Montag, 26. Februar 2018

Erinnerungen an Rul Gunzenhäuser (1933-2018)

Rul Gunzenhäuser war emeritierter Informatik-Professor der Uni Stuttgart und einer der bekanntesten und profiliertesten Informatiker Deutschlands. Er hatte im August 2011 in einem Interview dieses Blogs einen Rückblick auf sein akademisches Arbeitsgebiet gegeben. Vor allem in den letzten etwa 15 Jahren pflegten wir sehr intensive Kontakte. Wir hatten ein äußerst freundschaftliches Verhältnis.


Rul Gunzenhäuser 2008

Persönliche Begegnungen

Gunzenhäuser und ich kannten uns seit über 50 Jahren. Wir müssen uns Ende der 1960er Jahre zum ersten Mal getroffen haben. Mit Gunzenhäusers Projekten wurde ich seit 1972 im Detail vertraut. Als Mitglied des Sachverständigenkreises für das Überregionale Forschungsprogramm Informatik (ÜRF) des Bundesministers für Forschung und Technologie (BMFT) durfte ich seine Förderanträge mit begutachten. Neben Gunzenhäuser hatte Stuttgart damals ein halbes Dutzend Gruppen, die Förderanträge stellten. Nicht alle kamen aus der Informatik. Gunzenhäusers Gruppe war die einzige, die von einem Ordinarius geleitet wurde. Das blieb so bis in die 1980er Jahre. Zur gleichen Zeit haben die TU München und die TH Karlsruhe jeweils 8-10 Professuren mit Forschungsgruppen eingerichtet. Später folgten Aachen, Berlin, Darmstadt, Dortmund und Erlangen. Weniger engagiert waren Bonn, Braunschweig, Hamburg, Hannover, Kaiserslautern, Kiel und Saarbrücken.

Da das Böblinger IBM Labor, wo ich beschäftigt war, um diese Zeit eine Kompetenz in Software-Ergonomie aufbaute, gab es einen intensiven fachlichen Austausch mit Gunzenhäusers Gruppe in Stuttgart. Einige seiner Doktoranden und Absolventen fanden eine dauernde Aufgabe im IBM Labor, so Dorothea und Joachim Bauer, Ursula Braun, Thomas Fehrle, Wolfgang Glatthaar, Heinz Kreibohm und Hans Albrecht Schmid.

Bei meiner Promotion im Jahre 1976 an der Uni Stuttgart war Gunzenhäuser Zweitberichter. Mein ‚Doktorvater‘ war Erich Neuhold. Da Neuhold bald danach Stuttgart verließ, war Gunzenhäuser ─ so zu sagen ─ der hinterbliebene Elternteil meiner Stuttgarter akademischen Familie. Jedenfalls vermittelte er mir dieses Gefühl. Bei vielen Veranstaltungen der Universität Stuttgart, aber auch in der Gesellschaft für Informatik (GI), erfuhr ich seine besondere Aufmerksamkeit und seine spezielle Fürsorge. Sicher habe ich es auch ihm zu verdanken, dass meine langjährige Lehrtätigkeit an der Universität Stuttgart durch die Ernennung zum Honorarprofessor anerkannt wurde.

Eine weitere Phase der Zusammenarbeit ergab sich während meiner Zeit von 1993-1997 an der TU München. Im Rahmen eines vom BMFT geförderten Forschungsprojekts mit Namen MeDoc arbeiteten 30 Hochschulen und 14 Verlage zusammen, um ihnen einen Frühstart in Richtung Digitalisierung zu ermöglichen. Stuttgart leistete dank Gunzenhäusers Engagement ganz beachtliche Beiträge. Die aktuelle Projektarbeit wurde von Uwe Berger durchgeführt, einem Mitarbeiter des Uni-Rechenzentrums. Mit Gunzenhäuser zusammen bemühte ich mich, das Nachfolgeprojekt nach Stuttgart zu holen. Leider hatten wir keinen Erfolg.

 

Ehepaar Gunzenhäuser 2008

Zahllose gemeinsame Bahnfahrten zwischen Bonn und Stuttgart boten immer wieder Gelegenheit, sich über unsere sehr unterschiedlichen beruflichen Welten zu informieren und unsere Erfahrungen zu vergleichen.

