Samstag, 26. Juli 2014

Physik in Raum und Zeit und das Bauchgrummeln der Experten

Ein Blog-Eintrag vom Dezember 2012 hatte den Titel: Mathematik – Gebieterin oder Gehilfin der Physik? Auch die von vielen Physikern angezweifelte Irreversibilität der Zeit hat uns schon früher beschäftigt. Dass sogar prominente Physiker Bauchschmerzen haben, wenn sie über die Situation der Physik nachdenken, ist bekannt. Das zeigt auch das neue Buch von Lee Smolin (*1955) mit dem Titel ‚Im Universum der Zeit‘. Smolin geht mit seinen ketzerischen Gedanken über die moderne Physik schon lange schwanger. Rein zufällig stieß ich auf ein Interview in der ZEIT von 2005, in dem er einige der Fragen des neuen Buches bereits anklingen ließ. Man kann daher sagen, es handelt sich hier nicht nur um Momenteinfälle.

Ausgewählte Zitate

Anstatt einer Inhaltsangabe des Buches stelle ich eine Sammlung von Zitaten an den Anfang. Da ich die E-Book-Version in teils vergrößerter Schrift las, kann ich keine Seitenzahlen angeben. Die Zitate sind so gewählt, dass sie auch ohne Zusammenhang verständlich sind. Ich habe hin und wieder eine Ergänzung des Zitats in Klammern gesetzt. Ich habe versucht, alle Zitate thematisch zu gliedern, obwohl sie teilweise sehr generell sind.

(A) Über die Zeit

  • Nichts was wir kennen und erleben, kommt dem Herzen der Natur näher als die Wirklichkeit der Zeit. Die Physik muss das Erleben des Jetzt erklären. Es ist ein Augenblick im Fluss von Augenblicken.
  • Es ist das Wesen des Universums, wie es sich von Augenblick zu Augenblick entfaltet. Wir möchten glauben, dass das Wahre das ist, was die Zeit übersteigt. [Zumindest glaubte Platon dies]
  • Die Zukunft kann Phänomene generieren, die neu sind, die kein Wissen über die Vergangenheit vorhersehen kann. [Eine sehr tiefe und zum Nachdenken anregende Einsicht]
  • Die Mathematik ist reversibel, die Thermodynamik nicht. Wo Zeit reversibel ist, ist sie irrelevant. Nur die Dinge, die in der Vergangenheit wirklich waren, wirken auf die Zukunft.
  • Wir denken in der Zeit, wenn wir Technik betreiben und dabei annehmen, dass es Dinge gibt, die unsere Vorfahren [selbst Platon und Kant] nicht wissen konnten.
  • Nur weil Zeit real ist, gibt es den Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft. Wenn Zeit nicht real ist, sind die Naturgesetze zwar ewig, aber unerklärbar. Ohne dass etwas geschieht, gibt es keine Zeit. Zeit ist relational.
  • Einige Physiker schlugen vor, Zeit als emergente Eigenschaft anzusehen wie Temperatur. [Sie ist nicht mikroskopisch, sondern nur makroskopisch zu erklären]
  • Wir benötigen eine bevorzugte globale Zeit, um die Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft zu definieren. Die Bestimmung der Gleichzeitigkeit zweier Ereignisse impliziert eine globale Zeit. [Zu fordern, dass Zeit real ist, muss m.E. nicht auch bedingen, dass Zeit global ist]
  • Ein irreversibler Zeitpfeil ist überall sichtbar. Das Licht zeigt nur die Vergangenheit. Schwarze Löcher entstanden erst lange nach dem Urknall. Wieso kann ein Universum zeitasymmetrisch sein, wenn die Naturgesetze symmetrisch sind?
  • Wenn alles am selben Ort ist, gibt es das Problem der Synchronisation von Uhren nicht. Die Zeit wäre absolut. Der Raum mag eine Illusion sein, aber die Zeit ist wirklich.

 (B) Über Determinismus und Naturgesetze

  • Der Glaube an eine Weltformel, mit deren Hilfe die Zukunft sich berechnen lässt, ist Mystizismus. [Dennoch suchen viele Physiker nach ihr]
  • In Newtons Naturmodell haben Teilchen unveränderliche Eigenschaften. Ist Newtons Paradigma die Grundlage des Weltbilds,  dann wird durch vollständige Angabe aller Anfangsbedingungen jedes Geschehen zeitlos.
  • Schon Dirac meinte, die Naturgesetze änderten sich über die Zeit. Feynman sah in der Physik die einzige Wissenschaft, die keine Evolution zulässt. [Beide Meinungen haben keine Wirkung hinterlassen]
  • Die Naturgesetze warten nicht außerhalb des Universums, sondern entstehen aus dem Innern des Universums heraus.
  • Zu bestimmen welche Spermien welche Eier befruchten hat zu viele Freiheitsgrade, um es vorhersagen zu können. Wir müssen zum Urknall zurück, um alle Einflüsse zu finden [Das ist das beste Argument gegen Determinismus, das ich kenne. Es stammt aus der Biologie, nicht aus der Physik]
  • Die [meisten] Eigenschaften von Teilchen ergeben sich aus dem Zusammenspiel von Teilchen, auch deren Masse (Higgs). Es macht keinen Sinn, sie einzelnen Teilchen zuzuschreiben. Fest, flüssig und gasförmig sind emergente Eigenschaften. Sie gelten nur statistisch.

(C) Über Mathematik in der Physik

  • Die Beziehung zwischen Wirklichkeit und Mathematik ist weit davon entfernt offensichtlich zu sein.
  • Mathematik existiert in einem platonischem Reich ohne Zeit, nicht in der Realität. Sie ist wie Religion. Zeitabhängige Menschen konnten die zeitlose Mathematik entdecken. [Sie haben auch die Religionen entdeckt. Zu sagen, beide seien erfunden, wäre eine sehr abfällige Bewertung]
  • Es ist ein Traum, dass das Universum durch zeitlose Mathematik erklärt werden kann. Alle Bewegungen haben Ursprung oder Anfang.
  • Mathematische Darstellungen sind immer zeitlos [Wenn damit gemeint ist, was andere Autoren mit "deklarativ" bezeichnen, ist das eine sehr enge Auffassung von Mathematik]. Man darf nicht die Darstellung oder Beschreibung mit der Wirklichkeit verwechseln. [Das ist die schwächere Form der Kritik. Eine stärkere kommt im nächsten Zitat].
  • Nur Mystiker glauben, dass Mathematik [gemeint ist die mathematische Beschreibung] realer ist als die Wirklichkeit. Pragmatiker halten die Mathematik für ein manchmal gutes, manchmal weniger gutes Werkzeug zur Beschreibung der Wirklichkeit. [So habe ich es auch stets gesehen]
  • Was haucht den mathematischen Formeln der Physik Leben ein? Nichts, sie bleiben tot. Wheeler klatschte in die Hände, nachdem er seine Formeln an die Tafel geschrieben hatte [Hätte er bei Computer-Programmen nicht nötig gehabt. Auch ein Komponist stellt die Zeit explizit dar. Für die Ausführung gibt es nur wenige Freiheitsgrade]

(D) Über die Relativitätstheorie

  • Das Blockuniversum der Speziellen Relativitätstheorie kennt keinen Unterschied zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die gesamte Geschichte der Welt wird als eine Einheit gesehen. [Die Zeit kann daher wie Raum behandelt werden, in dem man sich vorwärts und rückwärts bewegen kann]
  • In der Allgemeinen Relativitätstheorie ist Zeit ‚vielfingerisch‘. Uhren können an verschiedenen Orten unterschiedlich schnell laufen
  • Nach Einstein ist Fallen der Normalzustand. Stühle drücken uns nach oben. Eine Uhr im freien Fall tickt am häufigsten.
  • Wir können nur relative Zeitpunkte messen, keine absoluten. [Das gilt auch für die Zeitdauer, so wie für Strecken oder Längen]

(E) Über die Kosmologie

  • Wir können kein System aus dem Universum entfernen, um es zu untersuchen. Das Universum gibt es nur einmal. [Es sei denn, man hängt den vielen Multiversen-Theorien an]. Wir können nicht heraustreten, um es zu messen.
  • Ein Gesetz, das im Universum gilt, hat unendlich viele Anfangsbedingungen und Lösungen. An sich brauchen wir keine Gesetze, sondern nur eine Erklärung, was im Universum passierte. [Die hier gemeinten Naturgesetze erklären nur, was wiederholt geschieht. Das Warum erklären sie ohnehin nicht]
  • Die Nicht-Gaußheit der Hintergrund-Strahlung wurde zeitweise vermutet. Sie ist aber nicht sicher belegt.
  • Alle Theorien verkürzen die Natur. Sie lassen Freiheitsgrade weg. [Andere Autoren sprechen hier von Abstraktion]
  • Unser Weltall ist voller Mehrkörperprobleme. Man kann sie durch Simulation angehen. Diese sind aber sehr instabil. [Geschlossene Lösungen gibt es meistens nicht, zumindest haben wir sie nicht gefunden]
  • Experimente sind zurzeit ab der Länge 10 hoch -17 cm möglich. Darunter  erfordern sie höhere Energie als zurzeit verfügbar. Wegen der Gleichheit von Energie und Masse verstecken sich Teilchen höherer Masse hinter dieser Grenze.
  • Unser Universum hat 10 hoch 20 Schwarze Löcher. In Schwarzen Löchern entstehen laufend neue Universen. Diese werden selektiert. Es überlebt, wer die meisten Schwarzen Löcher hat. [Das ist die evolutionäre Form der Kosmologie]
  • Das Leibniz-Prinzip: Es gibt keine unerwiderten Einwirkungen. Das Vorhandensein von Materie beeinflusst daher Uhren.
  • Es muss Ereignisse im Urknall gegeben haben, die unsere Naturgesetze auswählten.
  • Die [kosmologische] Theorie muss erklären, warum es diese Naturgesetze und warum es diese Anfangsbedingungen gibt. Es dürfen aber keine Erklärungen von außerhalb des Universums erforderlich werden.

