Sonntag, 12. Oktober 2014

Jaron Lanier, der Informatiker, den der Buchhandel ehrte

Heute Vormittag ehrte der deutsche Buchhandel in der Frankfurter Paulskirche einen Informatiker mit dem Friedenspreis. Der Friedenspreis wird seit 1950 vergeben und ist mit 25.000 Euro dotiert. Vermutlich bedarf dieses Ereignis einer Erklärung. Deshalb zitiere ich aus der Begründung des Stiftungsrats vom Juni 2014: 

Den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verleiht der Börsenverein im Jahr 2014 an Jaron Lanier und ehrt mit dem amerikanischen Informatiker, Musiker und Schriftsteller einen Pionier der digitalen Welt, der erkannt hat, welche Risiken diese für die freie Lebensgestaltung eines jeden Menschen birgt. Eindringlich weist Jaron Lanier auf die Gefahren hin, die unserer offenen Gesellschaft drohen, wenn ihr die Macht der Gestaltung entzogen wird und wenn Menschen, trotz eines Gewinns an Vielfalt und Freiheit, auf digitale Kategorien reduziert werden. Sein jüngstes Werk „Wem gehört die Zukunft“ wird somit zu einem Appell, wachsam gegenüber Unfreiheit, Missbrauch und Überwachung zu sein und der digitalen Welt Strukturen vorzugeben, die die Rechte des Individuums beachten und die demokratische Teilhabe aller fördern. Mit der Forderung, dem schöpferischen Beitrag des Einzelnen im Internet einen nachhaltigen und ökonomischen Wert zu sichern, setzt Jaron Lanier sich für das Bewahren der humanen Werte ein, die Grundlage eines friedlichen Zusammenlebens, auch in der digitalen Welt, sind.

Es folgen biographische Angaben zur Person, die ich leicht gekürzt wiedergebe:  

Jaron Lanier, geboren 1960 in New York City, gehört als einer der Pioniere in der Entwicklung des Internets zu den wichtigsten Konstrukteuren der digitalen Welt. Er gilt als der Vater des Begriffs der „virtuellen Realität“ und war selbst als Unternehmer und leitender Forscher an zahlreichen Entwicklungen beteiligt. Heute betreut er als führender Wissenschaftler ein Projekt mehrerer Universitäten zur Erforschung des „Internets 2“ und arbeitet als Forscher für Microsoft Research. 

Jaron Lanier war der Initiator für die Entwicklung von internet-basierten Computernetzwerken und hat virtuelle Kameras, 3D-Grafiken für Kinofilme und den ersten Avatar, einen künstlichen Stellvertreter für eine reale Person in der virtuellen Welt, konstruiert. Der an verschiedenen Universitäten in den USA lehrende Informatiker, der nach dem Schulabbruch Vorlesungen in Mathematik besuchte und hier seine Begeisterung für die Computertechnologie entdeckt hat, hat sich darüber hinaus als Musiker, Komponist und bildender Künstler international einen Namen gemacht.  

Seit dem Jahr 2000 setzt sich Jaron Lanier verstärkt mit der immer größer werdenden Diskrepanz zwischen Mensch und Maschine, Wirklichkeit und virtueller Realität sowie der finanziellen Nutzbarmachung gegenüber dem Missbrauch von Wissen und Daten auseinander. Mit seinen beiden Büchern „Gadget. Warum die Zukunft uns noch braucht“ (2010) und „Wem gehört die Zukunft?“ (2013) sowie zahlreichen Artikeln über negative Entwicklungen in der Digitalen Welt ist er in den letzten Jahren zu einem ihrer wichtigsten Kritiker geworden. … Für seine Erfindungen und Entwicklungen wurde er mit zwei Ehrendoktortiteln ausgezeichnet und hat 2001 den CMU’s Watson Award sowie 2009 den Lifetime Career Award der IEEE, dem weltweit größten Berufsverband für Ingenieure, erhalten. …

Besprechungen der beiden Bücher von Jaron Lanier gibt es unter anderem im Informatik-Spektrum (Heft 33,3 (2010), 332-333) [Kopie im Netz] bzw. ganz neu von Peter Hiemann aus Grasse, ebenfalls durch Anklicken erreichbar.