Im Rentnerstand

Etwa zur gleichen Zeit beendeten wir beide unsere berufliche Laufbahn, ich 1997, er ein Jahr später. Da wir beide den Ruhestand als Unruhestand betrachteten, nahm unsere Zusammenarbeit noch zu. Unser erstes gemeinsames Opus war eine Broschüre, die wir zusammen verfassten, um älteren Menschen die Vorteile der Computernutzung zu erklären. Eine Beschreibung befindet sich in einem Blog-Beitrag mit dem Titel Senioren und Informatik aus dem Februar 2011. Es werden 18 Anwendungen vorgestellt und es wird Mut gemacht, sich mit ihnen zu befassen. Die Broschüre selbst wurde über zwei bei der Seniorenbetreung eingesetzten Plattformen verteilt.

Anschließend war Gunzenhäuser der Ko-Autor zweier Bücher, die wir zusammen veröffentlichten. Das Buch Schuld sind die Computer von 2010 geht indirekt auf seine Initiative zurück. Bei einem Treffen der GI Fellows im Jahre 2009 in Salzburg gab es eine Diskussion über das Selbstverständnis der Informatik. Als ich dazu einige Bemerkungen machte, kam Gunzenhäuser auf mich zu und sagte: ‚Wenn Sie das aufschreiben, werde ich Sie unterstützen‘. Genau das geschah dann auch. Er regte an, korrigierte mich und ergänzte meinen Text.

Das zweite Buch Menschen machen Informatik von 2015 kam nur aufgrund seines Drängens zustande. Ich hatte diverse Interviews mit Kollegen als Teil meines Blogs im Internet veröffentlicht. Für mich war die Sache damit erledigt. Gunzenhäuser meinte, dass dies nicht alle potentiellen Leser erreichen würde. Er behielt Recht. Viele, vor allem ältere Kollegen, wurden erst auf diese Texte aufmerksam, als sie in Buchform vorlagen. Beide Bücher wurden dank der Vermittlung Gunzenhäusers auch in die Reihe der Veröffentlichungen der Stuttgarter Informatik aufgenommen.

Schwäbischer Nahverkehr

Gunzenhäuser und ich pflegten in den letzten 8-10 Jahren einen laufend sich steigernden Kontakt. Er war nicht nur ein treuer Leser meines Blogs und meiner sonstigen Veröffentlichungen. Das ausführliche Interview mit ihm, in dem er sein früheres Arbeitsgebiet, die Mensch-Computer-Interaktion, erläuterte, hatte ich eingangs bereits erwähnt. Er ließ darin fast sein ganzes akademisches Leben Revue passieren. Er lieferte immer wieder Kommentare zu diversen Blog-Beiträgen. Er hielt mich auf dem Laufenden, was die Stuttgarter Informatik anbelangte, aber auch die akademische Informatik in ganz Deutschland. Auch über Politik und Zeitgeschehen tauschten wir uns aus.


Festredner 2013

Gerne erinnere ich mich an die Besuche mit seiner Gattin oder mit dem Kollegen Ludwig Hieber zusammen bei uns in Sindelfingen. Seine Teilnahme an der Feier meines 80. Geburtstags im Jahre 2013 im Parkrestaurant Sindelfingen ragt besonders heraus. Bei dieser Gelegenheit sprach er einige Grußworte. Wegen ihres launigen Inhalts und ihrer lustigen und sehr verbindlichen Vortragsweise ist diese Rede noch sehr lebhaft in meinem Gedächtnis, und bestimmt auch bei allen Teilnehmern aus der Familie und den anderen Gästen. Rul Gunzenhäuser ließ es sich nicht nehmen, mich zu allen Veranstaltungen seines Lehrstuhls einzuladen, gleich ob es sich um fachliche Ehrungen oder Altersjubiläen handelte. Sogar sein Nachfolger Thomas Ertl setzte diese Tradition fort.

Wissenschaftlicher Werdegang

Gunzenhäuser machte 1953 sein Abitur in Esslingen am Neckar. Anschließend studierte er Mathematik, Physik und Philosophie in Tübingen und Stuttgart. Er legte 1959 das erste und nach einer zweijährigen Referendarzeit das zweite Staatsexamen ab. Parallel hierzu erstellte er seine Dissertation. Darin ging es um die  Anwendung statistisch-mathematischer Verfahren auf die Text-Ästhetik. Er promovierte 1962  zum Dr. phil., und zwar bei dem bekannten Stuttgarter Philosophen Max Bense.


