Rul
Gunzenhäuser war emeritierter Informatik-Professor der Uni Stuttgart und einer
der bekanntesten und profiliertesten Informatiker Deutschlands. Er hatte im
August 2011 in einem Interview
dieses Blogs einen Rückblick auf sein akademisches Arbeitsgebiet gegeben. Vor
allem in den letzten etwa 15 Jahren pflegten wir sehr intensive Kontakte. Wir
hatten ein äußerst freundschaftliches Verhältnis.
Rul
Gunzenhäuser 2008
Persönliche Begegnungen
Gunzenhäuser und ich kannten uns seit über 50 Jahren. Wir müssen uns Ende
der 1960er Jahre zum ersten Mal getroffen haben. Mit Gunzenhäusers Projekten wurde
ich seit 1972 im Detail vertraut. Als Mitglied des Sachverständigenkreises für
das Überregionale Forschungsprogramm Informatik (ÜRF) des Bundesministers für
Forschung und Technologie (BMFT) durfte ich seine Förderanträge mit
begutachten. Neben Gunzenhäuser hatte Stuttgart damals ein halbes Dutzend
Gruppen, die Förderanträge stellten. Nicht alle kamen aus der Informatik.
Gunzenhäusers Gruppe war die einzige, die von einem Ordinarius geleitet wurde.
Das blieb so bis in die 1980er Jahre. Zur gleichen Zeit haben die TU München
und die TH Karlsruhe jeweils 8-10 Professuren mit Forschungsgruppen
eingerichtet. Später folgten Aachen, Berlin, Darmstadt, Dortmund und Erlangen. Weniger
engagiert waren Bonn, Braunschweig, Hamburg, Hannover, Kaiserslautern, Kiel und
Saarbrücken.
Da
das Böblinger IBM Labor, wo ich beschäftigt war, um diese Zeit eine Kompetenz
in Software-Ergonomie aufbaute, gab es einen intensiven fachlichen Austausch
mit Gunzenhäusers Gruppe in Stuttgart. Einige seiner Doktoranden und
Absolventen fanden eine dauernde Aufgabe im IBM Labor, so Dorothea und Joachim Bauer,
Ursula Braun, Thomas Fehrle, Wolfgang Glatthaar, Heinz Kreibohm und Hans Albrecht Schmid.
Bei meiner Promotion im Jahre 1976 an der Uni Stuttgart war Gunzenhäuser
Zweitberichter. Mein ‚Doktorvater‘ war Erich Neuhold. Da Neuhold bald danach
Stuttgart verließ, war Gunzenhäuser ─ so zu sagen ─ der hinterbliebene
Elternteil meiner Stuttgarter akademischen Familie. Jedenfalls vermittelte er
mir dieses Gefühl. Bei vielen Veranstaltungen der Universität Stuttgart, aber
auch in der Gesellschaft für Informatik (GI), erfuhr ich seine besondere
Aufmerksamkeit und seine spezielle Fürsorge. Sicher habe ich es auch ihm zu
verdanken, dass meine langjährige Lehrtätigkeit an der Universität Stuttgart
durch die Ernennung zum Honorarprofessor anerkannt wurde.
Eine weitere Phase der Zusammenarbeit ergab sich während meiner
Zeit von 1993-1997 an der TU München. Im Rahmen eines vom BMFT geförderten
Forschungsprojekts mit Namen MeDoc arbeiteten 30 Hochschulen und 14 Verlage
zusammen, um ihnen einen Frühstart in Richtung Digitalisierung zu ermöglichen.
Stuttgart leistete dank Gunzenhäusers Engagement ganz beachtliche Beiträge. Die
aktuelle Projektarbeit wurde von Uwe Berger durchgeführt, einem Mitarbeiter des
Uni-Rechenzentrums. Mit Gunzenhäuser zusammen bemühte ich mich, das Nachfolgeprojekt
nach Stuttgart zu holen. Leider hatten wir keinen Erfolg.