(F) Über die Quantentheorie und andere Theorien

  • Die Quantentheorie ist problematisch, da sie nicht erklärt, was geschieht, wenn ein Elektron von einem Energiezustand zum anderem wechselt, und was beim Messen geschieht. Verschränkung und Nicht-Lokalität treten nur für bestimmte Eigenschaften auf.
  • Es geschieht etwas, wenn ein Atom von Energie-Niveau zu Energie-Niveau springt (meinte Einstein). Wir können die Position von Teilchen nicht angeben, weil wir die Anfangsposition nicht kennen (sagte de Broglie). Das Teilchen muss die Welle beeinflussen und umgekehrt (Reziprozität).
  • Lässt sich die Quantentheorie auf das Universum als Ganzes anwenden? [Auf diese Frage kommt man, wenn man glaubt, dass in der Physik etwas nur dann gilt, wenn es überall gilt. Ob dieses Prinzip wirklich sinnvoll ist, wage ich zu bezweifeln]
  • Pierce: Die Natur verhält sich Präzedenzfällen entsprechend. Das Verhalten von neuen Systemen kann nicht vorhergesagt werden.
  • Eine Theorie namens Formdynamik: Formen ändern sich in der Relativitätstheorie nicht, nur Längen und Zeiten. Man nimmt anstatt eines Raumes ein Netz an, das alles verbindet, analog zum Internet. Wir erleben ein Gefühl von Raum, weil die Mehrzahl der Verbindungen ausgeschaltet ist. Man spricht auch von ‚kausaler dynamischer Triangulation‘. Die Teilchen bewegen sich entlang Knoten eines Gitters, vom Hintergrund unabhängig. Statt eines Urknalls gibt es den Urfrost (Geometrigenese). Alle Verbindungen, die nur anfangs aktiv waren, fallen dann aus. [Dass das Internet nicht nur in den Kosmos hinausragen würde, sondern sogar die Kosmologie, also unser Denken über den Kosmos, beeinflussen würde, das hatten Vinton Cerf, Bob Kahn und Lenard Kleinrock wirklich nicht erwartet]
  • Um Komplexität zu entwickeln, wird Zeit benötigt (Dawking). Der Zufall bringt keine Strukturen hervor, die Milliarden Jahre überdauern.
  • Im Leibniz-Universum sind keine Zeitpunkte gleich. Im Boltzmann-Universum sind alle Zeitpunkte gleich.
  • Die Sterne bestehen aufgrund einer Feineinstellung der vier Naturkräfte.
  • Gibt es ein Gesetz, das die Entwicklung von Naturgesetzen bestimmt? [Vermutlich nicht]

Allgemeiner Kommentar

Ich fand das Buch sehr anregend, aber etwas schwer zu verdauen. Es sei nicht für Fachleute, sondern für interessierte Laien geschrieben. Es vermeidet jede Art von Formeln. Mir hätten ein paar Beispiele geholfen zu verstehen, was Smolin noch zur Mathematik rechnet und was nicht. Offensichtlich meint er nur geschlossene Formeln, aber keine iterativen Algorithmen. Es werden eine ganze Menge an Fragen gestellt, oft ohne sie zu beantworten. Manchmal gibt es eine Vielzahl von Antworten, je nachdem welcher, teils spekulativen Theorie der Autor anhängt. Wie einleitend bemerkt, reflektiert dies den derzeitigen  ̶  durchaus bedauernswerten  ̶  Zustand der Physik. Ob wir heute einer Besserung näher sind als vor zehn Jahren, kann ich nicht beurteilen.

Hans Diel, der das Buch am 24.7.2014 zu Ende gelesen hatte, schrieb folgenden Kommentar:

Mein Urteil über das Buch von Smolin hat sich beim Lesen mehrmals gewandelt. Der Prolog und die Einführung haben mir sehr gut gefallen.

Von Teil 1 ("Die Austreibung der Zeit") war ich enttäuscht. Dort sollte beschrieben werden, wie der Zeitbegriff und die Rolle der Zeit in der Physik nach und nach so sehr relativiert wurde, dass zum Schluss auch "zeitlose" Theorien und Interpretationen propagiert wurden. Beim Beschreiben dieser Theorien wurde von Smolin leider nicht auf deren Schwachstellen hingewiesen, so dass man manchmal den Eindruck haben konnte Smolin würde diese Theorien komplett unterstützen.

Dies wurde im Teil 2 ("Die Wiedergeburt der Zeit") gerade gerückt. Dazu wurden jedoch nicht die Schwächen der alten Theorien konkret und explizit analysiert, sondern es wurden Gegenentwürfe und Theorien präsentiert die oft sehr spekulativ und umstritten sind. Gegen Ende des Buches (Kapitel 19 "Die Zukunft der Zeit" ) wurde mein Urteil wieder positiver weil dort eine Art Zusammenfassung gegeben wird, mit dem Eingeständnis  "Jeder dieser Ansätze ist spekulativ, aber mehrere machen auch wirklich überprüfbare Vorhersagen für praktikable Experimente."

Meine Beurteilung ist natürlich sehr subjektiv. Gefallen hat mir alles, was auch mit meinen eigenen Ansichten, Vermutungen und Kritikpunkten zusammenpasst (unzureichende Rolle der Zeit in der Physik, Überbetonung der Mathematik in der Physik). Missfallen hat mir alles, was zu spekulativ war (auch wenn es für mich interessant und lehrreich war, mehr über einige dieser neuen spekulativen Theorien zu erfahren). Zum sachlichen Inhalt des Buches möchte ich nur die drei Themen kommentieren mit denen ich mich auch selbst beschäftigt habe.

Zur Rolle der Zeit in der Physik

Smolin beklagt am Anfang des Buches, dass die Zeit  nach und nach aus der Physik eliminiert wurde. Dazu verweist er (1) auf einige isolierte Theorien (z.B. Barbour) und (2) auf Äußerungen von Philosophen und philosophische Äußerungen von Physikern zum Problem Zeit.

Er verweist noch auf weitere Themen (Relativität der Gleichzeitigkeit in der Relativitätstheorie, das (Nicht-)Vorhandensein eines Zeitpfeils), die meiner Meinung nach die Rolle der Zeit zwar abschwächen, aber nicht eliminieren. Es zeigt sich, dass Smolins Beweggründe für seine Kritik und seine Vorschläge für Gegenentwürfe sehr stark von seinen Arbeiten zur Kosmologie getrieben sind. Mir sind die neueren Theorien zur Kosmologie (einschließlich) Smolins Theorien noch zu spekulativ. Dass Smolin das anders sieht, ist verständlich. Ich bin sicher, dass Smolin das besser einordnen kann als ich. Trotzdem, meine ich, dass man viele von Smolins Kritikpunkten und Ideen auch ohne Bezug zur Kosmologie bringen könnte und sollte.

Zur Rolle der Mathematik in der Physik

Smolin kritisiert nicht die Mathematik (wie könnte er auch) sondern die Bedeutung, die der Mathematik von den Physikern beigemessen wird: In Kapitel 19 "Zukunft der Zeit" schreibt er: "Logik und Mathematik erfassen zwar Aspekte der Natur, aber nie die ganze Natur. Es gibt Aspekte des wirklichen Universums, die in der Mathematik nie repräsentiert werden können". Wenn man "nie repräsentiert werden können" ersetzt durch "derzeit nicht repräsentiert sind" fallen mir dazu drei Beispiele ein, die alle auch etwas mit der Zeit zu tun haben:

(1) Die Zeitsymmetrie der Gesetze der Physik: Die Physiker sind sich anscheinend einig, dass die Gesetze der Physik zeitsymmetrisch sind (bis auf wenige Ausnahmen). Ich behaupte, dass diese Zeitsymmetrie nur im mathematischen Sinne gegeben ist  (bei entsprechender mathematischen Definition). Die Zeitsymmetrie verschwindet, wenn man die Anwendung der Gesetze der Physik (z.B. zur Beschreibung der Entwicklung des Universums) betrachtet.

