Mitunter
fällt es uns Deutschen etwas schwer, die Denkweisen amerikanischer Politiker,
Unternehmer oder Wissenschaftler zu verstehen. Dabei geht es uns Deutschen noch
besser als Franzosen, Italienern oder Spaniern. Nur die Engländer gelten als
Seelenverwandte der US-Amerikaner. Neuerdings profilieren sich Osteuropäer wie
Polen und Balten als die besseren Amerika-Versteher, was ihnen von
amerikanischer Seite auch den Titel der Jungen Europäer einbrachte. Im Grunde beobachten
wir bei Amerikanern und Engländern eine besondere Form des Pragmatismus. Beide
Nationen unterscheiden sich dadurch, dass bei der Mehrzahl der Amerikaner ein guter
Schuss Optimismus dazu kommt. Bei Engländern fehlt dies wie bei allen ‚alten‘ Europäern.
Schuld daran sind unter anderem die letzten 100 Jahre europäischer Geschichte.
Im
Folgenden setze ich die Diskussion wirtschaftlicher Fragen fort, wie sie durch
Autoren wie Amartya Sen, Julian Nida-Rümelin, Joe Stiglitz und zuletzt durch Jeremy Rifkin behandelt wurden. Vor Monaten las ich das 2013 erschiene Buch von Eric Schmidt und Jared Cohen mit dem Titel ‚Die Vernetzung der Welt‘. Schmidt war Vorstandsvorsitzender
von Google und ist jetzt Aufsichtsratsvorsitzender. Das zweite Buch, das ich besprechen will, erschien im
Herbst 2014 und stammt von Erik Brynjolfsson und Andy McAfee. Das Buch heißt
auch im Deutschen ‚The Second Machine Age‘. Beide Autoren sind Ökonomen am MIT. Während ich bei Eric Schmidt und
seinem Ko-Autor sehr gute Branchenkenntnisse voraussetzte und mäßige Kenntnisse
ökonomischer Theorien, ist dies bei Brynjolfsson und McAfee eher umgekehrt.
Deshalb wunderte es nicht, dass Schmidt/Cohen sich vergleichsweise weniger von
technischen Utopien hinreißen lassen und statt dessen eine ganze Menge
potentieller Gefahren im Detail diskutieren. Beide Bücher ergänzen sich. Sie
haben primär eine amerikanische Leserschaft im Blick.
Schmidt/Cohen
Schmidt/Cohen
versuchen die Auswirkungen der uns zur Verfügung stehenden Technik zu
extrapolieren, indem sie ihre Anwendung auf diverse Lebensbereiche diskutieren.
Sie beginnen mit dem Individuum, gehen dann zu einzeln Berufen und Tätigkeiten
über und enden mit Staaten, sowie der Auswirkung auf Terrorismus oder
Kriegsführung. Dass Schmidt eine etwas lockere Haltung zur Frage des Schutzes
der Privatsphäre hat, ist bekannt. "Wenn es etwas gibt, von dem Sie nicht
wollen, dass es irgendjemand erfährt, sollten Sie es vielleicht ohnehin nicht
tun" sagte er 2010 in einem Interview. Er kann Verleger nicht verstehen,
wenn sie immer noch hoffen, dass das Internet eines Tages verschwindet, damit
sie wieder Werbeumsätze machen können. Dass Deutsche und Europäer ihre
Hassliebe auf die USA mit der Dominanz von Firmen wie Amazon und Google begründen,
sei seltsam. Die Hassliebe gab es nämlich schon lange bevor diese Firmen
überhaupt existierten.
Die neuen Medien fördern den freien
Meinungsaustausch, aber gleichzeitig auch die Manipulation von Meinungen oder
die Verfolgung von Dissidenten. Obama habe eingestanden, dass die Stuxnet-Malware
von den USA und Israel gemeinsam entwickelt wurde. Dennoch sei die Anwerbung
von Hackern durch Regierungen nicht ohne Risiko. Ein mehrstufiger Cyberangriff
könnte auch die USA lahmlegen. Durch ein schockierendes Ereignis kann sich die
öffentliche Meinung sehr schnell ändern. Die Radikalisierung Jugendlicher habe viele
Gründe. Als Gegenmittel bleibe nur die strikte Wahrung der Rechtstaatlichkeit
und die Schaffung von Hoffnung auf die Zukunft. Nur wenn wir uns sowohl der
Stärken wie der Schwächen unserer Technik bewusst sind, haben wir unser Schicksal
in der Hand.
Brynjolfssson/McAfee
Leiteten
Dampfmaschinen den Ersatz von Körperkraft durch Maschinen ein, so ergänzen
Computer die geistigen Kräfte des Menschen. Dies ist beileibe keine neue
Erkenntnis, nur wird sie immer offensichtlicher. Die digitale Technik war nämlich
lange nur ‚lachhaft unzulänglich‘. Plötzlich ist sie überall. Als Menschheit
betreten wir zum zweiten Mal eine Ära, in der Maschinen unser Leben verändern.