Als Informatiker regt mich das Ereignis zu einigen Bemerkungen an. Wie in der Besprechung von Laniers erstem Buch erwähnt, sieht Lanier sich sowohl als Informatiker wie als Musiker. Als Musiker leidet er unter den von Informatikern geschaffenen Problemen, die alle kreativ schaffenden Künstler betreffen. Er wirft uns Informatikern vor, dass uns nur die Technik interessierte, ja besoffen machte. Wir hätten für viele, vor allem künstlerische Berufe das Spielfeld verändert, also das Geschäftsmodell zerstört. Wir dächten jedoch nicht daran, den Opfern zu helfen. Im Gegenteil, wir erklärten sie für rückständig, beratungsresistent, ja geistig beschränkt. Wenn es Verlegern schlecht gehe, seien sie es selbst schuld, da sie nicht genug Informatiker eingestellt hätten, oder nicht die richtigen. Lanier stellte fest, dass auch die Informatiker, die nicht für Verlage arbeiten, nicht mit brauchbaren Vorschlägen aufgefallen seien. Den Musikern, die an ihrer Musik kein Geld mehr verdienen, hätte man vorgeschlagen, doch durch den Verkauf von T-Shirts ihren Lebensunterhalt zu sichern.

Wenn er jetzt im zweiten Buch annimmt, dass alles besser gelaufen wäre, hätten wir doch Hypertext so implementiert, wie Ted Nelson es vorhatte, so hilft dies auch nicht. Tim Bernes-Lee hatte eine Implementierung (HTML), auf die nicht nur seine Physiker bei CERN abfuhren, sondern auch Informatiker auf der ganzen Welt. Es ist illusorisch anzunehmen, es gäbe einen Weg zurück, oder die Chance, noch einmal von vorne zu beginnen (engl. reset, restart). Es gibt nur die ‚Flucht nach vorne‘. Wie sie aussehen könnte, darüber sollte man sich Gedanken machen.

 
Da ich nicht an eine perfekte Lösung glaube, gebe ich lieber Teilstücke an. Die Verleger müssten überlegen, wie sie das Erlebnis Lesen, Sehen oder Hören noch attraktiver machen können. Vom Medium Papier, Celloloid, oder TFT-Bildschirme muss man sich lösen. Die über 60 E-Bücher, die ich in den letzten zwei Jahren las, hatten zwar eine Schrift, die ich nach Bedarf vergrößern oder verkleinern konnte, nur waren kaum Bilder drin, noch weniger Videos. Beim SPIEGEL, den ich seit Jahren nur online lese, gehören Videos zu fast jedem Artikel. Weder bei Text noch bei Bildern kann ich Einschübe oder Markierungen anbringen. Der Autor Sascha Lobo macht daher mit Sobooks von sich reden. Das sind E-Books, in die man Kommentare schreiben und an den Autor übermitteln kann. Ob etwas daraus wird, hängt davon ab, wie der Markt reagiert. 

Lanier möchte, dass ein anderer Markt für Information entsteht, als wir ihn heute haben. Heute verdienen vor allem Sammler und Jäger, die Information auflesen und abbauen als wäre es ein frei verfügbares Gut der Natur, so wie Wasser oder Sand. Die Schöpfer von Information sollten stärkere Anerkennung und Vergütung finden. Dem kann man nur zustimmen. Dass sich dies außer gegen die großen Aggregatoren wie Google auch gegen kleine Verlage richtet, die ihre Autoren kaum vergüten, ist vollkommen in Ordnung. Das umso mehr, als einige Verlage heute sogar Geld von ihren Autoren nehmen. Genau wie Lanier dies fordert, muss man damit aufhören, den abstrakten Begriff Information für Dinge zu verwenden, wo man ohne Differenzierung nicht auskommt. Wenn man statt von Information von Äußerungen, Beobachtungen, Dokumenten, Melodien, Messungen oder Wissen reden würde, wäre es klar, dass hier Urheber und Herkunft eine Rolle spielen. Mit ihnen – und nicht mit der Information – sind Rechte verbunden, die es zu achten gilt. Wer dauernd von Bits und Bytes als Informationseinheiten spricht, trägt mit Schuld an der Misere. Hier können alle Informatiker mithelfen, sauberes Denken zu befördern. 

Weniger Chance gebe ich Lanier mit dem Vorschlag, eine Abwehrhaltung gegen Starprodukte und Starsysteme zu entwickeln. Es liegt in der Natur digitaler Güter und Dienste, dass sie global sind. Sie neu zu entwickeln, um sie in der Nähe zu haben, ist der falsche Ansatz. Natürlich können sie personalisiert werden, um auf regionale Traditionen und Gesetze oder persönliche Präferenzen Rücksicht zu nehmen. Nur ist das, im Vergleich zur universellen Lösung, unverhältnismäßig teuer. Es ist die neue Form von Luxus. 