(2) Das "Blockuniversum" der Relativitätstheorie. Smolin versteht unter dem Blockuniversum das vier-dimensionale Raumzeitkontinuum, welches durch die Relativitätstheorie begründet wurde. Smolin sieht das Blockuniversum als einen weiteren Schritt in Richtung Eliminierung der Zeit. Auch hier meine ich, dass dieser vier-dimensionale Raum mathematisch Sinn macht für gewisse Berechnungen, dass jedoch in unserem real existierenden Universum immer nur das jeweilige Jetzt existiert. (Deswegen sind auch Zeitreisen nicht möglich).

(3) Die korrekte Beschreibung von physikalischen Prozessen. Ein bekannter Physiker hat mich belehrt, dass in der Physik Prozesse immer durch Differentialgleichungen beschreibbar sein müssen. Ich halte dies für eine Einengung (auf bewährte Mathematik) die außerhalb der Physik kaum verständlich ist.

Zur Entropie

Im Kapitel 16 beschreibt Smolin kurz aber trotzdem sehr gut das Wesen der Entropie (mit Mikrozuständen und Makrozuständen). Er beschreibt aber auch, dass durch die Gravitation verursachte Entwicklungen (z.B. Sternenbildung) höhere Komplexität (z.B. Leben) entstehen kann. Ob man dies als Abweichung vom Entropiegesetz (d.h. zweiter Hauptsatz) betrachten muss, lässt Smolin offen. Mir ist dies sympathischer als die Verrenkungen mancher Physiker die auch Gravitationseffekte mit zunehmender Entropie zu erklären versuchen.




Am 27.8.2014 schrieb Peter Hiemann aus Grasse:


Lee Smolin: Auf dem Weg zu einem neuen Verständnis des Kosmos [Untertitel des Buches]


Lee Smolin gilt als einer der renommiertesten Physiker der Gegenwart. Smolin hat in einem Buch dargelegt, dass seines Erachtens die Zeit gekommen ist, dass sich die Physiker um einen neuen Ansatz der theoretischen Physik bemühen. Das Buch beginnt mit einem vielversprechenden Prolog, in dem Smolin folgende Zielsetzungen seiner Bemühungen darlegt:

- Physikalische Gesetze müssen durch historische evolutionäre Veränderungen des Kosmos erklärt werden.

- Physikalische Gesetze spielen für die Physik eine ähnliche Rolle wie Gene in der Biologie.

- Erkenntnisse der Physik, der Biologie und der Informatik erfordern die Behandlung von Entitäten in netzwerkartigen Verknüpfungen.

- Eine Neuorientierung der theoretischen Physik ist vergleichbar mit der Darwins Neuorientierung der Biologie

- Eine Neuorientierung der Physik erfordert zusätzlich zu statistischen Methoden einen prozessorientierten Ansatz

- Eine Neuorientierung der Physik berücksichtigt (erlaubt) emergente Phänomene.


Smolins Vorgehensweise lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Zusätzlich zum Newtonschen Paradigma einer „beobachtenden Physik“ mit dominanten mathematischen Erklärungen physikalischer Phänomene versucht er, Ansätze hin zu einer „seienden Physik“ mit empirischen Erklärungen der Quantenphysik und Relativitätstheorie zu beschreiben. Smolin betont bei allen Überlegungen hinsichtlich eines neuen Ansatzes der theoretischen Physik, dass die existierenden physikalischen Gesetze nur für sogenannte „isolierte Systeme“ gelten. Smolin postuliert jedoch, dass in der Natur kein System existiert, das „vom Einfluss des übrigen Universums isoliert ist“. Smolin diskutiert mögliche  Ansätze einer neuen „universalen“ Theorie, in deren Rahmen heute von Physikern benutzte Gesetze für „isolierte“ Systeme (Subsysteme) ihre Gültigkeit mehr oder weniger behalten. Heute benutzte physikalische Theorien interpretiert Smolin als Näherungen einer neuen physikalischen Theorie, in der die Zeit (verschiedenste Zeitpfeile) im Gegensatz zu den existierenden Theorien eine entscheidende Rolle spielt.

Smolin benutzt eine historische Sicht physikalischer Erkenntnisgewinne. Für seine neuen Sichtweisen beruft er sich unter anderen auch auf Louis de Broglie und David Bohm. Smolin bemüht sich ins besondere auch, physikalisch unbefriedigende Aussagen der Quantentheorie durch neue Ansätze aus der Welt zu schaffen, wobei er gleichzeitig  berücksichtigt, dass seine Ansätze mit Aussagen der Relativitätstheorie „verträglich“ sind.  

Wer Smolins Hauptgedankengang nachvollziehen möchte, findet im letzten Kapitel „Die Zukunft der Zeit“ die wichtigsten Gedankengänge, denen er in seinem Buch nachgegangen ist. Zitat: „In der Wissenschaft gibt es keine Gewissheiten. Angesichts der Ungewissheit können wir jedoch versuchen, wohlüberlegte Argumente für unterschiedliche Hypothesen zu konstruieren. Genau das habe ich hier getan“. Einige seiner „wohlüberlegten Argumente“ für einen neuen Ansatz der theoretischen Physik sind hier zusammengefasst und kommentiert.

Smolin ist überzeugt, dass das von ihm so genannte „Newtonsche Paradigma“ überwunden werden muss. Damit will er sagen, dass es nicht ausreicht, mathematische Berechnungen anzustellen, um experimentelle Ergebnisse grundlegend zu erklären. Mathematik ist lediglich eine leistungsfähige und wichtige Methode der Wissenschaft, eine Sprache der Wissenschaft. Zitat: „Die letztendlich beherrschende Sprache der Wissenschaft ist die natürliche Sprache.“ 

Weniger überzeugend argumentiert Smolin, wenn er vermutet, dass ein „Metagesetz“ existieren könnte, das „die Entwicklung von Gesetzen regiert“. Er erwartet von weitergehenden  Arbeiten zur Quantentheorie der Gravitation, wie zum Beispiel Arbeiten zur Loop-Quantengravitation oder der Stringtheorie, ein „tieferes Verständnis“ seiner Vermutung. Parallel setzt Smolin auf astrophysikalische Arbeiten, die sich der Hypothese einer möglichen „kosmologischen natürlichen Selektion“ widmen.
 
Smolin widmet sich im Kapitel „Quantenmechanik und die Befreiung des Atoms“ einem Prinzip, das er „Prinzip der Präzedenz“ nennt. In diesem Kapitel wird deutlich, welch starke Bedeutung Smolin philosophischen Argumenten zubilligt. Zitat: „Dieses Prinzip würde bei echten neuen Fällen entscheidend werden. Denn wenn sich die Natur wirklich nach einem Präzedenzprinzip und nicht nach zeitlosen Gesetzen verhält, gäbe es in einer Situation, in der es keine Präzendenzfälle gibt, auch keine Vorhersage darüber, wie sich ein System verhalten könnte.“ Smolin sieht in dem angelsächsischen Gewohnheitsrecht ein Analogon zu seinem Präzedenzprinzip und postuliert: „Alle Dinge neigen dazu, Gewohnheiten anzunehmen“. Das gilt für Smolin auch für „Atome und ihre Teile, Moleküle und Molekülgruppen“. Smolin glaubt, dass Physiker mittels des Präzendenzprinzips dem „Würgegriff des Determinismus“ entkommen können.   


Kommentar: Biologen würden bei einen vergleichbaren Sachverhalt (echter neuer Fall) von einer Mutation eines existierenden biologischen Moleküls (DNA), bzw. von einer genetischen Veränderung sprechen. Das Ereignis einer natürlichen biologischen Mutationen ist nicht vorhersagbar. Die biologischen Konsequenzen einer genetischen Veränderung können mit molekularbiologischen Methoden analysiert werden. Biologen, Neurobiologen und Mediziner versuchen, echte neue Fälle mittels moderner evolutionstheoretischer Methoden zu erklären. 


Im selben Kapitel findet der Leser Smolins Überlegungen hinsichtlich der  Phänomene Nichtlokalität und Verschränktheit quantenphysikalischer Ereignisse und dem leidigen Messproblem der Quantentheorie. Smolin stellt sich dabei auch der Frage, „wie viel Freiheit ein Quantensystem aufweisen kann“.  Im Kapitel „Prinzipien für eine neue Kosmologie“ beruft sich Smolins ebenfalls auf philosophische Prinzipien, um die für ihn wichtigsten Fragen der Kosmologie zu diskutieren, die eine neue Theorie der Physik beantworten soll:


- Warum wurden die existierenden Gesetze ausgewählt, mit den unwahrscheinlichen fundamentalen Konstanten, die im Standardmodell definiert sind?  

