Die im
Jahre 1787 erschienene Kritik der reinen Vernunft gilt als das
bekannteste Werk des Königsberger Philosophen Immanuel Kant (1724-1804). Es hat
seither viele deutsche und auch ausländische Denker beschäftigt. Kants über 200
Jahre alten Begriffe seien kurz erläutert: Die Vernunft ist das Vermögen, die Verstandeserkenntnis zu ordnen, also
nach Prinzipien zu denken. Die reine
Vernunft umfasst die Fähigkeit des menschlichen Denkens, Erkenntnisse ohne
Rückgriff auf vorhergegangene sinnliche Erfahrung zu erlangen. Diese
Erkenntnisse sind a priori, da ihre Wahrheit ohne Überprüfung in der Erfahrung
feststellbar ist. Kant beantwortete mit der Schrift die Frage, was wir wissen
können. Man nennt das auch Erkenntnistheorie. Das Wort Kritik ist als Analyse und Überprüfung
zu verstehen, nicht als Herabsetzung.
Da selbst
Kant die reine Vernunft nicht für ausreichend hielt, folgte im Jahr darauf die Kritik der praktischen Vernunft. Er beantwortete mit
dieser Schrift die Frage, was wir tun sollen. Dabei geht es um Moral und Ethik.
Kant formulierte darin den bis heute berühmten kategorischen Imperativ. Fügen
wir noch zwei Fragen hinzu, nämlich: Was dürfen wir hoffen und was ist der
Mensch? Antworten zur ersten der beiden Fragen bezeichnet man als Metaphysik. Mit den vier Fragen ist ein
vollständiger Bogen beschrieben für eine Tätigkeit, die man als Philosophieren
bezeichnet. Genau von diesen vier Grundfragen lässt sich der Münsteraner
Unternehmer, Physiker und Programmierer Jörg Friedrich leiten. Der Titel seines 2012 erschienenen
Buches lautet Kritik der vernetzten Vernunft. Er stellt uns die
Frage: Brauchen wir eine neue Philosophie aufgrund des Internets, eine
spezielle Internet-Philosophie, und wenn ja, wie sähe sie aus? Statt nur über die
vernetzte Vernunft will ich anhand des Buches von Friedrich genereller über angereicherte,
also augmentierte Formen von Vernunft reflektieren. Einige zusätzliche Gedanken
drängen sich auf.
Erkenntnistheorie
Die reine
Vernunft (im Sinne Kants) gestattet es uns zu denken. Das Denken befasst sich
primär mit Sachverhalten, die wir wissen oder wissen möchten. Das, was wir als
Wissen bezeichnen, sind (größtenteils nur) Überzeugungen, für die wir Gründe angeben
können oder die nicht sinnvoll bezweifelt werden können. Bezüglich des eigenen
Wissens kann man sich irren. Auch ist man sich über den Grund seiner Überzeugungen
(sein Überzeugungsnetz) nicht immer genau bewusst. Das Wissen anderer Menschen
kann man anzweifeln, gemeint ist dessen Wahrheitsgehalt. Wer es tut, muss dafür
Gründe angeben. Alle Aussagen über die Zukunft sind unsicher, da man kein
Erfahrungswissen benutzen kann.
Unser
Wissen hängt davon ab, was der Einzelne bzw. die Menschheit als Ganzes kann,
d.h. was man technisch beherrscht. Technik ist alles, was Menschen gut können.
Sie ist nicht von Gerätschaften abhängig, wie etwa die Atem- oder Lauftechnik.
Unser eigenes Gedächtnis ist trügerisch. Man kann es jedoch auslagern. Nur benötigt
man eine Brücke, um zu den Daten zu gelangen. Zwischen den Dingen sowie
zwischen den Dingen und uns befindet sich ein mehrdimensionales Netz. Es verbindet
in örtlicher, zeitlicher und logischer Hinsicht. Wie im Englischen sollte man
unterscheiden zwischen einem Netz (engl. net)
und einem Gewebe (engl. web, dt. Spinnweb).