Ich stimme mit Lanier überein, dass es falsch ist, die Situation, so wie sie geworden ist, als alternativlos anzusehen. Man muss nämlich nicht jedes Produkt oder jeden Dienst akzeptieren, selbst dann, wenn dessen Vorteile seine Nachteile überwiegen – ob angeblich, scheinbar oder tatsächlich ist sekundär. Zum Glück besteht eine Wahlfreiheit des Konsums und eine freie Vertragsgestaltung für Dienstleistungen. Die ‚offene Gesellschaft‘ ist nicht deshalb in Gefahr, weil Güter, die früher teuer und rar waren, plötzlich Millionen von Menschen zur Verfügung stehen. Noch wird uns jede ‚Macht der Gestaltung‘ entzogen. Die Kostenrelationen zwischen den Gütern und Diensten, den analog-physikalischen und den digitalen, werden sich jedoch signifikant verändern.  

Wenn davor gewarnt wird, alles auf ‚digitale Kategorien‘ zu reduzieren, habe ich den Eindruck, dass hier ein Popanz aufgebaut wird. Ebenso könnte man dazu raten, nicht alles nach mathematischen oder technischen Kategorien zu bewerten. Es wird suggeriert, dass wir alle zu Nummern degradiert, ja auf Nullen und Einsen reduziert werden. Damit wird Wissenschaft und Technik als Feind der Menschheit, seiner Natur und seiner Kultur, bekämpft. Diesen Fehler sollten wir besser nicht machen.  

Leider passt der obige Begründungstext zu dem unglücklichen Bild, das Verlagswesen und Buchhandel seit Jahren abgeben. Durch Jammern wird sich ihre Situation allerdings nicht verbessern, noch durch Drohungen. Wenn Mathias Döpfner vom Axel-Springer-Verlag, der selbsternannte Sprecher aller deutschen Verlage, glaubt, dass ihm die Europäische Kommission helfen kann, mit einem ‚Sirenen-Server‘ wie Google fertig zu werden, irrt er. Der Ausdruck ‚Sirenen-Server‘ stammt aus Laniers zweitem Buch und soll besagen, dass die Angebote von Google und Co. eine große Anziehungskraft besitzen. Der listenreiche Odysseus fand  ̶  nur durch Überlegen  ̶  eine Lösung, um mit Sirenen fertig zu werden und überlebte. Seine Lösung, der Mannschaft die Ohren mit Wachs zu verschließen, würde jedoch nicht in unsere Zeit passen.

 
Nachtrag am 13.10.2013

 
Den deutschen Text von Laniers Rede finden Sie hier. Arnoud de Kemp aus Berlin verwies auf folgende Kommentare:  
  • Perlentaucher: Friedenspreisträger Jaron Lanier sorgt für Standing Ovation in der Paulskirche  
  • Die Welt: Jaron Lanier im Interview mit Welt Online
  • Süddeutsche Zeitung: Warum diesmal ein digitaler Humanist zum Friedenspreisträger wurde
  • Frankfurter Rundschau: Lob von EU-Parlamentspräsident Schulz am Mundorgelspieler Lanier
  • Buchmarkt: Ausführlicher Beitrag zur Friedenspreisverleihung plus kleine Bildergalerie
Otto Buchegger aus Tübingen hatte einen etwas kritischeren Kommentar eines Bloggers gefunden. Er fügte hinzu: 
 
Übrigens, alle diese Preise dienen nur dem Zweck das eigene Buchgeschäft zu sichern. Sie sind keine wirkliche Auszeichnung, sondern nur geschickte Marketingmaßnahmen!

 
NB (Bertal Dresen): Fachlich gesehen, stimme ich diesem Blogger voll zu. Ich hatte in den 1970er Jahren eine Demo  am MIT besucht, wo man mit einem kopfmontierten Bildschirm 3D-Bilder betrachten konnte. Der Ausdruck ‚Virtuelle Realität‘, ein Oxymoron, fiel damals auch. Eine sehr ausführliche Biografie Jaron Laniers brachte der Guardian im Jahre 2001.