- Warum erforderte unser Universum Anfangsbedingungen, die unserem Universum ganz ungewöhnliche Eigenschaften vermitteln, im Vergleich zu allen möglichen Universen, in denen gleiche Gesetze gelten?

- Wird die Zeit im Unterschied zu allen Theorien seit Newton eine wesentliche Rolle spielen?
 
Smolin beruft sich in seinen Überlegungen dazu auf den Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz und den Mathematiker, Philosoph und Logiker Charles Sanders Peirce. Von Leibniz übernimmt er das „Prinzip des zureichenden Grundes“ und das „Prinzip keiner unerwiderten Einwirkungen“. Leibniz postuliert, dass „es auf jede vernünftige Frage eine Antwort geben sollte“ und dass „es nichts geben sollte, das auf andere Dinge wirkt, ohne das es selbst Gegenstand von Einwirkungen ist“. Von Peirce übernimmt Smolin die Arbeitshypothese „ Ein Gesetz ist schlechthin das, was einen Grund benötigt. Die einzige Möglichkeit, die Naturgesetze  und Gleichförmigkeiten im Allgemeinen zu erklären, besteht darin, sie als Ergebnis der Evolution zu erklären“.
 
Smolin kommt auf Grund dieser Prinzipien zu zwei überraschenden Schlussfolgerungen. Danach kann es „keine fundamentalen Symmetrien in der Natur geben“. Er erwartet, dass eine neue Theorie Vorhersagen ermöglichen wird, dass Naturgesetze sich vor dem Urknall unseres Universums entwickeln konnten. Im Folgekapitel „Die Evolution von Gesetzen“ diskutiert Smolin zum Teil Vorstellungen, die sich aus einer neuen kosmologischen Theorie ergeben könnten:

- keine Notwendigkeit des anthropischen Prinzips

- Erzeugung neuer Universen innerhalb von schwarzen Löchern (schwarzes Loch als Reproduktionsmechanismus)

- Analogie zwischen Veränderungen physikalischer Parameter und biologischer Variation und Selektion

- Analogie zwischen Konstanten des Standardmodells und Genen der Biologie

- Fitness eines Universums wird ein Maß dafür sein, wie viele schwarze Löcher es hervorbringt

- die kosmologische Evolution wird „fruchtbare“ Regionen innerhalb eines Universums hervorbringen

- die kosmologische natürliche Selektion wird eine neue Vorstellung der Inflationstheorie bewirken

- die Vorstellung von „Populationen von Universen“ bewirkt eine neue Vorstellung von physikalischer Gleichzeitigkeit

Kommentar: Smolins Vorstellungen kosmologischer Evolution sind äußerst fragwürdig. Die vorgestellten Analogien möglicher physikalischer Phänomenen mit biologischen Phänomenen entsprechen nicht komplexen Vorstellungen moderner Evolutionstheorie.  

In dem Kapitel „Die Wiedergeburt der Zeit aus Wärme und Licht“ äußert sich Smolin auch zu dem Phänomen „Selbstorganisation“, das zum Thema evolutionäre Entwicklung gehört. Smolin betrachtet Selbstorganisation als Tendenz, dass sich extern angetriebene Systeme selbstständig spontan verändern können. Biologen betrachten Selbstorganisation als permanenten autopoietischen [sich selbst (bezogen auf ein System) herstellend, erzeugend, erhaltend] Prozess. Das Phänomen selbst ist heute noch nicht verstanden, wird aber an äußerst komplexen biologischen und neurobiologischen Systemen mit äußerst komplexen netzwerkartigen Verknüpfungen beobachtet und erforscht.  

Das Thema physikalische Netzwerke in einer neuen kosmologischen Theorie diskutiert  Smolin im Kapitel „Die Entstehung des Raumes“. Smolin schlägt eine neue Vorstellung von physikalischen Raum vor. Raum „isolierter“ Systeme betrachtet er als „illusionäre“ Vorstellung wie Temperatur und Druck eines in einem Behälter eingeschlossenen Gases. So wie in der Thermodynamik Temperatur und Druck sich letztlich „auflösen“ in  Bewegungen von Atomen oder Molekülen,  könnte eine neue kosmologische Theorie eine fundamentale Quantenstruktur postulieren, die keinen Raum zu ihrer Definition benötigt.

Das Kapitel bietet eine Menge Gelegenheiten, sich mit physikalischen Begriffen und Hypothesen auseinanderzusetzen, die für physikalische Laien wohl immer unverständlich bleiben dürften:

-  Quantum Gravity

-  Loop-Quantengravitation

-  Quantenzustand der Geometrie des Raumes

-  Atome des Raumes auf der Planckskala

-  Geometrogenese (Emergenz des Raumes, Alternative zur Inflationshypothese)

Immerhin stellt Smolin in dem Kapitel die für einen physikalischen Laien sehr berechtigte Frage: „Warum sieht die wirkliche Welt wie ein dreidimensionaler Raum aus und nicht wie ein miteinander hoch verbundenes Netzwerk?“ Smolin schlägt vor, sich die Raumvorstellungen einer neuen kosmologischen Theorie wie ein Netzwerk von Mobiltelefonnutzern vorzustellen.
 
Kommentar: Bei einem Netzwerk von Mobiltelefon-Nutzern  kommt es darauf an sich vorzustellen, welche Benutzer Zugang zum Netz haben (statische Sicht auf die Struktur des Netzes) und welche Benutzer zu einem gegebenen Zeitpunkt miteinander kommunizieren (dynamische Sicht auf sich laufend ändernde aktive Verbindungen in einem Netz). Molekularbiologen und Neurobiologen berücksichtigen beide Sichtweisen, indem sie zwischen Anatomie von und interaktiven Prozessen zwischen biologischen Elementen unterscheiden. Bei Smolins Arbeitshypothesen werden die beteiligten kommunizierenden Elemente nicht ersichtlich. Nach Smolins Vorstellungen einer neuen kosmologischen Theorie „gibt es keine „elementaren“ Teilchen mehr; alles was sich wie ein Teilchen verhält, ist bis zu einem gewissen Grad eine „emergente Konsequenz“ [sic!] eines Netzwerks von Wechselwirkungen“. Alles klar? 

Smolin bezeichnet eine Eigenschaft von etwas, das aus Teilen besteht, als emergent, wenn es keinen Sinn machen würde, die Eigenschaft einem der Teile zuzuordnen. In der Systemtheorie bedeutet Emergenz (vom lateinischen emergere für „das Auftauchen“), die spontane Herausbildung von neuen Eigenschaften oder Strukturen eines Systems infolge des Zusammenspiels seiner Elemente. Emergente Phänomene sind Teil der biologischen Evolution, nicht vorhersehbar und nicht berechenbar. 

Das Kapitel „Leben und Tod des Universums“ scheint das wichtigste zum Verständnis von Smolins Bemühungen zu sein. Er diskutiert mögliche Antworten auf die Frage: Warum ist das Universum lebensfreundlich? Er stellt anfangs des Kapitels fest, dass die gegenwärtigen physikalischen Theorien, in denen Zeit  unwesentlich ist, Smolin bezeichnet deshalb die Zeit als „emergent“(?), die „gerichtete“ Herausbildung komplexer Strukturen höchst unwahrscheinlich macht. Nach Smolin beobachten wir aber nicht nur komplexe Strukturen auf vielen Größenskalen (Galaxiencluster bis hin zu biologischen Molekülen), wir wissen auch, dass sie relativ stabil sind und wachsen können. Smolin postuliert: „Die Komplexität, die wir um uns herum sehen, würde mit der Zeit höchstwahrscheinlich abnehmen, anstatt zunehmen, wenn sie ein Werk des Zufalls wäre.“ Danach entwickelt Smolin seine Vorstellungen für eine neue „evolutionäre“ Theorie kosmologischer Entwicklungen:

- Aristoteles und dessen Nachfolger, die annehmen, das Universum befinde sich in einem Gleichgewichtszustand, liegen falsch. 

- Die moderne Thermodynamik unterscheidet zwischen Mikro- und Makrozuständen eines Systems

- Entropie ist das Maß für die Anzahl der Möglichkeiten, ein funktionierendes System aus seinen Einzelteilen zusammenzusetzen 

- Entropie ist eine emergente Eigenschaft der Makroebene eines Systems

- Eine Katze ist eine äusserst unwahrscheinliche Möglichkeit der Anordnung von Atomen. Eine Katze besitzt geringe Entropie, aber einen hohen Informationsgehalt 

- Es gibt Fluktuationen innerhalb Systeme, bei denen die Entropie eines Systems sich reduziert. Sie sind nicht wahrscheinlich (man muss lange warten).