Im Netz gibt es Knoten und Ordnung, im Gewebe nicht. Unser Schulwissen ist
immer (zuerst) ein Netz. Es entpuppt sich jedoch im Laufe des Lebens zum
Gewebe. Das Gewebe und ihr zugänglicher Inhalt wachsen und schrumpfen, je nach
Nutzung. Schreibt man ein Buch, ist man gezwungen, das Gewebe als Fäden darzustellen. Es entsteht ein lineares, eindimensionales Abbild.
Um die
Realität zu beschreiben, werfen wir ein Netz von Begriffen über sie. Da die
Realität komplex ist, speichern wir (möglichst) nur Idealbilder. Das ist keine
Schwäche des Menschen, sondern pure Notwendigkeit. Es reduziert die
Komplexität. Die Wissenschaft arbeitet nur mit Idealbildern. Auch die Technik
versucht immer ideale Dinge herzustellen, kann es jedoch nicht. Die Welt, die
ein Mensch sich vorstellt, ist nicht die Realität, sondern nur ein Bild
derselben. Es kann ein Idealbild sein. Von der Realität wissen wir nur, dass es
sie gibt. Ein Wissenschaftler erforscht die Realität, indem er Bestätigungen
für sein Weltbild sucht. Begriffe haben wir nicht ererbt. Sie müssen erlernt
werden. Sie ändern sich und bilden sich neu. Man kann heute nicht mehr sagen,
dass die Vernunft im Gehirn zuhause sei. Das Gehirn kontrolliert nur die Enden
von Fasern, an denen unser Wissen hängt. Die Masse unseres Wissens residiert in
einem Netz bzw. Gewebe, das wir Gedächtnis nennen. Wir benutzen auch externe
Gedächtnisse, etwa Bücher oder das Internet.
Soweit
der Physiker Friedrich. Hätte er sich etwas mit Biologie befasst, wüsste er,
dass kein Mensch mit a-priori-Wissen auf die Welt kommt. Es ist ausschließlich
eine Folge der persönlichen Historie, welches Wissen er erwirbt oder wieder
vergisst. Ich halte es für übertrieben im Internet viel mehr zu sehen als
Bücher, Filme und Zeitungen, die schnell, billig und an vielen Orten gleichzeitig
verfügbar sind. Abgesehen vom (teilweise künstlich erzeugten) Gefühl der
Allgegenwart, Gleichzeitigkeit und Kostenlosigkeit ist es nichts grundsätzlich
Neues. Das Internet als ein einziges großes Buch anzusehen, ist zu
optimistisch. Man muss nämlich zwischen den Inhalten nach Sprache
unterscheiden, es sei denn man nimmt an, dass alles bei Bedarf übersetzt wird.
Noch ist der größte Teil in Englisch. Bald wird jedoch Mandarin, also Pekinger
Chinesisch, den ersten Platz einnehmen. Es ist verdammt wenig, was ein Mensch
ohne Zugriff auf Wissen, also ohne Inhalte, denken kann.
Ethik
Die
praktische Vernunft (im Sinne Kants) sagt uns, wie wir handeln sollen. Unser
Handeln wird von einer Hierarchie der Gewissheiten und des Glaubens bestimmt. Mit
einer Kultur hat sich die vernetzte Vernunft ein Zuhause geschaffen. Der Wilde
ist unberechenbar aus Sicht der vernetzten Vernunft. Ein Troll ist jemand, der sich
keiner Kultur fügt, auch nicht der Internet-Kultur.
Das
Handeln des Einzelnen wird durch die Technik(en) bestimmt, die er beherrscht.