Ehepaar Gunzenhäuser 2008
Zahllose gemeinsame Bahnfahrten zwischen Bonn und Stuttgart boten
immer wieder Gelegenheit, sich über unsere sehr unterschiedlichen beruflichen
Welten zu informieren und unsere Erfahrungen zu vergleichen.
Im Rentnerstand
Etwa zur gleichen Zeit beendeten wir beide unsere berufliche Laufbahn, ich
1997, er ein Jahr später. Da wir beide den Ruhestand als Unruhestand
betrachteten, nahm unsere Zusammenarbeit noch zu. Unser erstes gemeinsames Opus
war eine Broschüre, die wir zusammen verfassten, um älteren Menschen die
Vorteile der Computernutzung zu erklären. Eine Beschreibung befindet sich in einem Blog-Beitrag mit dem Titel Senioren und Informatik aus dem Februar 2011. Es werden 18 Anwendungen vorgestellt und es wird Mut gemacht, sich mit ihnen zu befassen. Die Broschüre selbst wurde über zwei bei der Seniorenbetreung eingesetzten Plattformen verteilt.
Anschließend war Gunzenhäuser der Ko-Autor zweier Bücher, die wir zusammen
veröffentlichten. Das Buch Schuld sind
die Computer von 2010 geht indirekt auf seine Initiative zurück. Bei einem
Treffen der GI Fellows im Jahre 2009 in Salzburg gab es eine Diskussion
über das Selbstverständnis der Informatik. Als ich dazu einige Bemerkungen
machte, kam Gunzenhäuser auf mich zu und sagte: ‚Wenn Sie das aufschreiben,
werde ich Sie unterstützen‘. Genau das geschah dann auch. Er regte an,
korrigierte mich und ergänzte meinen Text.
Das zweite Buch Menschen machen
Informatik von 2015 kam nur aufgrund seines Drängens zustande. Ich hatte
diverse Interviews mit Kollegen als Teil meines Blogs im Internet
veröffentlicht. Für mich war die Sache damit erledigt. Gunzenhäuser meinte,
dass dies nicht alle potentiellen Leser erreichen würde. Er behielt Recht.
Viele, vor allem ältere Kollegen, wurden erst auf diese Texte aufmerksam, als
sie in Buchform vorlagen. Beide Bücher wurden dank der Vermittlung
Gunzenhäusers auch in die Reihe der Veröffentlichungen der Stuttgarter
Informatik aufgenommen.
Schwäbischer Nahverkehr
Gunzenhäuser und ich pflegten in den letzten 8-10 Jahren einen laufend sich
steigernden Kontakt. Er war nicht nur ein treuer Leser meines Blogs und meiner
sonstigen Veröffentlichungen. Das ausführliche Interview mit ihm, in dem er
sein früheres Arbeitsgebiet, die Mensch-Computer-Interaktion, erläuterte, hatte
ich eingangs bereits erwähnt. Er ließ darin fast sein ganzes akademisches Leben
Revue passieren. Er lieferte immer wieder Kommentare zu diversen
Blog-Beiträgen. Er hielt mich auf dem Laufenden, was die Stuttgarter Informatik
anbelangte, aber auch die akademische Informatik in ganz Deutschland. Auch über
Politik und Zeitgeschehen tauschten wir uns aus.
Festredner 2013
Gerne erinnere ich mich an die Besuche mit seiner Gattin oder mit dem
Kollegen Ludwig Hieber zusammen bei uns in Sindelfingen. Seine Teilnahme an der
Feier meines 80. Geburtstags im Jahre 2013 im Parkrestaurant Sindelfingen ragt
besonders heraus. Bei dieser Gelegenheit sprach er einige Grußworte. Wegen
ihres launigen Inhalts und ihrer lustigen und sehr verbindlichen Vortragsweise
ist diese Rede noch sehr lebhaft in meinem Gedächtnis, und bestimmt auch bei
allen Teilnehmern aus der Familie und den anderen Gästen. Rul Gunzenhäuser ließ
es sich nicht nehmen, mich zu allen Veranstaltungen seines Lehrstuhls
einzuladen, gleich ob es sich um fachliche Ehrungen oder Altersjubiläen
handelte. Sogar sein Nachfolger Thomas Ertl setzte diese Tradition fort.