- Es gibt viele Zeitpfeile: kosmologischer, thermodynamischer, biologischer, elektromagnetischer (des Lichts), der Gravitationswellen

- Sterne halten durch Ausströmen heißer Photonen in den kalten Raum das Universum fern vom Gleichgewichtszustand

- Das beobachtbare Universum erfordert zeitasymmetrische Anfangsbedingungen 

- Eine zeitasymmetrische kosmologische Theorie ist weitaus natürlicher, wenn die Zeit fundamental (nicht relativ) ist.   

- Thermodynamik ist nicht auf das Universum als Ganzes anwendbar

- Die Vorstellung Boltzmanns, dass die Entropie des existierenden Sonnensystems (entstanden aufgrund einer großen Fluktuation) ständig zunimmt, ist falsch.

- Es ist viel wahrscheinlicher, dass wir mit mit einem heißen Fleck am Himmel leben, anstatt mit Sonne, Planeten, Kometen und allem Drum und Dran.
 
Kommentar: Smolin scheint zu übersehen, dass zufällige Ereignisse (z.B. Mutationen, Rekombinationen) nicht gerichteter evolutionärer Entwicklungen eine wesentliche Rolle bei der Bildung komplexer Strukturen spielen, die für eine gewisse Zeitperiode relativ stabil sein können oder nur relativ kurzfristig existieren.   
 
Smolin ist übrigens überzeugt, dass wir nicht in einem „Boltzmann Universum“ sondern in einem „Leibniz Universum“ leben. Nach Smolin reicht das einfache Leibniz'sche Prinzip „Identität des Ununterscheidbaren“ aus, das Universum als Ganzes zu formen; weil sich aus dem  Prinzip die simple Forderung ergibt, dass das Universum keine zwei identische Gegenstände enthalten kann. Smolins Vorstellungen von einem Leibniz Universum finden sich im Kapitel „Die Wiedergeburt der Zeit aus Wärme und Licht“. Ein paar seiner Gedanken seien hervorgehoben:

-  Systeme befinden sich nicht im Gleichgewichtszustand, sondern in einem dynamischen Fließgleichgewicht

- Das Prinzip der angetriebenen Selbstorganisation gewährleistet ein facettenreiches komplexes Universum

- Leben ist das Ergebnis des konstanten Energieflusses durch ein System

- Natürliche Selektion ist ein Mechanismus der Selbstorganisation

- Selbstorganisierte Systeme werden durch Rückkopplungsmechanismen stabilisiert

- konkurrierende Rückkopplungsmechanismen bewirken räumliche und zeitliche Muster

- Die Prozesse der Selbstorganisation in einer Galaxie werden vom Sternenlicht angetrieben 

- Wachsende Komplexität und Zunahme von Entropie im Universum sind kompatibel, solange wachsende Komplexität an verschiedenen Orten vorkommt. 

- Ein einziges Energiequantum könnte die Bildung eines komplexen Moleküls katalysieren.
 
Kommentar: Dieses Kapitel ist ein Hinweis, dass Smolin versucht, lebende Systeme in seinen Überlegungen zu berücksichtigen. Es wäre interessant zu erfahren, in welchem Experiment ein einziges Energiequant ein Molekül katalysiert hat. In biologischen Systemen agieren Enzyme als Katalysatoren. Enzyme sind Proteine, deren Struktur in DNA kodiert sind. Smolins Aussagen über Mechanismen der Selbstorganisation können  indirekt als systemtheoretische Vorstellungen von Autopoiese interpretiert werden.  
 
In dem Kapitel „Die Schlacht zwischen Relativitätstheorie und Quantentheorie“ diskutiert Smolin, ob die Quantenbeschreibungen eines kleinen Subsystems sich in eine kosmologische Theorie einbetten lassen. Smolin glaubt, dass das möglich ist, und liefert folgende Überlegungen:

- Smolin betrachtet die existierende Quantenmechanik lediglich als Algorithmus zur Vorhersage von Wahrscheinlichkeiten

- Unbestimmtheiten der Quantentheorie können als Eigenschaften von Teilchen interpretiert werden, weil sie durch verborgene Beziehungen zum Universum als Ganzes verflochten sind. Er postuliert die Möglichkeit „relationaler  verborgene Variablen“.

- Smolin beruft sich auf eine erste Theorie verborgener Variabler von Louis de Broglie. De Broglie war in der Lage, die Eigenschaften Welle und Teilchen quantenmechanischer Prozesse mit der Wechselwirkung zwischen Welle und Elementarteilchen zu erklären.

- David Bohm hat später unabhängig ebenfalls eine Theorie verborgener Variablen vorgestellt, sodass man heute von der De-Broglie-Bohm Theorie spricht. 

- Der Ort eines Elementarteilchens ist unbestimmt, weil die Anfangsposition des Teilchens unbekannt (verborgen) ist. 

- Die De-Broglie-Bohm Theorie erfüllt leider nicht die Forderung von Smolins Vorstellungen einer neue kosmologischen Theorie, dass alle Wirkungen reziprok sind. 

- John Bell nannte de Broglies Theorie eine Theorie von „seienden Größen“ (beables), die Quantentheorie eine Theorie von beobachtbaren Größen (observables)

- die sonderbaren Eigenschaften von Quantensystemen beschränken sich auf atomare Systeme, weil diese in einer Vielzahl von Kopien vorkommen.

- Verschränktheit von Elektronen lässt sich als „Spiel springender Elektronen“ auffassen. Da solche „Sprünge“ augenblicklich über beliebig große Entfernungen stattfinden, verliert  die spezielle Relativitätstheorie ihre Gültigkeit.

- Smolin vertritt (wie auch Einstein vor ihm) die Ansicht, dass sich Quantenbeschreibungen nicht auf Einzelsysteme sondern auf Systemgesamtheiten beziehen müssen („Ensemble-Interpretation“), damit unnatürliche theoretische Interpretationen unnötig werden. 

In dem anschließenden Kapitel „Die Wiedergeburt der Zeit aus der Relativitätstheorie„ stellt Smolin eine Theorie vor, die als Formdynamik (shape of dynamics) bezeichnet wird.  Diese sehr junge Theorie basiert auf dem Prinzip, dass alle wirklichen physikalischen Veränderungen mit Formen von Objekten (Strukturen) verknüpft sind. Was den Zeitbegriff angeht, interpretiere ich Smolins Vorstellungen so, dass er einen grundlegenden Unterschied zwischen (isolierten) Inertialsystemen und einem kosmischen Universalsystem macht:

- Für Inertialsysteme gilt die Relativitätstheorie, in der für die Beobachtung eines physikalischen Ereignisses die Größe eines Objekts keine Rolle spielt und die Zeit relativ zum Beobachter ermittelt werden muss.   

- Für Universalsysteme gilt die Formdynamik, in der für die Beobachtung eines physikalischen Ereignisses die Form eines Objektes die entscheidende Rolle spielt und die Zeit absolut gemessen wird.   

Abschließender Kommentar:

Smolins Vorstellungen, die theoretische Physik zu "revolutionieren", indem er mögliche Konfigurationen des Universums und die Einführung eines fundamentalen gerichteten Zeitbegriffs in physikalische Gesetze in verschiedenen Kapiteln zum Teil redundant (wiederholt) diskutiert, lassen keinen systematischen Ansatz zu einer neuen physikalischen Theorie erkennen. Insbesondere lässt sich nicht erkennen, wie physikalische Gesetze als Resultat kosmischer Evolution interpretiert werden können. Smolins Vorstellungen evolutionärer Entwicklungen entsprechen nicht den Vorstellungen moderner Evolutionstheorie.  Vielleicht braucht es mehr führende Physiker, die sich auch mit Phänomenen der Molekularbiologie und der biologischen Evolutionstheorie auseinandersetzen. Erwin Schrödinger war so ein führender Physiker. In öffentlichen Vorträgen hat der versucht, „den Grundgedanken, der zwischen der Biologie und der Physik hin- und herspringt, gleicherweise dem Physiker wie dem Biologen deutlich zu machen. …..Die große, wichtige und heiß umstrittene Frage lautet: Wie lassen sich die Vorgänge in Raum und Zeit, welche innerhalb der räumlichen Begrenzung eines lebenden Organismus vor sich gehen, durch die Physik und die Chemie erklären? …..Die Anordnung der Atome und deren wechselseitige Beziehung in den lebenswichtigen Teilen eines Organismus unterscheiden sich sehr wesentlich von allen Atomanordnungen, welche Physiker und Chemiker bisher zum Gegenstand ihrer experimentellen und theoretischen Forschung gemacht haben.“ (Erwin Schrödinger: Was ist Leben – Die lebende Zelle mit den Augen des Physikers betrachtet).
 