Bei infos-Veranstaltung um 2010

Schon als Student bekam er Kontakt mit Computern. Nach dem Studium wurde er wissenschaftlicher Mitarbeiter von Professor Walter Knödel am Rechenzentrum der TH Stuttgart, das zuerst eine Standard Elektrik ER56 und danach eine Zuse Z22 betrieb. Dort befasste er sich unter anderem mit Programmen zum Erlernen von Assemblersprachen. Er organisierte das erste Symposium in Deutschland über „Programmierter Unterricht und Lehrmaschinen“. Von 1964 bis 1965 weilte er als  Gastprofessor an der State University of New York. Nach seiner Rückkehr übernahm er zunächst eine Professur für Angewandte Mathematik und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Esslingen. Im Jahre 1973 erfolgte der Ruf auf eine ordentliche Professur für Informatik an der Universität Stuttgart. Bis 1998 leitete er dort die Abteilung Dialogsysteme, die eine ungewöhnlich hohe Zahl von Studienarbeiten, Diplomarbeiten und Promotionen (insgesamt 42 Promotionen) betreute. Sechs seiner Schüler sind Universitätsprofessoren geworden.

Fachliches Profil und lokale Ausstrahlung

Gunzenhäuser war ein Pionier im Bereich des rechnerunterstützten Lehrens und Lernens. Er galt international als Koryphäe und zog Projekte und Forscher an.

An seinem Lehrstuhl entstanden Lehr- und Lernprogramme, Programmierumgebungen, objektorientierte Arbeitsumgebungen, intelligente tutorielle Systeme, Benutzungsoberflächen und Hypertext- und Hypermediasysteme unter Berücksichtigung von Text, Graphik, Sprache und Multimedia.

So beschrieb es neulich sein Stuttgarter Kollege Volker Claus in einem Nachruf der Fakultät. Schon 1962 befasste sich Gunzenhäuser mit dem Thema ‚Lehrmaschinen und Programmierte Instruktion‘. Er entwickelte Lernprogramme für den Mathematikunterricht (die Informatik gab es damals noch nicht), entwarf rechnerunterstützte Tutorsysteme, erforschte Lehr- und Lernmethoden. Das Fachgebiet hat eine Reihe von Namensänderungen erfahren, die Gunzenhäuser alle überlebt hatte. Mal hieß es Rechnergestützter Unterricht (RGU), mal Computer-based Instruction (CBI) und zuletzt E-Learning. Ähnlich erging es seinem andern Standbein, den Interaktiven Systemen und der Mensch-Maschine-Kommunikation.

Gunzenhäuser experimentierte schon in den 1960er Jahren unter anderem mit der maschinellen Erzeugung von Gedichten. Ein Schüler von ihm (Frieder Nake) erzeugte Grafiken und Bilder auf einem Zeichentisch Zuse Z64, die echten Kunstwerken sehr nahe kamen. Später organisierte Gunzenhäuser eine Ausstellung mit Werken von verschiedenen Rechnern bzw. Programmierern. Eines dieser Bilder hängt seit etwa 1974 bei uns zuhause im Flur. Wie in einem anderen Beitrag dieses Blogs erwähnt, werden ähnliche Leistungen im Jahre 2016 als Errungenschaft der Künstlichen Intelligenz vorgeführt. Im Jahre 1977 begann an Gunzenhäusers Lehrstuhl eine Arbeitsgruppe um Waltraud Schweikhardt mit der Erstellung von rechnerunterstützten Hilfsmitteln für Blinde. Diese Arbeiten resultierten in Hardware- und Software-Produkten, die Blinden und Sehbehinderten Zugang zu Computern gestatteten.

Rechnererzeugtes Gemälde von 1974

Gunzenhäuser hatte einen unvergleichlichen Ruf als Lehrer und Vortragender. Die Studierenden der Universität Stuttgart gaben seinen Lehrveranstaltungen stets beste Noten. Mit seinen Vorträgen konnte er seine Zuhörer begeistern.