Wissenschaftlicher Werdegang
Gunzenhäuser machte 1953 sein Abitur in Esslingen am Neckar.
Anschließend studierte er Mathematik, Physik und Philosophie in Tübingen und
Stuttgart. Er legte 1959 das erste und nach einer zweijährigen Referendarzeit
das zweite Staatsexamen ab. Parallel hierzu erstellte er seine Dissertation.
Darin ging es um die Anwendung
statistisch-mathematischer Verfahren auf die Text-Ästhetik. Er promovierte 1962
zum Dr. phil., und zwar bei dem bekannten
Stuttgarter Philosophen Max Bense.
Bei
infos-Veranstaltung um 2010
Schon als Student bekam er Kontakt mit Computern. Nach dem Studium
wurde er wissenschaftlicher Mitarbeiter von Professor Walter Knödel am
Rechenzentrum der TH Stuttgart, das zuerst eine Standard Elektrik ER56 und
danach eine Zuse Z22 betrieb. Dort befasste er sich unter anderem mit
Programmen zum Erlernen von Assemblersprachen. Er organisierte das erste
Symposium in Deutschland über „Programmierter Unterricht und Lehrmaschinen“.
Von 1964 bis 1965 weilte er als
Gastprofessor an der State University of New York. Nach seiner Rückkehr
übernahm er zunächst eine Professur für Angewandte Mathematik und ihre Didaktik
an der Pädagogischen Hochschule Esslingen. Im Jahre 1973 erfolgte der Ruf auf
eine ordentliche Professur für Informatik an der Universität Stuttgart. Bis
1998 leitete er dort die Abteilung Dialogsysteme, die eine ungewöhnlich hohe
Zahl von Studienarbeiten, Diplomarbeiten und Promotionen (insgesamt 42
Promotionen) betreute. Sechs seiner Schüler sind Universitätsprofessoren
geworden.
Fachliches Profil und lokale Ausstrahlung
Gunzenhäuser war ein Pionier im Bereich des rechnerunterstützten
Lehrens und Lernens. Er galt international als Koryphäe und zog Projekte und
Forscher an.
An seinem Lehrstuhl entstanden Lehr- und Lernprogramme,
Programmierumgebungen, objektorientierte Arbeitsumgebungen, intelligente
tutorielle Systeme, Benutzungsoberflächen und Hypertext- und Hypermediasysteme
unter Berücksichtigung von Text, Graphik, Sprache und Multimedia.
So beschrieb es neulich sein Stuttgarter Kollege Volker Claus in
einem Nachruf der Fakultät. Schon 1962 befasste sich Gunzenhäuser mit dem Thema ‚Lehrmaschinen
und Programmierte Instruktion‘. Er entwickelte Lernprogramme für den
Mathematikunterricht (die Informatik gab es damals noch nicht), entwarf
rechnerunterstützte Tutorsysteme, erforschte Lehr- und Lernmethoden. Das
Fachgebiet hat eine Reihe von Namensänderungen erfahren, die Gunzenhäuser alle
überlebt hatte. Mal hieß es Rechnergestützter Unterricht (RGU), mal
Computer-based Instruction (CBI) und zuletzt E-Learning. Ähnlich erging es
seinem andern Standbein, den Interaktiven Systemen und der
Mensch-Maschine-Kommunikation.
Gunzenhäuser experimentierte schon in den 1960er Jahren unter
anderem mit der maschinellen Erzeugung von Gedichten. Ein Schüler von ihm
(Frieder Nake) erzeugte Grafiken und Bilder auf einem Zeichentisch Zuse Z64,
die echten Kunstwerken sehr nahe kamen. Später organisierte Gunzenhäuser eine
Ausstellung mit Werken von verschiedenen Rechnern bzw. Programmierern. Eines
dieser Bilder hängt seit etwa 1974 bei uns zuhause im Flur. Wie in einem
anderen Beitrag
dieses Blogs erwähnt, werden ähnliche Leistungen im Jahre 2016 als Errungenschaft
der Künstlichen Intelligenz vorgeführt. Im Jahre 1977 begann an Gunzenhäusers
Lehrstuhl eine Arbeitsgruppe um Waltraud Schweikhardt mit der Erstellung von
rechnerunterstützten Hilfsmitteln für Blinde. Diese Arbeiten resultierten in
Hardware- und Software-Produkten, die Blinden und Sehbehinderten Zugang zu
Computern gestatteten.