Sobald man weiß, was man kann, muss man sich entscheiden, was man will. Meist
schwankt man zwischen konkurrierenden Anreizen. Man handelt vernünftig, wenn
man die Gründe für das Handeln angeben kann. Für das Erlernen neuer Handlungsmöglichkeiten
sind wir auf andere Menschen angewiesen. Eine Gemeinschaft (Familie, Verein, Unternehmen,
Kirche, Partei oder Staat), in der man lebt, definiert, was als Gemeinwohl
gilt. Oft ist das Gemeinwohl das, was die Gemeinschaft stabil hält. Die
Gemeinschaft kann Gesetze erlassen, die aber nicht mit Naturgesetzen vergleichbar
sind. Basisdemokratische Bewegungen, wie die Flash mops im Internet, sind meist
richtungslos. Politisches Handeln ohne Leiblichkeit, d.h. Kontakt zu realen
Menschen, macht wenig Sinn. Die Pflichten in der Gesellschaft werden immer mehr
verwässert. Deshalb gewinnt unser Gewissen an Bedeutung. Es urteilt intuitiv,
also ohne Begründung. Es wurde durch die Kultur geformt, in der wir entscheidende
Phasen unseres Werdegangs verbracht haben. Man kann darauf vertrauen, dass das
Gewissen anderer Menschen meinem ähnelt, sofern sie aus derselben Kultur stammen.
Die Unerträglichkeit der Verhältnisse oder die Sehnsucht nach Neuem können zum Bruch
mit der vernetzten Vernunft führen, ja zu Revolutionen.
Soviel über
Ethik von einem Unternehmer namens Friedrich. Mit dem Begriff des Gewissens
scheint er sich nicht recht wohl zu fühlen. Es gilt heute als eine Art von
Rückzugsraum des Individuums. Der Antrag auf Kriegsdienstverweigerung von Jürgen
Trittin wurde seinerzeit abgelehnt, weil er nur politische Gründe, aber keine Gewissensgründe
vorbrachte. Ein sehr akutes ethisches Problem, das der Autor nicht erwähnt, ist
zum Beispiel die Frage der Priorität von Menschenrecht vor Völkerrecht. Im
Kosovo-Konflikt argumentierte Joschka Fischer für das Menschenrecht. Im Syrienkonflikt
verhinderten China und Russland eine Beendigung des Einsatzes von Giftgas gegen
das eigene Volk. Sie führten das Völkerrecht ins Feld, ein Recht, das es seit
dem Westfälischen Frieden von 1648 gibt.
Metaphysik
Es
gehört heute zu den Aufgaben der Wissenschaft, sich der größten Erzählungen der
Menschheit anzunehmen, so der Entstehung des Alls und des Lebens. Sie tut sich
recht schwer dabei. Oft wird gefordert, dass man die Folgen neuer Technologien
im Voraus abschätzen sollte. Leider kann man dabei nur empirisch vorgehen. Ein
Paradies zu erwarten, wäre unsinnig. Jede Technik, von der wir Vorteile
erwarten, hat andere Probleme zur Folge. Oft ist es eine Frage des
Temperaments, ob man zum Fortschrittsucher tendiert, oder zum ewig Leidertragenden.
Nicht
nur bei Jörg Friedrich hat es die Metaphysik schwer. Nach den Schamanen
verloren die Theologen die Unterstützung durch die Gesellschaft. Dass die Wissenschaft
an ihre Stelle tritt, scheint nahezuliegen. Es ist aber noch nicht sicher, ob
dies gut geht. Erste Zweifel regen sich. Mal ist es die Atomindustrie, die zum
Umdenken zwingt, mal sind es die Utopisten wie Ray Kurzweil. Immer mehr Menschen
machen von sich reden, für die Wissenschaft keine Rolle spielt oder gar Vorbehalte haben. Das können
Christen sein, die Darwins Evolutionslehre bekämpfen, oder Islamisten, die das
mittelalterliche Denken des Propheten Mohammed hochhalten.
Was ist
der Mensch?
Auch
dieser Frage widmet Jörg Friedrich einige Seiten. Hat man ein Idealbild des
Menschen vor Augen, so entspricht dies möglichst der Vorstellung, die man von
sich selbst hat. Andere sehen eher den Wolf im Menschen oder ein anderes
Rudeltier, das von Instinkten geleitet wird. Nicht der Verstand wird als
kennzeichnend angesehen sondern die Gefühle. Das ist der Fall beim Amokläufer
oder beim IS-Terroristen, beim Extremsportler am Himalaya oder dem randalierenden
Hooligan.