Schrödingers „große, wichtige und heiß umstrittene Frage“ steht nach wie vor unbeantwortet im Raum. Lee Smolin ist mit seinen Überlegungen einer Antwort kaum  näher gekommen. Den Erwartungen, die der Prolog seines Buches geweckt hat, ist er meines Erachtens nicht gerecht geworden.

Mittwoch, 23. Juli 2014

Zwei deutsche Informatiker über ihre Arbeit in den USA und in der Cloud

Thomas Fanghänel ist als Principal Member of Technical Staff bei Salesforce.com in San Francisco, Kalifornien, tätig. Sein beruflicher Schwerpunkt dort sind Datenbanksysteme für Cloud-Anwendungen. Salesforce.com ist ein weltweit führender Anbieter von CRM-Software (Customer Relationship Management) als Cloud-Lösung, also in Form von Software as a Service (SaaS) im Internet. Fanghänel studierte ab 1997 Informatik mit einem Schwerpunkt in Datenbanken an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Während des Studiums war er ein Jahr in den USA als Praktikant am IBM Silicon Valley Lab in San Jose, Kalifornien, wo auch seine Diplomarbeit zum Teil entstand. Nach dem Studienabschluss 2003 trug Fanghänel, noch von Jena aus, zur Datenbanksprachnormung (SQL-Standard) bei und es folgten für ihn dann neun Jahre in der Datenbankentwicklung bei IBM (San Jose, Peking). Schwerpunkte waren dabei u.a. die Entwicklung von Datenbanksystemen für mobile Endgeräte, die Speicherung und Indizierung von XML-Daten sowie Datenkomprimierung. Seit dem Wechsel zu Salesforce.com 2012 beschäftigt sich Fanghänel vorwiegend mit den Themen Cloud und Multi Tenancy (Mehrmandantenfähigkeit) von der Datenhaltungsseite.


Wolfgang Krause ist seit 2012 ebenfalls bei Salesforce.com in San Francisco tätig. Er wurde als Performance Engineer eingestellt und leitet seit 2014 eines der Performance Testing Teams. Wolfgang Krause studierte ab 2002 Informatik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Während des Studiums absolvierte er nach dem Vordiplom knapp drei Praxisjahre bei IBM: in Böblingen, in San Jose und in Toronto. Seine Diplomarbeit lief in diesem Kontext und Zeitrahmen ebenfalls in gemeinsamer Betreuung mit IBM. All diese Aktivitäten waren fachlich dem Datenbankbereich zugeordnet. Mit Diplomabschluss ging Krause 2010 zum Unternehmen MarkLogic in San Francisco, einem XML-Datenhaltungsspezialisten. 2012 wechselte er dann zu Salesforce.com ins Performance Engineering („Perfeng“). Krause ist nebenher privat seit Jahren auch aktiver Blogger unter wolfys-life.blogspot.com


Klaus Küspert (KK): Herr Fanghänel, Herr Krause, um mit einem Lieblingsthema von mir zu beginnen: Sie hatten beide jeweils schon während des Studiums, wie man sieht, sehr viel Praxiserfahrung mit „eingebaut": Ein Jahr bzw. sogar beinahe drei Jahre, davon das meiste in Nordamerika. Wie sehen Sie's aus heutiger Sicht zeitlich und inhaltlich: „Goldrichtig", zu viel, zu wenig? Was würden Sie heute diesbezüglich vielleicht anders machen oder sehen eventuell Dinge anders? Das interessiert sicher auch heutige Studierende und Vertreter der Praxis.

Thomas Fanghänel (TF): Ich bin nach wie vor der Meinung, dass mein Jahr 2000/01 bei IBM in San Jose zeitlich genau richtig war.  Wenn man im Studium eine Auszeit nimmt, dann geht das ja quasi nur „granular”, d.h. semesterweise.  Ein halbjähriges Praktikum wäre u.U. auch möglich gewesen, aber im Nachhinein kommt es mir so vor, dass besonders die zweite Hälfte meines Praktikums fachlich den größten Wert hatte.  Anfangs muss man sich erst einmal an die neue Umgebung, die Sprache und kulturelle Rahmenbedingungen gewöhnen.

Ehe man sich vollkommen eingelebt hat, dauert es deshalb schon einige Zeit.  Und auch im Team braucht es eine gewisse Eingewöhnungsphase und einiges an Beharrlichkeit, ehe man als Praktikant inhaltlich interessante Arbeit verrichten kann. IBM legte deshalb, zumindest damals, Wert darauf, dass solch Auslandspraktikum möglichst neun, besser zwölf Monate dauert. Das sieht man wahrscheinlich heute noch genau so.

Wolfgang Krause (WK): Bei mir waren es in der Summe 35 Monate. Das war natürlich schon etwas außergewöhnlich, von den Kommilitonen machte keiner derart viele Praktika. Erst ein bisschen in Böblingen (sieben Monate), zeitlich unmittelbar danach ein Jahr nach Kalifornien und schließlich 16 Monate (d.h. zwei  Winter!) in Toronto, Kanada, wo auch meine Diplomarbeit in jener Zeitperiode lief. Inhaltlich war „Praktikant sein” wie Vollzeitangestellter: ernsthafte Projekte und Arbeit mit verschiedenen Teams. Nur die Bezahlung war etwas geringer, aber gut nebenher auch für jede Menge Spaß und Reisen in den jeweiligen Gegenden. Die Zeit in Nordamerika war so gut, dass die GreenCard, die ich dann in der GreenCard Lottery gewann, wie gelegen kam, um als richtiger Vollzeitangestellter zurück in die San Francisco Bay Area zu gehen bzw. dort dann zu bleiben.

KK: Bei diesen Nordamerika-Aufenthalten (San Jose, Toronto): Wie „erklärungsbedürftig" war ggf. Ihr Diplomstudium bzw. nachher Ihr Diplom (wegen der anderen akademischen Grade dort)? Ich vermute, bei IBM in San Jose waren und sind die deutschen „Diplomer" recht bekannt durch ihre hohe Anzahl vor Ort, so dass nicht viel erklärungsbedürftig war und ist. Oder haben Sie ohnehin das Diplom dann begrifflich einfach in den Master „übersetzt", was man ja recht guten Gewissens tun konnte und kann?

WK: Als Praktikant in den USA hatte ich die Erfahrung gemacht, dass wenn HR (Human Resources, also die Personalabteilung) nach „University Credits” fragt, man denen lieber irgendeine Zahl gibt als versucht zu erklären, dass es so etwas in Deutschland nicht gibt (wie es ja zu meinen Diplomzeiten der Fall war). Wenn deren Formular nach Credit Points fragt, muss da nachher eine Zahl drin stehen, damit sie das Gehalt ausrechnen können: „Gibt’s nicht” oder „not applicable“ passt dort einfach nicht rein. Von dem Moment an war für mich begrifflich Diplom = Master und man lebt „near Berlin”, und wenn man komische Blicke bekommt, dann doch eben „near Frankfurt”. Für einige US-Amerikaner ist „near Kaiserslautern“ auch hilfreich, aber das ist zumindest in meinem Fall dann doch geographisch etwas daneben. Nach dem ersten, erfolgreichen Job freilich ist die zeitlich zurückliegende akademische Ausbildung ohnehin nur mehr ein superkleines Thema, das interessiert dann kaum noch einen. Ich denke, ähnlich zu jenem letzten Punkt wird es auch in Deutschland sein.

TF: Dem kann ich nur zustimmen.  Das Diplom als akademischer Grad war komplett unbekannt, und es gab schon die ein oder andere Hürde zu nehmen, auch in IBM, damit das auch wirklich als Master gewertet wurde.  Am schwierigsten was das ganze eigentlich während des Praktikums.  Das fing damit an, dass Master-Studenten ja i.d.R. schon einen Bachelor als vollwertigen akademischen Abschluss haben.  Einer Personalabteilung in den USA, selbst bei einem „wohlgesonnenen“ Unternehmen, zu erklären, dass man, wenn man ein paar Augen zudrückt, das Vordiplom als mit einem Bachelor vergleichbar einstufen kann, ist nicht gerade einfach.  Es ist aber wichtig, weil man nach vier vollen Universitätsjahren trotz noch fehlenden Abschlusses ja im Praktikum nicht in eine Kategorie mit Studienanfängern fallen möchte. Das hat auch finanziell Bedeutung und für den späteren, weiteren Karriereweg, damit die Zeit auch adäquat angerechnet wird.