Gunzenhäuser lag die Selbstverwaltung der Wissenschaft sehr am Herzen. Er war mehrfach Dekan der Fakultät Informatik und Geschäftsführender Direktor des Instituts für Informatik. Zusammen mit seinen Kollegen Volker Claus und Ludwig Hieber gründete er infos, das Informatik-Forum Stuttgart. Erreicht wurde damit die Einbindung der lokalen Industrie in die Belange der Stuttgarter Informatik. Zwei jährliche Kontaktmessen mit jeweils über 40 Firmenständen bieten Studierenden und Absolventen Job-Angebote. Ein Mitteilungsblatt (Infos-Zeitung) dient der Kommunikation.

Bundesweites professionelles Engagement

Viele Jahre hat er die bundesweit agierende Fachgruppe „Intelligente Lernsysteme“ in der Gesellschaft für Informatik (GI) geleitet. Er betreute unter anderem eine Tagungsreihe, in der junge Informatiker ihre Studien- und Diplomarbeiten vorstellten. Auch dort waren seine belebenden Vorträge und überraschenden Initiativen sehr geschätzt.


Beim Unterzeichnen eines Verlagsvertrags 2015

Nach der deutschen Wiedervereinigung hat er als Mitglied der Informatik-Fachkommissionen für Sachsen und Thüringen am Neubeginn der dortigen Informatikfachbereiche intensiv mitgearbeitet. Als Anerkennung für diesen Einsatz und sein eigenes wissenschaftliches Werk wurde er 1996 mit der Würde eines Dr.-Ing. E.h. der Technischen Universität Dresden ausgezeichnet. Für sein Engagement für Blinde erhielt er 1994 das Bundesverdienstkreuz erster Klasse. Das Informatik-Forum Stuttgart e.V., an dessen Gründung er beteiligt und dessen Arbeit er maßgeblich beeinflusste, verlieh ihm die Ehrenmitgliedschaft. Seit 2003 war er Fellow der Gesellschaft für Informatik. 

Persönliches Umfeld und sonstige Interessen

Das Ehepaar Rul und Brigitte Gunzenhäuser war seit 1966 verheiratet. Sie haben zwei Söhne und eine Tochter und mehrere Enkel. Gunzenhäuser liebte es, an ihm bekannte Urlaubs- und Erholungsorte zurückzukehren. In Deutschland hatten es ihm Rantum auf Sylt und Schwäbisch Hall angetan. Mit Alterskollegen und Jugendfreunden durchwanderte er seine Heimatstadt Esslingen und die Umgebung. Mehrmals zog es ihn in das Thermalbad Abano Terme bei Padua, das er per Direktflug von Stuttgart aus erreichen konnte. Stuttgarts Theater und Ballett schätzte er. Gunzenhäusers Freunde wussten, dass er seit 20 Jahren gegen ein Krebsleiden ankämpfte, dem er schließlich unterlag.

Ich werde Rul Gunzenhäusers anregende Gespräche und seine stets hilfsbereite Art sehr vermissen. Es verbleibt mir die Erinnerung an einen äußerst liebenswerten und hochgeschätzten Kollegen.

Donnerstag, 22. Februar 2018

KI auf dem Vormarsch: Epochale Chancen oder eine menschheitsbedrohende Gefahr?

Von Künstlicher Intelligenz (KI) (engl. artificial intelligence, Abk. AI) ist die Rede, seit John McCarthy (1927-2011) im Jahre 1955 diesen Begriff in die Welt setzte. Nach einem fast 30-jährigen KI-Winter scheint das Fachgebiet sich neuer und gesteigerter Aufmerksamkeit zu erfreuen. Holger Volland (*194x) ist Informationswissenschaftler und derzeit Vizepräsident der Frankfurter Buchmesse. Seine Lehr- und Wanderjahre – so sagt er selbst – verbrachte er bei Multimedia-Agenturen in New York und Berlin. Mit seinem Buch Die kreative Macht der Maschinen (253 S., 2018) drückt er seine Erregtheit und Betroffenheit aus und versucht seine Fachkollegen aufzurütteln. Gemeint sind Archivare, Bibliothekare, Dokumentatoren und Kuratoren. Er führt sogar eine neue Abkürzung ein: KKI steht für Kreative KI.