2 Kommentare:

  1. Am 15.10.2014 schrieb Peter Hiemann aus Zarzis in Tunesien:

    Man kann von Frank Schirrmacher halten, was man will. Er hat in seinem Buch „EGO – Das Spiel des Lebens“ einen hervorragenden Abriss der geistigen Entwicklung des „homo oeconomicus“ geliefert. Er kommt zu dem Schluss: „Und so bizarr es manchen heute noch vorkommen wird, eine der Grundfragen unserer Zukunft wird sein, wozu wir die Maschinen erziehen, ehe sie nicht nur in automatisierten Finanzmärkten, sondern auf allen Gebieten so erwachsen geworden sind, dass sie selbst uns erziehen.“

    Jaron Lanier hat sich in seinem Vortrag indirekt auf Schirrmacher berufen: „Frank Schirrmacher ist in unserer Zeit eine Quelle des Lichts gewesen. Er wird uns schrecklich fehlen“. Lanier glaubt jedoch anders als Schirrmacher, dass es vor allem eine Frage der Ökonomie (der Bezahlung) ist, die Nutzung von Informationstechnologie humaner zu gestalten. Lanier: „Die digitale Technik wird in unserer Zeit als maßgeblicher Kanal des Optimismus überfrachtet. Und das, nachdem vor ihr so viele Götter versagt haben. Was für ein sonderbares Schicksal für ein Phänomen, das als sterile Ecke der Mathematik begonnen hatte. Trotzdem ist digitaler Kulturoptimismus nicht verrückt. Wir haben neue Muster der Kreativität gesehen und vielleicht sogar ein paar neue Fühler der Empathie gefunden, die sich über frühere Barrieren wie Entfernung und kulturelle Fremdheit hinaus strecken“.

    Ich kenne niemand, der behauptet, aller Kulturoptimismus sei „verrückt“. Ich kenne jedoch eine Menge Leute, die überzeugt sind, dass man Ökonomen nicht erziehen kann. Unternehmer (aber auch Wirtschaftswissenschaftler) beugen sich bestenfalls ökonomischen Zwängen.

    Übrigens enthält Schirrmachers Geschichte Beispiele, dass auch er einfachen, publikumswirksamen Hypothesen auf den Leim gegangen ist. Richard Dawkins Hypothese vom „Egoistischen Gen“ hat sich längst als falsch herausgestellt. Biologische Evolution lässt sich nur auf der Basis sich selbst organisierender Systeme erklären. Davon sind Biologen (und Informatiker) weit entfernt. Craig Venters gentechnische Mittel belegen keinesfalls dessen Behauptung, „die Gene sind sie Software, die die Hardware, den Körper bauen“. Gene sind lediglich biologische „Anweisungen“ für die Herstellung von Proteinen. Die unglaubliche Vielzahl, das komplexe An- und Abschalten sowie das Zusammenspiel von Genen (nach Venters die Software des Lebendigen) ist bei Weitem nicht verstanden. Daniel Dennetts behauptet: „Darwins gefährliche Idee ist: die algorithmische Ebene ist die Ebene, …...[die] die Vielzahl der Arten und all die anderen Wunder in der Welt der Natur [erklärt]. Darwin kannte zu seiner Zeit keine algorithmischen Vorstellungen. Alle drei Genannten haben offensichtlich ungebrochen großen Einfluss auf Ansichten der Allgemeinheit. Lanier hat sich über diese Ansichten nicht geäußert.

    Jaron Lanier kann man bestätigen, dass auch er großen allgemeinen Einfluss hat, wohl auch weil er ein begnadeter Redner ist. Auf seine Weise scheint er die Rolle eines „Sirenenservers“ zu genießen. Warum auch nicht?

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  2. Am 15.10.2014 schrieb Hartmut Wedekind aus Darmstadt:

    Lanier sagte in Frankfurt „Hegel wurde enthauptet“ (weil die Synthese fehlt). Wie so vieles bei Lanier, stimmt das auch nicht, weil er nach Hegel „seine Zeit nicht in Gedanken fassen kann“. Siehe letzter Absatz im Vorwort meines Aufsatzes über Anthropologie der auch im JAL steht.

    https://www.google.de/?gws_rd=ssl#q=Journal+Arts+and+Humanities+August+2014+Wedekind

    Ein anstrengender Begriff, den ich bei Lanier auch nicht gehört habe, ist der der „disruptive Innovation“. Wer den Begriff zerstörerische Innovation verstanden, kommt unserer Zeit schon näher.

    Gibt es auch eine digitale Philosophie, so wie sich fast alle Wissenschaften das schmückende Adjektiv „digital“ zugelegt haben? Das habe ich gestern im meinem Vortrag in Nürnberg gefragt. Die Juristen gaben sogar zu, dass es eine digitale Rechtswissenschaft gibt. „Gleichzeitig und überall“, das ist es eben im Internet. Meine Antwort zur digitalen Philosophie war klar und eindeutig und dann habe ich das Fregebild aus Wismar gezeigt. Frege war der Begründer einer digitalen Philosophie , d.h., altertümlich noch Logik genannt.

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