Die
Änderung der Bevölkerungsstruktur, speziell die Überalterung, ist oft
Gegenstand öffentlicher Diskussionen in den Medien. Manchmal denke ich dann,
das ist ja nur eine statistische Betrachtung, betrifft daher andere Leute, aber
nicht mich. Nach einem Besuch in meinem Heimatdorf in der Eifel habe ich die
dort beobachteten Strukturveränderungen ausführlich beschrieben.
Sie fielen mir deshalb besonders auf, weil ich immer nur in gewissen zeitlichen
Abständen vor Ort bin. Der Wandel wird dadurch besonders deutlich erkennbar.
Die von mir beschriebene Entwicklung ist nicht auf ländliche Regionen
beschränkt. Sie hat dort nur besondere Erscheinungsformen. Sie findet ebenso in
städtischen Wohngebieten statt.
Wandel
in der Familie
Wir
wohnen in einer schwäbischen Kleinstadt. Wir, das sind meine Frau und ich,
sind beide über 80 Jahre alt. Unsere drei verheirateten Kinder leben in einem
Umkreis von rund 200 km zwischen Frankfurt am Main und München. Ich fahre – meiner
Gehbehinderung wegen – kein Auto mehr, meine Frau nur noch beschränkt, d.h.
innerhalb unserer Stadt. Für größere Fahrten engagieren wir uns
Fahrgelegenheiten.
Wir haben,
seit ich im Ruhestand bin, mehrere große Reisen unternommen. Es waren kombinierte
Flug- und Schiffsreisen, die uns nach Ostasien und nach Südamerika führten.
Anlässlich einer Südseereise überquerten wir alle Längengrade der Erde. Jetzt
machen wir nur noch Reisen innerhalb Deutschlands, hauptsächlich
Verwandtenbesuche. Ich habe keine Veranlassung, in wehleidiges Jammern zu verfallen. Ich bin
durchaus beschäftigt. Ich veröffentliche in verschiedenen Medien und halte
schriftlichen Kontakt mit vielen Freunden und Kollegen. Unsere Kinder kümmern
sich regelmäßig um uns und halten Haus und Garten in Schuss. Wie in einer persönlichen Bilanz bemerkt, kann hohes
Alter durchaus sinnstiftend und befriedigend sein. Nicht jedem ist diese Chance
vergönnt.
Wandel
im Stadtviertel
In
unserem Viertel liegen sowohl Einfamilien- wie Mehrfamilienhäuser. In den
Einfamilienhäusern gibt es so gut wie keine Kinder. In unserer Straße mit fünf Häusern gibt es ein einziges Schulkind. In den uns am nächsten
gelegenen Einfamilienhäusern wohnen drei verwitwete Frauen alleine, zwei mit einer
unverheirateten erwachsenen Tochter. In zwei Häusern wohnen je ein älteres
Ehepaar allein, in einem ein jüngeres Ehepaar mit einem Kind.
Die
bisher im Viertel vorhandenen Läden (Metzger, Lebensmittel-Einzelhändler) haben
größtenteils aufgegeben. Eine Verkaufsstelle einer Bäckerei ist weiterhin offen,
ebenso der Friseur und der Physiotherapeut. Lebensmittel (Tiefgefrorenes) und
Getränke (Bier, Sprudel) werden mit Lieferwagen an manche Häuser zugestellt. Die
Anbindung an die Innenstadt ist durch Buslinien gewährleistet.
Das benachbarte
Gemeindehaus der katholischen Kirche, in dem sich früher fast täglich
Jugendgruppen aufhielten, steht leer. Versuche, die Räume für die Tagespflege
von Senioren zu nutzen, schlugen fehl. Auch der sonntägliche Verkehr durch
Messebesucher ist zurückgegangen. Hochzeiten finden kaum noch statt. Die Ruhe des
Wohnviertels wird nur noch vom Glockengeläut unterbrochen. Auch der berufliche
Autoverkehr fällt kaum noch auf.
Wandel
in der Gesamtstadt
Unsere
Stadt hat einem starken industriellen Kern und daher einen überdurchschnittlichen
Ausländeranteil. In den Schulen sind vorwiegend Kinder mit
Migrations-Hintergrund. Dennoch wurden mehrere weiterführende Schulen
geschlossen. Der Ortskern hat sehr an Attraktivität verloren. Die großen
Einkaufszentren an der Peripherie (z.B. Breuningerland und Real) locken die
Kundschaft an. Ärzte und Apotheken scheinen sich zu halten.
Ohne es
zu wollen, lernten wir die sozialen Dienste schätzen, die unsere Stadt
anbietet. Das ‚Essen auf Rädern‘ war wochenlang eine willkommene Lösung, als
meine Frau außerstande war, zu kochen. Unsere Nachbarn ̶ und
wir auch ̶ nutzen ambulante Pflegedienste, wenn nötig. Überall
in der Stadt werden neue Altersheime und Seniorenwohnheime gebaut. Manche
Bekannte, die sich früh genug entschlossen hatten, haben hier Aufnahme
gefunden. Was es – im Gegensatz zu einigen norddeutschen Städten – nicht gibt,
sind Mehrgenerationenhäuser. Eine gute Lösung haben diejenigen Kolleginnen und Kollegen
gefunden, die einen Alterswohnsitz am Bodensee oder auf Mallorca in ihre
Planung einbezogen hatten.
Gründe
und Perspektiven
Die Ursachen
für die geschilderte Entwicklung sind bestens bekannt. In den 1960er und 1970er
Jahren wurden Wohngebiete am Stadtrand erschlossen. Hierher zogen damals
gutsituierte, junge Familien mit Kindern. Inzwischen sind die Kinder erwachsen
und berufstätig. Sie wählten einen Beschäftigungsort irgendwo in Deutschland,
ohne auf die Bedürfnisse der älteren Generation Rücksicht zu nehmen. Es drückt
dies ihre eigene Unabhängigkeit aus. Parallel dazu wurde die Innenstadt immer
mehr von Ausländern bevölkert. Außerdem werden Flüchtlinge, die vor Armut und
Bürgerkrieg flohen, aufgenommen. Wir nehmen dies in Kauf, denn wir sind
dankbar, dass unser Land und unsere Generation so gut versorgt und in Frieden
leben kann.
Wer
hofft, dass diese Entwicklung nur
vorübergehend ist und durch politische Maßnahmen dagegen angesteuert werden
kann, hängt einer Illusion an. Viel wichtiger ist es, dafür zu sorgen, dass die
wirtschaftliche Leistungskraft des Landes und die politische Stabilität gesichert
werden, und dass die Umwelt und die Lebenswelt erhalten bleiben.
Am 17.7.2014 schrieb Otto Buchegger aus Tübingen:
AntwortenLöschenWir haben keine Überalterung, wir haben eine Unterjüngung, pflegt der Tübinger Philosoph Höffe zu sagen.