologischen Expertise oder Forschung. Es ist für jedes Kind offensichtlich.
Die Demokratie stützt sich bei uns im Westen auf zwei Säulen, die Parlamente und die Presse. Viele Politiker haben schon lange einen sehr schlechten Ruf. Man setzt sie mit Autoverkäufern gleich. Immer wieder machen sich Politiker verdächtig. Mal haben sie für einen Lobbyisten gearbeitet, mal haben sie charakterliche Schwächen (Pädophilie) oder sie machen sich diverser Delikte (Plagiate, Steuerhinterziehung) schuldig. Die Mehrheit der Mandatsträger vereint die Sorge um eine Diätenerhöhung.
Die Presse veröffentlicht das, womit man Geld verdient. Skandale und das Aufdecken von Betrügereien in Politik und Sport sichern die Auflagen. Sie hat kein Interesse, alles zu veröffentlichen, was in einer Gesellschaft geschieht oder wichtig ist. Das erfährt man nur durch Nachrichtendienste, was sehr oft auch als Synonym für Geheimdienste gilt. Diese können völlig privat operieren oder im Auftrag einer Regierung. Natürlich muss man für etwas, das einen Wert hat, auch zahlen. Man bekommt es nicht als Abfallprodukt eines anderen Geschäfts, wie man es im Falle der freien Presse erhofft.
Man braucht heute die Stimmen aus dem Wahlvolke, um an die Macht zu kommen. Hat man zu viele oder die falschen Parteien, können sich die Stimmen verzetteln. Nach der Wahl verschwindet die Macht des Volkes. Sie löst sich schlagartig auf. Das Volk kann weder das Land regieren, noch kann es die von ihm gewählten Politiker bei ihrer Arbeit unterstützen. Das schlimmste ist, das Volk kann seine Verantwortungsträger – kurz Führer genannt ̶ nicht mehr beschützen. Diese sind vogelfrei, es sei denn sie umgeben sich mit einem qualifizierten Stab von Beschützern. Polizei und Armee sind dafür unbrauchbar. In historischen Uniformen nehmen ihre Vertreter bei Empfängen oder Paraden teil. Die Schweizer Garde des Papstes ist ein bekanntes Beispiel.
Das Problem ist alt, nur die Lösung ist neu. Wirklichen Schutz gibt es heute nur durch Geheimdienste, nicht mehr durch Leibgarden, selbst wenn diese mit Panzerfäusten und Maschinengewehren ausgerüstet wären. Das ist deshalb so, weil die wenigsten Angreifer noch offen auftreten. Sie arbeiten im Geheimen. Man kann sich nur verteidigen, indem man verdächtig wirkende Gruppen beobachten, d.h. ihre Kommunikation überwachen lässt, bevor sie zuschlagen. Das Überwachen ist heute relativ leicht möglich, weil alle Beteiligten Medien benutzen, die Daten streuen.
Mindestens so wichtig, wie die Sicherheit der Führer ist die Sicherheit kritischer Einrichtungen, seien es Elektrizitätswerke, Wasserwerke oder Brücken und Verkehrswege. Aber auch Massenveranstaltungen jeder Art sind sehr gefährdet. Die Angreifer verfolgen manchmal ein politisches Ziel, etwa die Autonomie eines ethischen oder religiösen Einsprengsels (wie bei Basken, Kurden oder Tschetschenen), oder auch nicht. Oft geben sie sich zufrieden, wenn sie ihre Macht zeigen konnten.
Der Putinismus nimmt die Allgegenwart terroristischer Bedrohungen ernst. Er reagiert darauf mit der einzig wirksamen Antwort, der vollständigen und effektiven Kontrolle der Gesellschaft mit den Mitteln der Geheimdienste. Diese Mittel sind nicht nur sehr umfassend; sie sind auch keinerlei Einschränkung unterworfen.
Russische Föderation
Über den Putinismus in seinem Ursprungsland gibt es bereits
seit etwa 10 Jahren hin und wieder wissenschaftliche Analysen. So brachte z.B.
die Bundeszentrale für Politische Bildung (bpb) am 15.7.2013 die Übersetzung
eines Essays von Richard Sakwa von der
University of Kent mit dem Titel: ‚Entwickelter Putinismus - Wandel ohne Entwicklung‘. Sakwa ist der
Ansicht, dass der Putinismus in Russland bereits die Grenzen seiner Entwicklung
erreicht habe. Wie allgemein bekannt, dürfen sich sogar Wissenschaftler irren.
Trotzdem zitiere ich einige Passagen.