Nach dem eigentlichen Uni-Abschluss gestaltet sich die ganze Anerkennung etwas einfacher.  Für das im Fall einer beabsichtigten Festanstellung in den USA notwendige Arbeitsvisum benötigt man eine individuelle Evaluierung des akademischen Abschlusses. Seit diesem Zeitpunkt besitze ich ein beglaubigtes, unterschriebenes und offiziell abgestempeltes Dokument, das die Gleichwertigkeit meines deutschen Diploms aus Jena mit einem amerikanischen M.Sc. bestätigt – „mission accomplished“ sozusagen.

Im Hinblick auf Arbeit und Praktikum im Ausland ist es also sicherlich begrüßenswert, dass sich das deutsche Hochschulsystem in den vergangenen Jahren mehr und mehr an den international gebräuchlichen akademischen Graden und Ausbildungszyklen orientiert. Inhaltlich kamen Diplomabsolventen früher durchaus als gut ausgebildet „an“ und wurden geschätzt, aber zumindest einordnungs- und HR-mäßig waren die genannten Probleme eben vorhanden.

KK: Herr Fanghänel, Sie haben Mitte der 2000er den Produkttransfer des „mobilen DB2", d.h. des IBM Datenbankprodukts DB2 Everyplace, vom Labor in San Jose ins Peking-Labor der IBM mit durchgeführt. Sagen Sie uns etwas zu jenem Aufenthalt im chinesischen Labor der IBM? Meines Wissens stand ja für Sie ein Bleiben bei IBM in China firmenseitig zur Diskussion, aber Sie entschieden sich doch für eine Rückkehr nach Kalifornien (wieder zurück ins IBM Silicon Valley Lab also).

TF: Obwohl ich damals schon ein paar Jahre lang mitten im Arbeitsleben stand, hatte das knappe Jahr, das ich in Peking verbracht habe, viele Parallelen zu meinem Praktikum in den USA. Man kommt in ein unbekanntes Land und muss sich an andere Bräuche und Gepflogenheiten gewöhnen und anpassen.  Erschwerend kommt auch noch hinzu, dass man sich in jenem Teil der Welt als vollkommener Analphabet fühlt und auch für verbale Kommunikation häufig kein kleinster gemeinsamer Nenner vorhanden ist.  Auch die kulturellen Unterschiede am Arbeitsplatz sind schon sehr eklatant.  In China sind nach meinen Erfahrungen die Strukturen sehr viel hierarchischer als ich das vom Silicon Valley her kannte – obwohl es das gleiche Unternehmen, IBM, war.

Trotz diverser Herausforderungen im täglichen Leben habe ich die Zeit in China sehr genossen. Beruflich konnte ich mein Netzwerk sehr erweitern und persönlich habe ich enorm viel gelernt.  Dennoch stand für mich eine Rückkehr nach Kalifornien nie in Frage.  Das Silicon Valley ist zu sehr das Epizentrum der Computerindustrie.  Glauben Sie mir, als Informatiker fällt die „endgültige“ Entscheidung zwischen Peking und San Francisco, wenn sie einem denn abverlangt wird, nicht besonders schwer – außer natürlich, man ist gebürtiger Chinese oder hat solche Wurzeln.

KK: Herr Krause, Sie waren nach dem Diplom 2010 in den USA in Bewerbungsprozessen u.a. bei „Promis“ wie Google, Microsoft, MarkLogic und anderen. Es sind ja teils recht aufwändige und vor allem zeitaufwändige Bewerbungsprozesse dort: für den Bewerber und für die Firma. Schildern Sie uns mal ein paar Aspekte hiervon? In Deutschland ist das ja nach wie vor doch meist „leichtgewichtiger" prozesstechnisch, selbst bei den großen Playern wie SAP, IBM etwa.

WK: Ich dachte immer, in Deutschland sind solche Dinge komplizierter? D.h. man muss oft Assessment Centers mit den Personal- und Fachabteilungen machen? Ich habe mich ja nie in Deutschland für einen Job beworben. Hier in den USA bewirbt man sich, kennt jemanden oder wird gefunden. Das mag ähnlich wie in Deutschland sein. Danach folgen meist mehrere Telefoninterviews und, wenn die gut laufen, dann vier bis sechs oder mehr Interviews an einem Tag vor Ort beim Unternehmen. Große Unternehmen, wie Microsoft, mit Zehntausenden und mehr Bewerbern jährlich, haben dafür hier in den USA ein sehr ausgefeiltes Verfahren, um das alles prozesstechnisch abwickeln zu können. Ich kann mir vorstellen, dass es bei SAP in Deutschland beispielsweise auch erforderlich ist und nicht ganz anders abläuft.

Jetzt, seitdem ich für mein eigenes Team einstelle, sieht man die Dinge noch von einer ganz anderen Seite: „Hiring is complicated“. Denn man will die Stelle ja am besten morgen besetzen, hat nur einen sehr kleinen Pool an guten Bewerbern und weiß nie, ob man jetzt die Person xyz einstellt oder lieber noch zwei Wochen wartet, bis sich jemand Neues bewirbt. Lebensläufe lesen macht man aus Aufwandsgründen in weniger als zwei Minuten. Telefoninterviews sind mehr beidseitiges „Vorstellen” und ein paar technische Fragen. Nach sechs telefonisch vorselektierten Interview-Partnern (Bewerbern) nun vor Ort hat man vielleicht drei davon mit Ergebnis „super, einstellen” und drei mit „nein, nicht qualifiziert”.

Im Allgemeinen sehe ich die Prozesse hier von Bewerberseite als „man trifft das Team”, stellt fest, ob man in der Firma arbeiten möchte und ob man genug Kenntnisse und Motivation hat, den Job zu bekommen. Wie gesagt, ich sehe, dass es diesbezüglich in deutschen und US-amerikanischen Bewerbungsprozessen gar nicht so unterschiedlich abläuft.

KK: Herr Fanghänel, Sie hatten ja, die Praktikumszeit mitgezählt, zehn IBM Jahre (San Jose, Peking), als Sie das Unternehmen verließen und zu Salesforce.com wechselten. Was waren die Gründe, warum geht „man" nach zehn Jahren von IBM weg (ich meine jetzt nicht einen Weggang etwa an die Uni.)?

TF: In der heutigen Zeit und in den hiesigen geografischen Breiten im Silicon Valley gilt man schon als Inventar, wenn man zehn Jahre bei ein und demselben Unternehmen tätig ist.  Insofern könnte man die Frage auch anders stellen:  Wieso ein Wechsel nicht schon viel früher?

Die schiere Größe eines Unternehmens wie IBM gestattet es, dass man über die Zeit an Projekten mit den unterschiedlichsten Schwerpunkten arbeiten kann.  Obwohl ich den Bereich Datenbankentwicklung eigentlich nie verlassen habe, konnte ich eine große technologische Bandbreite abdecken.  Genannt seien hier nur die Erfahrungen mit mobilen Endgeräten, Verschlüsselung, Komprimierung und Hardware-Software-Codesign.  Man kann sich also durchaus vorstellen, dass man es recht lange bei IBM aushalten kann, ohne dass es fachlich öde wird. Aber Interesse an der Abwechslung, auch mal einen anderen Arbeitgeber „auszuprobieren“, war dann bei mir gegeben, wie man sieht.

KK: Herr Krause, nennen Sie uns ein paar „Besonderheiten" des Arbeitens bei Salesforce.com? Bzw. vielleicht ist ja manches davon sogar unternehmensübergreifend typisch in vergleichbaren Unternehmen in der Region San Francisco und dem Silicon Valley. Man hört ja etwa aus Unternehmen wie Google von einer sehr weitgehenden Betreuung der Mitarbeiter und „Firmenfürsorge", inkl. der Wäscherei und anderer privater Dienstleistungsangebote im Unternehmen. Kennen Sie das auch so aus eigener momentaner Tätigkeit?

WK: Also die Salesforce-Firmenkultur „erlaubt” auch ein Leben außerhalb der Arbeit. Hier gibt es keine vierundzwanzigstündige Betreuung. Niemand bringt seine schmutzige Wäsche mit zur Arbeit – auch nicht im übertragenen Sinn des Wortes – und niemand soll hier 24 Stunden am Tag verbringen. Deshalb gibt’s wohl auch kein Frühstück, Mittagessen und Abendessen. Andere Firmen hier im Valley haben in der Tat solche Dinge, wo es dann Abendessen ab 19:30 Uhr gibt und anschließend geht’s munter und stets agil weiter im Büro. Teams bei Salesforce.com arbeiten hart, aber trotzdem gibt’s mehr als nur Arbeit. Das ist mir auch wichtig, etwa aufgrund meiner ausgeprägten privaten Reiselust und -leidenschaft.

