Donnerstag, 17. Juli 2014

Demografischer Wandel aus der Nähe betrachtet

Die Änderung der Bevölkerungsstruktur, speziell die Überalterung, ist oft Gegenstand öffentlicher Diskussionen in den Medien. Manchmal denke ich dann, das ist ja nur eine statistische Betrachtung, betrifft daher andere Leute, aber nicht mich. Nach einem Besuch in meinem Heimatdorf in der Eifel habe ich die dort beobachteten Strukturveränderungen ausführlich beschrieben. Sie fielen mir deshalb besonders auf, weil ich immer nur in gewissen zeitlichen Abständen vor Ort bin. Der Wandel wird dadurch besonders deutlich erkennbar. Die von mir beschriebene Entwicklung ist nicht auf ländliche Regionen beschränkt. Sie hat dort nur besondere Erscheinungsformen. Sie findet ebenso in städtischen Wohngebieten statt.

Wandel in der Familie

Wir wohnen in einer schwäbischen Kleinstadt. Wir, das sind meine Frau und ich, sind beide über 80 Jahre alt. Unsere drei verheirateten Kinder leben in einem Umkreis von rund 200 km zwischen Frankfurt am Main und München. Ich fahre – meiner Gehbehinderung wegen – kein Auto mehr, meine Frau nur noch beschränkt, d.h. innerhalb unserer Stadt. Für größere Fahrten engagieren wir uns Fahrgelegenheiten.

Wir haben, seit ich im Ruhestand bin, mehrere große Reisen unternommen. Es waren kombinierte Flug- und Schiffsreisen, die uns nach Ostasien und nach Südamerika führten. Anlässlich einer Südseereise überquerten wir alle Längengrade der Erde. Jetzt machen wir nur noch Reisen innerhalb Deutschlands, hauptsächlich Verwandtenbesuche. Ich habe keine Veranlassung, in wehleidiges Jammern zu verfallen. Ich bin durchaus beschäftigt. Ich veröffentliche in verschiedenen Medien und halte schriftlichen Kontakt mit vielen Freunden und Kollegen. Unsere Kinder kümmern sich regelmäßig um uns und halten Haus und Garten in Schuss. Wie in einer persönlichen Bilanz bemerkt, kann hohes Alter durchaus sinnstiftend und befriedigend sein. Nicht jedem ist diese Chance vergönnt.

Wandel im Stadtviertel

In unserem Viertel liegen sowohl Einfamilien- wie Mehrfamilienhäuser. In den Einfamilienhäusern gibt es so gut wie keine Kinder. In unserer Straße mit fünf Häusern gibt es ein einziges Schulkind. In den uns am nächsten gelegenen Einfamilienhäusern wohnen drei verwitwete Frauen alleine, zwei mit einer unverheirateten erwachsenen Tochter. In zwei Häusern wohnen je ein älteres Ehepaar allein, in einem ein jüngeres Ehepaar mit einem Kind.

Die bisher im Viertel vorhandenen Läden (Metzger, Lebensmittel-Einzelhändler) haben größtenteils aufgegeben. Eine Verkaufsstelle einer Bäckerei ist weiterhin offen, ebenso der Friseur und der Physiotherapeut. Lebensmittel (Tiefgefrorenes) und Getränke (Bier, Sprudel) werden mit Lieferwagen an manche Häuser zugestellt. Die Anbindung an die Innenstadt ist durch Buslinien gewährleistet.

Das benachbarte Gemeindehaus der katholischen Kirche, in dem sich früher fast täglich Jugendgruppen aufhielten, steht leer. Versuche, die Räume für die Tagespflege von Senioren zu nutzen, schlugen fehl. Auch der sonntägliche Verkehr durch Messebesucher ist zurückgegangen. Hochzeiten finden kaum noch statt. Die Ruhe des Wohnviertels wird nur noch vom Glockengeläut unterbrochen. Auch der berufliche Autoverkehr fällt kaum noch auf.

Wandel in der Gesamtstadt

Unsere Stadt hat einem starken industriellen Kern und daher einen überdurchschnittlichen Ausländeranteil. In den Schulen sind vorwiegend Kinder mit Migrations-Hintergrund. Dennoch wurden mehrere weiterführende Schulen geschlossen. Der Ortskern hat sehr an Attraktivität verloren. Die großen Einkaufszentren an der Peripherie (z.B. Breuningerland und Real) locken die Kundschaft an. Ärzte und Apotheken scheinen sich zu halten.

Ohne es zu wollen, lernten wir die sozialen Dienste schätzen, die unsere Stadt anbietet. Das ‚Essen auf Rädern‘ war wochenlang eine willkommene Lösung, als meine Frau außerstande war, zu kochen. Unsere Nachbarn  ̶  und wir auch  ̶  nutzen ambulante Pflegedienste, wenn nötig. Überall in der Stadt werden neue Altersheime und Seniorenwohnheime gebaut. Manche Bekannte, die sich früh genug entschlossen hatten, haben hier Aufnahme gefunden. Was es – im Gegensatz zu einigen norddeutschen Städten – nicht gibt, sind Mehrgenerationenhäuser. Eine gute Lösung haben diejenigen Kolleginnen und Kollegen gefunden, die einen Alterswohnsitz am Bodensee oder auf Mallorca in ihre Planung einbezogen hatten.

Gründe und Perspektiven

Die Ursachen für die geschilderte Entwicklung sind bestens bekannt. In den 1960er und 1970er Jahren wurden Wohngebiete am Stadtrand erschlossen. Hierher zogen damals gutsituierte, junge Familien mit Kindern. Inzwischen sind die Kinder erwachsen und berufstätig. Sie wählten einen Beschäftigungsort irgendwo in Deutschland, ohne auf die Bedürfnisse der älteren Generation Rücksicht zu nehmen. Es drückt dies ihre eigene Unabhängigkeit aus. Parallel dazu wurde die Innenstadt immer mehr von Ausländern bevölkert. Außerdem werden Flüchtlinge, die vor Armut und Bürgerkrieg flohen, aufgenommen. Wir nehmen dies in Kauf, denn wir sind dankbar, dass unser Land und unsere Generation so gut versorgt und in Frieden leben kann.

Wer hofft, dass diese  Entwicklung nur vorübergehend ist und durch politische Maßnahmen dagegen angesteuert werden kann, hängt einer Illusion an. Viel wichtiger ist es, dafür zu sorgen, dass die wirtschaftliche Leistungskraft des Landes und die politische Stabilität gesichert werden, und dass die Umwelt und die Lebenswelt erhalten bleiben.

1 Kommentar:

  1. Am 17.7.2014 schrieb Otto Buchegger aus Tübingen:

    Wir haben keine Überalterung, wir haben eine Unterjüngung, pflegt der Tübinger Philosoph Höffe zu sagen.

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