Im Falle der Ukraine hat sich Putin offenbar verrechnet: Dass eines der ärmsten Länder des Kontinents [eine frühere Kornkammer Europas] an Russland über Jahre den höchsten Erdgaspreis Europas zahlen musste, hat nicht nur die Ukraine, sondern auch das Regime Janukowitsch am Ende fast handlungsunfähig gemacht….Die erfolgreiche Euromaidan-Revolution in Kiew wird ihn in der Angst vor jeglicher freien Meinungsäußerung im eigenen Land weiter bestärken und noch mehr als bisher zur Repression greifen lassen….
Putin hat es vermocht, auf
eine Reihe für Russland sehr realer Herausforderungen auf relativ kompetente
und kohärente Art zu reagieren. Jene Kritiker, die dem Regime vorwerfen, dass
es die Grundzüge einer effizienten Regierungsführung vermissen lasse, liegen
falsch. Selbst die verschiedenen anstehenden Megaprojekte, angefangen bei den
Olympischen Winterspielen 2014 in Sotschi [gingen gerade ruhmreich für Putin zu
Ende] bis zur Fußballweltmeisterschaft 2018, sind, so verschwenderisch auch mit
den Geldern für den Bau umgegangen wird, etwas, worauf das Land stolz sein
kann. …Der Schlag gegen den Ölkonzern Jukos und die Verhaftung seines Chefs
Michail Chodorkowskij am 25. Oktober 2003 markiert den Wendepunkt, der die
zweite Phase Putinscher Politik einleitete, in der das Regime die politischen
Spielräume einschränkte und sich auf diese Weise konsolidierte. …Nachdem sich
der Staub der Sukzessionskrise gelegt hatte, griff das System des entwickelten
Putinismus zu neuen Formen des politischen Managements. Hierbei standen vier
Strategien im Zentrum: zwingen, beschränken, kooptieren, überzeugen. … Das
Putinsche System ist in Stagnation verfallen. … die Versuche neue Wege zur
Kontrolle des politischen Lebens zu finden, wenn die alten Instrumente
diskreditiert sind, enthüllen nur, wie begrenzt die verfügbaren Möglichkeiten
in dem engen Rahmen des entwickelten Putinismus sind. …. Politische Opposition
ist eingeschränkt, was allerdings nur einem bürokratischen Lenkungsstil zur
Dominanz verhilft. Da ein öffentlicher Raum und der Zugang zu den Medien
fehlen, nimmt die Korruption zu. Die Erosion offener Politik führt dazu, dass
Konflikte nach innen gelenkt werden.
Es gibt in Russland offensichtlich keinen Schutz des privaten
Eigentums oder anderer Bürgerrechte. Es wird von häufigen Zwangsräumungen von
Wohnungen und mehr oder weniger willkürlichen Verhaftungen berichtet. Gewaltanwendung
erscheint unverzichtbar bei der Durchsetzung politischer Ziele. Kurz vor den
Olympischen Winterspielen wurde Chodorkowskij begnadigt und lebt inzwischen im
Westen. Bezüglich Korruption liegt Russland an der Weltspitze. Es gibt keinen
Mittelstand, nur Arme und Reiche (die berühmten Oligarchen). Eine Bürgergesellschaft
ist erst im Entstehen und konzentriert sich auf Moskau.
Ukraine und andere Nachfolge-Staaten der Sowjet-Union
Die Nachfolge-Staaten der früheren Sowjet-Union hatten
entweder die Möglichkeit, sich nach Westen zu orientieren wie die baltischen
Staaten oder aber sie lehnten sich weiter an Russland an. Beispiele aus der
zweiten Gruppe sind die Ukraine, Weißrussland, Kasachstan und Turkmenistan.
Fast alle Staaten dieser Gruppe werden auch 25 Jahre nach dem Zerfall der
Sowjet-Union mehr oder weniger autokratisch regiert. In der Ukraine kam es
inzwischen zweimal zu einem Volksaufstand gegen das amtierende System. Die
Ereignisse auf dem Maidan-Platz in Kiew führten in den letzten Wochen wiederholt
zu Gewaltanwendung und Blutvergießen. In der Tageszeitung Die
Welt vom 24.2.2014 schrieb Gerhard Gnauck:
Im Falle der Ukraine hat sich Putin offenbar verrechnet: Dass eines der ärmsten Länder des Kontinents [eine frühere Kornkammer Europas] an Russland über Jahre den höchsten Erdgaspreis Europas zahlen musste, hat nicht nur die Ukraine, sondern auch das Regime Janukowitsch am Ende fast handlungsunfähig gemacht….Die erfolgreiche Euromaidan-Revolution in Kiew wird ihn in der Angst vor jeglicher freien Meinungsäußerung im eigenen Land weiter bestärken und noch mehr als bisher zur Repression greifen lassen….