Bedrückende Macht der Computer

Der Auslöser für das Buch war ein künstlich erzeugtes Bild, das dem Malstil von Rembrandt nachempfunden war. Das soll den Autor zum Nachdenken über die Macht der Computer angeregt haben. Ihm wurde auf einmal Angst um die Rolle des Menschen in seiner ureigenen Domäne von Kultur und Kunst. Das Programm ‚Next Rembrandt‘ hatte die Universität Delft zusammen mit dem Rembrandt-Museum in Amsterdam erstellt und 2016 auf der Buchmesse in Frankfurt am Main vorgeführt.

Seit es Siri, Alexa und Cortana gibt, habe sich die Welt verändert. Diese Art von HiIfeprogrammen löse Hemmungen. Deren Nutzer trauen sich Dinge zu, von denen wir alle bisher nur träumten. Die Firmen Apple, Google, Amazon und Tencent bieten immer mehr sprachbasierte Dienste an. Sie tun dies, damit wir als Kunden bei ihnen bleiben. Das Schreiben von Katalogtexten und Sportberichten übernähmen demnächst Computer. Auch Gedichte und Novellen würden bereits von einem Programm namens WordSmith produziert. Wenn heute von KI geredet wird, sei fast immer ‚Deep Learning‘ gemeint. Folglich werden alle lernenden Programme vom Autor als Künstliche Intelligenzen (man beachte den Plural!) bezeichnet. Was für Texte gilt, gelte auch für große Bildmengen. Sie würden erfasst und analysiert, weil dies ein gutes Geschäft sei. Es betrifft dies vor allem den medizinischen Bereich. Es sei nur eine Frage der Zeit, bis dass Röntgenbilder grundsätzlich nur von Computern analysiert werden. IBMs Watson ließe sich bereits trainieren, um Hautkrebs zu erkennen. Die Gesichtserkennung anhand von Fotos hätte bereits eine Trefferrate von 80%.

Google hätte Programme, die von sich aus gelernt hätten, Katzen auf Bildern zu erkennen, d.h. ohne Vorgabe von Mustern. Der Autor verrät den Lesern nicht, wie diese Software das Wort KATZE (engl. cat, frz. chat) lernt. Er scheint so naiv zu sein zu glauben, dass dies die Software ohne jede Hilfe bewerkstelligt. Sollte er dies nicht glauben, ist es unverantwortlich diesen Eindruck zu erwecken. An dieser Stelle ist selbst die ausgefuchste Mustererkennung überfordert. Ohne Mithilfe eines  Menschen, also natürlicher Intelligenz, geschieht hier nichts.

Neue Formen der Kreativität

Das Erlernen von Sprache sei wichtig für KI-Systeme, um den Menschen besser nachahmen zu können, und um über ihn zu lernen. Es stellt sich die Frage, was Kreativität wirklich ist. Schließlich ist das die Eigenschaft, über die alle Menschen verfügen wollen. Im Grunde ist es der Wunsch und die Fähigkeit, Originelles zu schaffen. Kreative KI (KKI) arbeite mit Wahrscheinlichkeiten. Gemeint ist hier vermutlich ein Zufallszahlengenerator. Es entstehen Programme und Effekte, die nicht geplant waren. Ein gängige Analogie seien Bakterien im Käse.

Wie oft bei diesen Dingen ist Japan uns voraus. Dort ist ein Millionengeschäft entstanden mit einer künstlich geschaffenen Sängerin (Hatsune Miku). Sie hat 2,5 Millionen Followers im Internet. Auch der französische Politiker Mélenchon sei auf der Insel Réunion in Form eines Hologramms (Avatar) aufgetreten. Einen virtuellen Erdogan gäbe es auch schon. Es sei keine Frage, dass der Begriff Kunst neudefiniert werden müsste, wenn von Maschinen geschaffene Werke alle Bedingungen erfüllen, die wir an von Menschen geschaffene Werke stellen.

Neue oder nur bessere Menschen

Die Transhumanisten hängen der Vorstellung an, dass der Mensch auf Software reduziert und daher unsterblich werden kann. Viel plausibler sei es, einen verbesserten Menschen zu schaffen. Jedes einzelne Organ, jeder einzelne Sinn lasse sich verbessern. Das gelte für Augen, Ohren, Nase, Haut, Zunge usw. Es gäbe bereits über 300.000 Cochlea-Implantate weltweit.