Rechnererzeugtes
Gemälde von 1974
Gunzenhäuser hatte einen unvergleichlichen Ruf als Lehrer und
Vortragender. Die Studierenden der Universität Stuttgart gaben seinen
Lehrveranstaltungen stets beste Noten. Mit seinen Vorträgen konnte er seine
Zuhörer begeistern.
Gunzenhäuser lag die Selbstverwaltung der Wissenschaft sehr am
Herzen. Er war mehrfach Dekan der Fakultät Informatik und Geschäftsführender
Direktor des Instituts für Informatik. Zusammen mit seinen Kollegen Volker
Claus und Ludwig
Hieber gründete er infos, das
Informatik-Forum Stuttgart. Erreicht wurde damit die Einbindung der lokalen
Industrie in die Belange der Stuttgarter Informatik. Zwei jährliche
Kontaktmessen mit jeweils über 40 Firmenständen bieten Studierenden und
Absolventen Job-Angebote. Ein Mitteilungsblatt (Infos-Zeitung)
dient der Kommunikation.
Bundesweites professionelles Engagement
Viele Jahre hat er die bundesweit agierende Fachgruppe
„Intelligente Lernsysteme“ in der Gesellschaft für Informatik (GI) geleitet. Er
betreute unter anderem eine Tagungsreihe, in der junge Informatiker ihre
Studien- und Diplomarbeiten vorstellten. Auch dort waren seine belebenden Vorträge und überraschenden
Initiativen sehr geschätzt.
Beim
Unterzeichnen eines Verlagsvertrags 2015
Nach der deutschen Wiedervereinigung hat er als Mitglied der
Informatik-Fachkommissionen für Sachsen und Thüringen am Neubeginn der dortigen
Informatikfachbereiche intensiv mitgearbeitet. Als Anerkennung für diesen
Einsatz und sein eigenes wissenschaftliches Werk wurde er 1996 mit der Würde
eines Dr.-Ing. E.h. der Technischen Universität Dresden ausgezeichnet. Für sein
Engagement für Blinde erhielt er 1994 das Bundesverdienstkreuz erster Klasse.
Das Informatik-Forum Stuttgart e.V., an dessen Gründung er beteiligt und dessen
Arbeit er maßgeblich beeinflusste, verlieh ihm die Ehrenmitgliedschaft. Seit
2003 war er Fellow der Gesellschaft für Informatik.
Persönliches Umfeld und sonstige Interessen
Das Ehepaar Rul und Brigitte Gunzenhäuser war seit 1966
verheiratet. Sie haben zwei Söhne und eine Tochter und mehrere Enkel. Gunzenhäuser
liebte es, an ihm bekannte Urlaubs- und Erholungsorte zurückzukehren. In
Deutschland hatten es ihm Rantum auf Sylt und Schwäbisch Hall angetan. Mit
Alterskollegen und Jugendfreunden durchwanderte er seine Heimatstadt Esslingen
und die Umgebung. Mehrmals zog es ihn in das Thermalbad Abano Terme bei Padua,
das er per Direktflug von Stuttgart aus erreichen konnte. Stuttgarts Theater
und Ballett schätzte er. Gunzenhäusers Freunde wussten, dass er seit 20 Jahren
gegen ein Krebsleiden ankämpfte, dem er schließlich unterlag.
Ich werde Rul Gunzenhäusers anregende Gespräche und seine stets hilfsbereite
Art sehr vermissen. Es verbleibt mir die Erinnerung an einen äußerst
liebenswerten und hochgeschätzten Kollegen.