Dass digitale
Güter merkwürdige Eigenschaften haben, wird allmählich auch dem letzten Nutzer
bewusst. Sie sind weder in beschränktem Umfang herzustellen, noch werden sie
verbraucht. Sie können mit geringen Grenzkosten vervielfältigt werden. Es gibt daher
keinen Mangel, so wie wir es bei physikalischen Gütern gewohnt sind. Die Kosten
für Erstexemplare sind hoch. Es besteht die Tendenz zu
Alles-oder-Nichts-Märkten. ‚The winner takes it all‘ sang einst die
Abba-Gruppe. Es gilt das Potenzgesetz mit einem flachen Schwanz (engl. long
tail). Superstar-Produkte verdrängen die lokalen Produkte im globalen Markt. Digitale
Güter ersetzen die physikalischen Güter nicht, aber sie verbessern jedoch die
physische Welt. Die Entwicklung folgt einer verallgemeinerten Form von Moore's
Law. Der exponentielle Fortschritt ergibt sich nicht mehr aus der
Halbleitertechnik allein, sondern daraus, dass wir laufend die Technik wechseln,
sobald man an Grenzen stößt. Das gilt bisher jedoch nicht bei Batterien. Alle
Menschen tun sich schwer, Exponentialfunktionen zu begreifen.
Mir
gefällt an dem Buch, dass die Autoren einige richtungsweisende Projekte aus der
Informatik nicht nur aus der Entfernung beurteilen, sondern sich konkret mit
ihnen auseinandersetzen. Beide Autoren machten eine Testfahrt in einem
selbstlenkenden Google-Auto. Sie beeindruckte nicht nur, wie gelassen die
Insassen waren, die bereits Tausende von Kilometern zurückgelegt hatten, sondern
auch, was das Auto über die toten Winkel aller benachbarten Fahrerzeuge weiß
und wie es darauf reagiert. Die von Apple benutzten Techniken der Spracherkennung
(Siri) und der Sprachübersetzung (Translate) hatten zwar große anfängliche
Probleme. Dadurch, dass sie Schritt um Schritt verbessert wurden, ist ihre
Leistung heute recht passabel. IBM hatte an ihrem kognitiven System namens Watson
lange in aller Stille gearbeitet, bis dass es in Januar 2011 durch das Auftreten
in einer populären Fernsehsendung weltbekannt wurde. Durch einen ihrer eigenen
Studenten wurden die Autoren auf Waze aufmerksam gemacht, ein Navigationssystem
der zweiten Generation. Es erhält als soziales Produkt von seinen Nutzern
Informationen über die aktuelle Verkehrssituation, die seinen Wert laufend verbessern.
Es ist
sehr löblich, dass versucht wird herauszuarbeiten, welche Kräfte die derzeitige
rasante Entwicklung der Informatik antreiben oder beflügeln. Seit dem Erfolg
des Internet weiß die ganze Welt, welche Früchte in den USA bei militärischen
Projekten abfallen können. Jedermann wusste, dass Mustererkennung bisher als
Schwäche der Computer galt. Deshalb sind die Fortschritte, die durch die erste
‚DARPA Challenge‘ ausgelöst wurden, so groß. Der erste Preiswettbewerb im Jahre
2004 bestand im Überwinden einer Wüstenstrecke mit unbemannten Fahrzeugen. Er
endete noch als Fiasko. Seither wird überall auf der Welt an selbstfahrenden
Autos gearbeitet, und zwar zunehmend mit Erfolg. Als Moravecs Paradox gilt die
Aussage, dass Computer gute Spezialisten aber schlechte Generalisten seien. Die
neue ‚DARPA Robotics
Challenge‘
geht zehn Jahre später genau dieses Problem an. Dabei sollen Roboter Aufgaben
lösen, die für Menschen sehr leicht sind, z. B. eine Tür öffnen oder eine
Leiter besteigen. Experten rechnen damit, dass in der nächsten Dekade Roboter
die Entwicklung nachvollziehen werden, die Computer gerade hinter sich haben.
Sie werden miniaturisiert werden und in jedem Haus mehrfach im Einsatz sein.
Die Bedeutung
von Innovationen, sowohl technischer wie nicht-technischer Art, für Wirtschaft
und Gesellschaft wird betont. Auch in einer Gesellschaft im Überfluss übt das
Neue einen Reiz aus. Länder, die nicht über signifikante Rohstoffe verfügen, haben
wirtschaftlichen Erfolg dank Innovationen. Diese helfen dabei, die Produktivität
ihrer Menschen zu steigern. Sie können mit geringerem Aufwand mehr leisten. Auch
Neukombinationen von Bekanntem sind Innovationen. Durch das Internet können
sich nicht nur Innovatoren vernetzen. Auch immer mehr Menschen können Daten
auswerten oder neue Ideen testen.
Natürlich
müssen wirtschaftliche und soziale Folgen benannt werden, denn nur dann können
sie behoben oder abgeschwächt werden. Es sind zunächst routinemäßige Arbeiten.
die wegbrechen, zuerst die manuellen, dann die kognitiven. Es ist durchaus
möglich, dass die Löhne fallen – nicht so sehr der Durchschnittslohn als der Median-Lohn.