Wie heißt es so schön: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Was aus
dieser Revolution entstehen wird, ist noch völlig offen. Es ist durchaus
möglich, dass das Land in zwei Teile zerfällt. Der Osten mit dem Donez-Becken
und der Krim wird sich auch in Zukunft eher auf Russland ausrichten als auf die
EU. Dem westlichen Landesteil kann die EU wirtschaftlich unter die Arme greifen.
Ob sie die Sicherheitsbelange auch nur partiell wahrnehmen kann, ist äußerst fraglich.
Volksrepublik China
Die kommunistische Regierung Chinas vertritt eine Staatsauffassung,
in der Geheimdienste ohnehin eine zentrale Funktion darstellen. Chinas
Ministerium für Staatssicherheit ist einer der größten Nachrichtendienste der
Welt. Wegen seiner Rolle als Inlandsnachrichtendienst und bei der Überwachung
von Dissidenten wird es auch als Geheimpolizei bezeichnet. Laut chinesischer
Strafprozessordnung besitzt es bei Gefährdung der nationalen Sicherheit die
gleichen Rechte wie die Polizei. Ihre Auslandsagenten sind als
Geschäftsmänner, Banker, Gelehrte und Journalisten tätig.
Wie Sandro
Gaycken in dem von mir in einem früheren Blog-Eintrag
zitierten Buch berichtet, hat China die staatliche Online-Überwachung
perfektioniert. Es sollen rund 150.000 Mitarbeiter damit beschäftigt sein, das
zu tun, wofür die USA und Israel derzeit je 500 Hacker beschäftigt haben.
USA
Das große Rätselraten um Obama,
das uns Europäer so frustriert, wird durchschaubar, wenn man Obama als Anhänger
oder Opfer des Putinismus sieht. Der Begriff Putinismus ist hier in einem
Russland übergreifenden Sinne zu verstehen. Für Obama sind die Geheimdienste ebenfalls
wichtiger als die Wähler. Die Wähler trugen ihn ins Amt, weil er ihnen einen
offeneren Staat versprach als sie unter seinem Vorgänger George W. Bush
erlebten. Er brach die meisten seiner Wahlversprechen (wie Schließung von
Guantanamo, Frieden im Nahen Osten, offenes Verhältnis zu befreundeten
Staaten).
Sobald er das Präsidentenamt angetreten hatte, musste Obama
feststellen, dass nicht die politischen Parteien staatstragend sind, sondern
eine Gruppe von 16 Behörden, die seit dem 9/11-Desaster von einer weiteren Dienststelle
koordiniert wird. Ihr jetziger Leiter ist James R. Clapper, ein Ex-General. Die zwei größten und mächtigsten Geheimdienste sind die CIA
und die NSA. Alle Versuche sie zu beschränken – auch wenn noch so stark von
Ausländern gefordert – stoßen auf entschlossenen Widerstand. Nur Sicherheit
schaffe Freiheit, nicht umgekehrt, heißt es. Die regulären Streitkräfte
befinden sich auf dem Rückzug. Das was Amerikas Verbündete noch von Obama haben
wollen sind Waffen (d.h. Nachtsichtgeräte und Drohnen) und
Geheimdienst-Informationen.
England, Frankreich und Deutschland
Obwohl England der EU angehört, ist es, was die Geheimdienste
betrifft, Teil des Verbunds ‚Fünf Augen‘ (engl. Five Eyes) mit den USA,
Australien, Kanada und Neuseeland. England tut, was dieser Verbund von ihm
erwartet, denn es ist auf ihn für seine Sicherheit angewiesen. Die Souveränität
des Landes wird dadurch in doppelter Hinsicht beschränkt.
Die Franzosen haben eine ganz eigene Staatsauffassung. Sie
sehen sich als Großmacht (frz. grande nation), obwohl die Mittel fehlen. Sie
möchten so unabhängig bleiben, wie es geht. Manchmal übernehmen sie sich und
freuen sich, wenn andere Länder ihnen zu Hilfe eilen, besonders in Afrika.
Angela Merkel und Joachim Gauck begegnen dem Putinismus mit
großer Skepsis. Deshalb fuhren sie auch nicht zu Putins Festspielen nach
Sotschi. Das Versprechen der staatlich garantierten Sicherheit erinnert sie zu
sehr an die Stasi. Altkanzler Gerhard Schröder ist nicht nur als Agent einer russischen
Staatsfirma tätig, er vertritt auch Putins Interessen, wo er nur kann. Dedizierte
Meinungen zu neuen Staatstheorien sind aus Berlin kaum zu hören.
Nachbemerkung: Dieser Beitrag ist leider sehr defätistisch ausgefallen.
Manche Dinge sind natürlich überspitzt formuliert. Ich hoffe, dass den Lesern
oder mir doch noch etwas einfällt, das insgesamt positiver klingt.