Durch das Spiel Pokémon Go wurden bereits Millionen auf die Möglichkeiten der Augmented Reality (AR) aufmerksam gemacht. Googles Glass sei zu früh gewesen. An besseren Lösungen würde überall auf der Welt gearbeitet. Auch Anwendungen virtueller Realität (VR) beginnen sich auszubreiten. Es wurden bereits 10 Millionen VR-Brillen ausgeliefert. VR erlaube das Eindringen in ein Bild (Immersion), wie zuvor nicht möglich. Das Bruegel-Museum in Brüssel biete diese Möglichkeit, und zwar dank eines Projekts der Firma Google.

Überhaupt gibt es den Trend, durch Spielifizierung (engl. gamification) das Erlernen vieler Prozesse und Inhalte zu erleichtern. Davon profitieren Wirtschaft und Wissenschaft. Neue Erlebniswelten entstehen. Es kann dies aber auch zur Realitätsflucht führen.

Verschobenes Machtgefüge

Dass das Verbreiten von falschen Nachrichten (engl. fake news) und die Bildung von Filterblasen im Internet eine große Gefahr darstellen, das weiß inzwischen jedes Kind. Sehr zu bekümmern scheint es den Autor, dass es private Firmen sind, die große Datenmengen besitzen. Google und Amazon seien in der Lage, aus diesen Daten Dinge über uns Menschen zu lernen, die sonst niemand weiß. Gesteigert wird diese Sorge nur dadurch, dass auch China, Russland, die Türkei oder die Regierung der USA durch die willkürliche Auswahl freigegebener Daten Meinungsmanipulation betreiben könnten.

Bei öffentlichen Einrichtungen wie Archiven und Museen würde Digitales immer noch weniger geschätzt als Reales. Da seien Firmen wie Goolge, Apple, IBM und Baidu weiter. Die mangelnde Kulturfinanzierung durch Staaten sei notorisch. Zum Glück helfen Private. So bietet die Stadt Paris ein wahres Chagall-Erlebnis, allerdings nur dank einer Initiative der Firma Google. Google habe es ja zum Geschäftszweck erhoben, weltweit Wissen zu organisieren. In Wirklichkeit gehe es dabei um Macht, frei nach dem Grundsatz Wissen ist Macht. Viele Museen ließen sich von dem Geld, das ihnen Google anbietet, dazu verleiten, ihre Schätze preiszugeben. Selbst Berliner Museen stellten ihre digitalen Datenbestände einem Kultur-Hackathon zur Verfügung. Auch sie machen gerne ihre Daten zu Gold, und damit zu Geld.

Dürftige Empfehlungen und leise Kritik

Wir müssen KI ernst nehmen – fordert Volland. Sie dringt immer weiter vor, auch in Kulturbereiche. Wir müssten uns ansehen, wofür sie gut ist. Vielleicht lernen wir durch die KI besser zu verstehen, was Intelligenz ist. Sie umfasst eine große Bandbreite beim Menschen. Dem kann ich nur beipflichten. Die USA und China täten mehr für die KI als Deutschland. Wir seien primär Anwender, also keine Entwickler. Wir sollten unsere Daten nicht leichtfertig hergeben.

Die Menschheit sollte nicht alles umsetzen, was technisch machbar ist. Die Politik sollte einen ‚Masterplan‘ entwickeln, der Forschung und Wirtschaft zusammenbringt. Was da inhaltlich hineingehört, sagt Volland nicht. Alle Schüler sollen programmieren lernen. Auch hier bleibt er vage. Er sagt nicht, an welche Sprachen oder Konzepte er denkt. Ist es Assembler, Algol, Prolog, Java oder Scratch? Ist es prozedural oder funktional?

Volland versteht es Staunen zu vermitteln. Auch das hat einen Wert. Er erklärt allerdings reichlich wenig. Wie hätte wohl sein Bericht ausgesehen, wenn er im Jahre 1835 in seiner Heimatstadt Nürnberg die erste Eisenbahnfahrt in Deutschland unternommen hätte? Ermöglicht wurde dies dank einer Maschine, die zuvor in England gebaut worden war. Sie wurde von englischen Ingenieuren importiert und vorgeführt. Das hätte ihn bestimmt bedrücken müssen, wenn er daraus Schlussfolgerungen für Deutschlands und Nürnbergs Zukunft hätte ziehen müssen.