Es findet eine stärkere Spreizung statt, ein Gefälle. Alte Fähigkeiten (engl. skills)
verlieren an Wert, neue Fähigkeiten profitieren. Der Wohlstand aller kann durch
die Kostensenkung wichtiger Güter gesteigert werden. Der Einzelne kann seine
Chancen sichern, indem er in Bildung investiert. Auch da bietet die neue
Technik gute Möglichkeiten. Sebastian Thruns Erfolg mit MOOCs ist ein
leuchtendes Beispiel. Er hatte 160.000 Teilnehmer in einem Kurs über Künstliche Intelligenz (KI). Mehr als
400 davon waren in ihrer Abschlussarbeit besser als der beste Teilnehmer von seiner
Heimat-Universität Stanford.
Der
Staat ist gefordert, die Teilhabe aller am Wohlstand zu sichern. Im Gegensatz
zu Autoren, die ihre Anerkennung primär in Europa suchen, steht für Brynjolfsson/McAfee
die Wirtschaftsordnung nicht zur Disposition. Sie bringen Kapitalismus auf die
Formel: dezentrale Wirtschaft mit Vertragsfreiheit. ‚Gäbe es in den USA mehr
Steve Jobs, ginge es dem ganzem Lande besser‘ dieses Zitat von Larry Summers,
dem Finanzminister unter Bill Clinton, gefiel ihnen. Die Angst, dass durch
Automatisierung Menschen arbeitslos werden, ist dann umso weniger berechtigt,
je mehr es uns gelingt Güter und Dienste zu erfinden, die dem Menschen helfen,
d.h. ihn ergänzen statt ihn zu ersetzen. An die Politik gehen unter anderem Forderungen
der Art, dass der Lehrerberuf eine höhere Anerkennung und Bezahlung finden muss,
und dass Startups auch öffentlich und nicht nur privat gefördert werden. Aus
den vielen Feldstudien, die zitiert werden, fand ich ein Ergebnis besonders
beachtenswert. Es bestätigt nämlich unsere Intuition. In der amerikanischen Unterschicht ist Arbeitslosigkeit immer schlimmer
zu ertragen als Armut. Arbeit lindert nämlich nicht nur Not, sondern ergibt auch
einen Lebenssinn.
Europäische
Alternativen
Nach
all den sehr amerikanisch anmutenden Überlegungen und Perspektiven stellt sich
die Frage nach der Situation in Europa. Wir können die USA nicht einfach imitieren,
obwohl es richtig ist, Cluster zu bilden, die außer Hochschulen auch die lokale
Industrie einbinden. Inzwischen gibt es überall in Europa Regionen, die sich
mit dem Beinamen ‚Silicon Valley‘ schmücken. Im Gegensatz zu Amerika wollen wir
jedoch Wissenschaft und Technik nicht eingewanderten Indern oder Chinesen
überlassen.
Leider
oder Gottseidank gibt es in Europa kein Gegenstück zur DARPA. Unser Militär ist
eher unterfinanziert. Die Forschungsprojekte, die von der EU oder der Bundesregierung
ausgeschrieben werden, sind so angelegt, dass möglichst nichts herauskommt, was
jemand nutzen kann. Es könnte ja den Chinesen in die Hände fallen. Was fehlt
ist die Einsicht, dass die akademische Forschung oft nur die Hälfte eines
Problems lösen kann. Eine Lösung, die auf Papier oder im Labor funktioniert,
muss nicht auch in der Praxis funktionieren oder akzeptiert werden. Hier hilft
nur, möglichst viele Lösungen in den Markt zu bringen und den Markt selektieren
zu lassen. Das machen Amerikaner besser.
Als
Problem Europas wird oft die Anzahl unterschiedlicher natürlicher Sprachen genannt.
Das ist ein Vorurteil, das sich hält, obwohl Firmen wie SAP bewiesen haben,
dass man daraus einen Geschäftsvorteil ableiten kann. Mindestens so schlimm
finde ich es, dass wir uns besonders gerne über künstliche Sprachen und
Begriffe ereifern. So wurden seinerzeit Fortran und COBOL als zu uneuropäisch
angesehen, da zu praktisch und theoretisch unsauber. Heute streitet man darüber, ob man die Philosophie des 18. Jahrhunderts entheiligt,
wenn man das Wort Ontologie als Metapher verwendet (siehe Informatik Spektrum,
August 2014). Besser wäre es, man würde Produkte bauen, die diese Funktionalität
nutzen, egal wie sie heißt. Sich über die Qualität von Produkten zu streiten, wäre äußerst sinnvoll.
Auf andere Unterschiede zwischen Europa und den USA
will ich dieses Mal nicht eingehen. da ich sie schon öfters thematisiert habe,
so die Bevorzugung sozialistischer gegenüber liberalen Regierungen und die
Dominanz geistes-wissenschaftlicher über ingenieur-wissenschaftlicher
Ausbildung von der Grundschule bis zur Universität. Auch das Argument, dass es in Europa an Wagniskapital fehle, hatte ich schon vor drei Jahren widerlegt. Damals bestätigte mir ein Branchenkenner, dass deutsches Kapital bevorzugt in den USA investiert würde.
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