KK: Herr Fanghänel, da wir ja laut Überschrift über das „Leben in der Cloud" reden wollen, auch an Sie entsprechend zum heutigen Arbeitgeber: Ein wesentlicher Unterschied im Arbeiten dürfte ja auch darin liegen, dass Sie jetzt in einem relativ jungen und stark wachsenden Unternehmen tätig sind. Das Vorherige bei Ihnen (IBM) zog und zieht hingegen als großes Schlachtschiff schon lange seine Bahnen, mitarbeitermäßig scheint dort eher Konsolidierung angesagt als Wachstum. Äußern sich solche Unternehmensunterschiede auch direkt im Tagesgeschäft für die Mitarbeiter?

TF: Natürlich gibt es große Unterschiede zwischen ehemaligem und derzeitigem Arbeitgeber, die sich direkt aufs Tagesgeschäft auswirken.  Die Entwicklungsprozesse für Software unterscheiden sich signifikant, hauptsächlich bedingt durch die Unterschiede zwischen Cloud- und Lizenz-Modell.  Die Entwicklungszyklen für Cloud-Software sind kurz und genau definiert.  Bei IBM konnten klassischerweise durchaus ein bis zwei Jahre zwischen dem Ende eines Projekts in der Entwicklung und der Markteinführung des fertigen Produktes vergehen.  Für Cloud-Software rechnet man da schon eher in Monaten oder gar Wochen.

Auch in der Unternehmenskultur gibt es signifikante Unterschiede.  Bei Salesforce.com wird Transparenz sehr groß geschrieben.  Kommunikation findet weniger per E-Mail statt und mehr in internen Foren, die für jedermann einsehbar sind.  Das mag für den Außenstehenden nicht besonders revolutionär klingen, hat aber einen enormen Einfluss auf Arbeitsklima und interpersonelles Miteinander.

KK: Herr Krause, Salesforce.com scheint ein Unternehmen zu sein, das den Mitarbeitern auch viele Freiräume gewährt hinsichtlich der Wahl ihres Arbeitsorts und der Arbeitszeiten. Sehe ich das in etwa richtig so? Und Sie haben ja als Teamleiter nun seit einiger Zeit dort Personalverantwortung: Bedeutet das somit für Sie dann doch mehr erforderliche Präsenz am Bürostandort oder bleibt das Arbeiten weiter auch „flexibel in der Cloud"?

WK: Im Großen und Ganzen gilt natürlich: Wenn Mitarbeiter „happy“ sind, sind sie produktiver und bleiben länger bei der Firma. Der Jobmarkt ist ja so gut hier im Valley, dass fast jeder im nächsten Monat einen neuen Job haben kann bei Interesse am Wechsel. Und die Firma arbeitet hart daran, den „Best company to work for”-Status zu behalten. Letztes Jahr waren wir auf Platz 7 in jener Liste der „FORTUNE’s 100 Best Companies to Work For“ – nicht schlecht also.

Zum Thema Arbeitsflexibilität: Donnerstag ist „no meeting Thursday”, welchen fast alle nutzen, um von zu Hause zu arbeiten. Je nach Arbeitsweg arbeiten mache mehr und andere weniger an den anderen Tagen von zu Hause aus. Wenige sind 100% im Home Office. 

Als Teamleiter hat man so viele Meetings, da komme ich lieber ins Büro. Die Kommunikation ist besser and der direkte Kontakt macht einfach mehr Spaß. Klar, wenn ich alle zwei Wochen von meiner Freundin in New York aus arbeite oder meine Eltern und Freunde in Deutschland besuche, dann geht das „working from home” schon. Vollzeit fern des Büros, das geht in meiner Rolle als Teamleiter natürlich nicht mehr. Wenn persönliche Gründe das Vollzeit-Home-Office eine Zeit lang erfordern, dann sind solche Dinge in Absprache möglich. Aber es ist eben nicht die Regel. So hat z.B. Thomas Fanghänel mehr als ein Jahr von Boston aus gearbeitet und ist regelmäßig in San Francisco vorbeigekommen. Solche Dinge belasten dann das Team-Budget mit vielen „Reisekostendollars“ pro Besuch, aber dies ist alles besser, als einen neuen Thomas Fanghänel zu finden. Man geht deshalb mit all den Dingen bei uns im Unternehmen pragmatisch um, wahrscheinlich pragmatischer als in Deutschland, wo etwa Betriebsräte und andere mit entscheiden – was oftmals hilfreich sein mag, aber sicher nicht immer – und Arbeitszeitregelungen auch genauere Rahmenbedingungen vorgeben meines Wissens, mehr als das in den USA der Fall ist.

KK: Herr Krause, ich möchte an die Erörterung Ihrer jetzigen Tätigkeit direkt noch mal kurz anknüpfen, nachgefragt also: Was macht ein Performance Testing Team bei Salesforce.com „genau“? Wie grenzen sich verschiedene Performance Testing Teams inhaltlich ab? Bzw. wo liegen etwa die Unterschiede im Performance Testing für klassische, nicht cloudbasierte Anwendungen zu jenem Testing von Cloud-Angeboten? Das mag sich ja durchaus in manchem unterscheiden.

WK: Performance wird bei uns natürlich „per Cloud” getestet. So wie man sich das von einer Cloud Company vorstellt. Sales Cloud, Service Cloud, Chatter Cloud ... sind hier vorliegende Unterscheidungen und Abgrenzungen. Inhaltlich arbeiten die Performance Testing Teams mit ihren jeweiligen Development Teams eng zusammen. Arbeitet man mit einem Team, das Mobile/UI-basierende Funktionen, also Benutzerschnittstellenaspekte, testet, dann spezialisiert sich das Team auf Mobile & UI. Arbeiten die Teams eher an Database Access, dann verbringt man seine Zeit mit dem. Im Großen und Ganzen kann man die Arbeit und unsere Aufgaben so zusammenfassen:

(1)  Stelle sicher, dass jeder Kunde schnelle Antwortzeiten hat. Das ist recht spannend bei zwei Milliarden Transaktionen pro Tag.

(2)  Stelle sicher, dass Kunde A nicht die Ressourcen von Kunde B aufbraucht und Kunde B nichts von Kunde A merkt. Jeweils Tausende Anwender, also verschiedene Kunden („tenants“), teilen sich die gleiche physische Hardware und haben ihre Daten in den gleichen Tabellen, so dass Ressourcenverbrauch und Lastverteilung entscheidend sind. Kunden können alles mögliche anpassen, eigenen Java-Code ausführen und Geschäftslogik bei uns implementieren. D.h. Kunden können sehr kreativ sein und dürfen trotzdem andere nicht beeinflussen und ihre eigenen Antwortzeiten oder die anderer bewusst oder unbewusst verlangsamen. Da müssen wir also ständig ein Auge drauf haben und Performance-Probleme möglichst im Vorfeld verhindern.

KK: Zum Schluss unseres Interviews, Herr Fanghänel: Wenn Sie auf Ihr, nun gut zehn Jahre zurückliegendes, Studium blicken, was davon hat geholfen oder nicht geholfen im Berufsleben, was hätte die Universität Ihnen eventuell „anders“ angedeihen lassen sollen? Sagen Sie uns und mir also mal bitte die Meinung!!

TF: Alles in allem finde ich, dass ich an der Universität eine hervorragende Ausbildung genossen habe. Der Mix aus praxis- und theoriebezogenen Themen war wohl ziemlich genau richtig. Jedenfalls finde ich nichts daran auszusetzen.  Das einzige, was ich im Nachhinein sehe, das etwas zu kurz gekommen ist, hat mit einem praktischen Thema zu tun. In der Praxis verbringt man mehr Zeit damit, Code zu lesen, als welchen zu schreiben. Und das sowohl zum Zweck von Code Reviews, als auch manchmal aus Gründen fehlender oder lückenhafter Dokumentation.  In der Lage zu sein, effizient Programmcode zu studieren, Zusammenhänge zu erfassen und Korrektheit zu verifizieren ist eine in der Praxis unabdingbare Fähigkeit, die ich mir selbst über die ersten Berufsjahre mühsam erarbeiten musste und die in der Uni-Ausbildung zumindest zu meiner Zeit nur am Rande erwähnt wurde. Vielleicht ist es auch recht schwer lehrbar und muss teils in der Praxis „mit Hand am Arm“ erarbeitet werden. Im weitesten Sinne also all solches, was stark mit Software QA (Quality Assurance, Qualitätssicherung) zusammenhängt. Da könnte und sollte die Hochschulausbildung viel Wert drauf legen, denn es ist im Berufsleben essentiell natürlich.

KK: Herr Fanghänel. Herr Krause, herzlichen Dank für die informativen Antworten. Es sind bestimmt Aspekte darunter, die Praxis- und auch Hochschulvertreter interessieren werden und die studentischen Blog-Leser hoffentlich auch. Ihnen sei ein weiterhin so erfolgreicher Berufsweg in den USA gewünscht und vielleicht kommt ja auch mal wieder die berufliche Rückkehr nach „Old Europe“ in Betracht.