Freitag, 16. Februar 2018

Schriftsteller und Philosophen am Puls der Zeit und der Menschheit

Nicht nur im Karneval und an Aschermittwoch wird das Land mit politischen und und philosophischen Aussagen traktiert, die zum Teil tiefe Erkenntnisse und Wahrheiten enthalten. Etwas anders sind unsere Erwartungen, wenn zwei der bekanntesten Berufsintellektuellen des Landes sich zu Wort melden. Ein Interview, das der schweizerische Journalist Frank A. Meyer im Rahmen einer Veranstaltung des Magazins Cicero im Jahre 2013 mit Martin Walser und Peter Sloterdijk führte, erhebt genau diesen Anspruch. Ich gestatte mir dieses Interview etwas unter die Lupe zu nehmen.

Großschriftsteller Walser

Martin Walser (*1927 in Wasserburg) ist derzeit Deutschlands produktivster Schriftsteller. Von ihm stammen rund 60 Romane und 15 Theaterstücke. Da kommen Goethe und Schiller kaum mit. Beide schafften es nur auf je etwa 50 Dramen oder Prosatexte. Walsers Hauptthema ist das Scheitern im Leben. Unangenehm fiel er 1998 durch seine Paulskirchenrede auf. Darin warnte er davor, den Holocaust zu instrumentalisieren. Auschwitz eigne sich nicht als Drohroutine und Moralkeule. Es war dies die Zeit als Joschka Fischer den Kosovo bombardieren ließ und Günter Grass gegen die Wiedervereinigung argumentierte. Später warb er um Unterstützung für Griechenland, weil Europa ihm das Platonische Schönheitsideal verdanke.

Volksphilosoph Sloterdijk

Peter Sloterdijk (*1947 in Karlsruhe), ist Philosoph, Kulturgeschichtler und Sprachwissenschaftler. Nach seiner Wiederkehr aus Pune ist er seit 1992 an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe tätig, derzeit als deren Rektor. In Analogie zu Reich-Ranickis Literarischem Quartett betrieb er ein Philosophisches Quartett im deutschen Fernsehen. Bekannt wurde er 1999 durch seine ‚Regeln für den Menschenpark‘. Alle Leute sahen darin ein Aufwärmen von Nazi-Ideologien. In seinen fast 50 Veröffentlichungen betreibt er Vergleichende Religionsgeschichte, äußert sich aber auch zu Euro, Feminismus und Flüchtlingskrise. Er scheint sehr belesen zu sein und hat mit dem französischen Philosophen Alain Finkielkraut zusammen veröffentlicht und über Jacques Derrida geschrieben.

Aussagen eines Interviews von 2013
 

Einige Zitate aus dem Cicero-Interview sollen kurz wiedergegeben werden: Walser verkündet, dass eine Erlösung der Menschheit nur durch Schönheit möglich sei. Er meint, Angela Merkel habe ein schönes Mädchengesicht. Das Flugzeug, das ihn heute nach Berlin brachte, sei voller schöner Menschen gewesen. Sloterdijk hält Walser vor, er sei jetzt für Schönheit als Gegenreaktion zur Hässlichkeit der kritischen 68er-Diskussion. Er zitiert einen Religionsphilosophen mit der Aussage, verschiedene Religionen seien nur Schuldgefühle mit verschiedenen Feiertagen. Außerdem: Farnwälder versanken im Meer, ehe es Menschen gab. Die Welt sei heute ohne Zentralperspektive. Sie sei in Kosmen und Subsysteme ausdifferenziert. Experten verstehen die Welt nicht mehr; sie wirken wie Hofnarren. Walser möchte sich nicht an früher erinnern. Für ihn zähle nur das Heute. Er schreibe, um zu erfahren, ob nur er die Welt so sieht. Er lebe von Zustimmung.