Überhaupt
bereitet die Definition des Menschseins über seinen Verstand und seine Vernunft
gewisse Schwierigkeiten. Auch vor 500 Jahren, also vor der Entdeckung der Vernunft
während der so genannten Aufklärung, lebten in Europa Menschen. Dasselbe
Attribut gilt für die heutigen Urwaldbewohner Brasiliens, und erst recht für
alle Kinder und Demenzkranken. Was ist das wirklich Bestimmende des Menschen? Vielleicht
der freie Wille oder das Bewusstsein? Sie zu definieren, würde ein weiteres
Buch erfordern. Ansätze dafür findet man unter anderem in einem früheren Blogeintrag.
Schlussbeobachtung
Es ist
erfrischend zu sehen, wie viel man über wichtige Gebiete der Philosophie sagen
kann, fast ohne Fremdworte zu verwenden. Auch kommt man mit der Nennung eines einzelnen
Philosophen schon sehr weit. Die von Jörg Friedrich im Anhang erwähnte Hannah Arendt (1906-1975) entstammt
einer Zeit, die Dinge erlebt hat, die Kant wohl nicht für möglich hielt. Sie spricht
von der ‚Banalität des Bösen‘, nachdem sie 1961 in Jerusalem den Eichmann-Prozess
verfolgt hatte. Zeitzeugen der Bluttaten von Ruanda und Srebenica mögen ähnlich
über die Menschheit denken. Das Böse ist nicht dominierend, aber wegleugnen
kann man es auch nicht.
NB. Dem
Rezensenten fielen die vier Karikaturen von Ute Hamelmann sofort ins Auge. Sie
ist keine Unbekannte.
b)
Bedeutung
Am 1.11.2014 schrieb Hartmut Wedekind aus Darmstadt:
Kritik der vernetzten Vernunft à la Wedekind: Vorneweg ein
Kant-Bildchen mit den berühmten drei "Instanzen ": Vernunft,
Verstand, Erfahrung.
c)
a) <----------
Vernunft ----------> Verstand
----------> Erfahrung
| | d)
-----b)
a) Vernunft befasst sich mit dem Verstand und erteilt seinem
Angestellten (KrV B 671) einen Auftrag, u.a. Bitte um mehr Präzision. Die
Vernunft ist transsubjektiv, sie ist praktisch. Der Verstand ist theoretisch.
b) Vernunft befasst sich mit sich selbst, kritisch (zurück auf ihre
Grundlagen gehend), nicht dogmatisch (von oben herab) oder naiv (wie die
Kinder).
c) Erfahrung beeinflusst den Verstand. Sie ist gleichsam eine erste
Quelle der verstandesmäßigen Erkenntnisse.
d) Verstand, wenn er rein oder erfahrungsfrei ist, beeinflusst aber auch aus sich die Erfahrung.
Er übersteigt die Erfahrung. Die Rückkopplung ist typisch Kant: Wenn nicht
gleich alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anhebt (c), so entspringt sie darum doch nicht eben alle aus
Erfahrung (d) (Einleitung KrV) d) ist z. B.
die netzgestaltende ISO-OSI/Abstraktionshierachie, die die Erfahrung
mächtig beeinflusst.
Prädikate (Eigenschaften) :
Vernunft : Sie ist ausspähend ( K. sagt spekulativ), weil ihre
Erkenntnisse über die Erfahrung hinausreichen. Sie ist bloß regulative
(regelnd),
Verstand: Es könnte vieles gesagt werden. Wichtig für mich ist die
Kantische Feststellung, dass der Verstand diskursiv ist, der Verstand redet, im
Zweifel mit sich selbst. Die Anschauung ist intuitiv (sie schaut und redet
nicht, Sammlerakivität)). Begriffe sind die Angelegenheit des Verstandes. Der
Verstand ist durch Begriffe selbst Urheber der Erfahrung (B 127). Das
stützt nochmals den Pfeil d)
Die Vernunft folgt
Vernunftsbegriffen (Ideen). Der große Nachteil ist, dass solche
Venunftsbegriffe kein Schema haben, d.h. ich kann keinen universellen
Aspekt angeben, wie man das bei
Gegenständen der Erfahrung leicht tun kann