Aussagen einer Sendung von 2008

Peter Hiemann aus Grasse schrieb: Peter Sloterdijk ist mir in einer Gesprächsrunde zum Thema Ist die Welt noch zu retten? von 2008 aufgefallen: Über diese Frage diskutierten Peter Sloterdijk und Rüdiger Safranski im "Philosophischen Quartett" des ZDF mit dem Sozialpsychologen Harald Welzer und Franz Josef Radermacher, dem Beobachter der Globalwirkungen in Wissenschaft, Wirtschaft und Politik.

Radermacher glaubt, dass sich unter gewissen gesellschaftlichen Bedingungen  wissen-orientierte (individuell vernünftige) Orientierungen in der Gesellschaft durchsetzen – im Sinne gesellschaftlicher kultureller Phasenbrüche. Individuelle werte-orientierte (emotionale)  Einstellungen (Haltungen) erschweren zwar kulturelle Phasenübergänge, werden sie aber nicht verhindern. Welzer glaubt nicht an die Möglichkeit, dass sich wissen-orientierte (individuell vernünftige) Einstellungen (Haltungen) in der Gesellschaft durchsetzen, weil individuelle egoistische Einstellungen immer dominieren werden.

Nach meiner Einschätzung argumentierten Radermacher und Sloterdijk progressiv, wissen-orientiert. Welzer und Safranski vertraten konservative, werte-orientierte Prinzipien. Beim nochmaligen Anschauen der Sendung könnte man meinen, dass Radermachers und Sloterdijks Vorstellungen eine Rolle bei meinem Essay 'Einsicht ins Ich' gespielt haben. Mit anderen Worten: Sloterdijk halte ich für einen Vertreter der Philosophenzunft, die sich auch für aktuelle Vorstellungen unserer Epoche interessiert und aufklären will.

Reaktion und Diskussion

Obwohl beide Veranstaltungen bereits einige Jahre zurückliegen, liefern beide einen Beleg dafür, wie wenig hilfreich diese Diskussionen sind. Sie sind leider sehr abgehoben und entfernt von dem, was eine Gesellschaft braucht, um auf der Höhe der Zeit mitreden und mitentscheiden zu können. Einige dieser Koryphäen sind zu elitär oder ich-bezogen. Andere schweben in den philosophischen Welten der Antike. Beides sollte man ihnen sagen dürfen. Ich breche hier ab, wohlwissend, dass dies sehr unbefriedigend ist. Ich hoffe, dass durch nachfolgende Beiträge ein etwas klareres Bild entsteht.

Nachtrag am 16.2.2018

Peter Hiemann schrieb:  Herausragende Literaten haben einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf individuelle Denk- und Verhaltensweisen einer Epoche. Dieser Einfluss wird vorwiegend  deutlich, wenn Literaten erklären, von welchen geistigen Prinzipien sie sich leiten lassen, welche Weltanschauung sie vertreten.

Will man Goethes Weltanschauung verstehen, so darf man sich nicht damit begnügen, hinzuhorchen, was er selbst in einzelnen Aussprüchen  über  sie  sagt. Goethe sieht sich selber so:  «Der Mensch  ist  nicht  geboren, die  Probleme der  Welt  zu  lösen, wohl  aber  zu  suchen,  wo  das  Problem  angeht,  und  sich sodann  in  der  Grenze  des  Begreiflichen  zu  halten.» Ein Problem, das der Mensch gelöst zu haben glaubt, entzieht  ihm die  Möglichkeit,  tausend  Dinge  klar  zu  sehen,  die  in den Bereich dieses Problems fallen. Goethe  hatte in  sich  die Vorstellung ausgebildet, dass sich seinem Geist „eine plastisch-ideelle Form offenbart, wenn er die Mannigfaltigkeit der Pflanzengestalten über schaut und ihr Gemeinsames beachtet“. Über die  symbolische  Pflanzengestalt schrieb  Goethe: «Eine  solche  muss  es  denn doch geben! Woran würde ich sonst erkennen, dass dieses oder jenes  Gebilde  eine Pflanze  sei,  wenn  sie  nicht  alle  nach  einem Muster gebildet wären.» 


Schiller  betrachtete dieses  Gebilde,  das  nicht  in  einer einzelnen,  sondern  in  allen Pflanzen  leben  sollte,  und  sagte  kopfschüttelnd:  «Das  ist keine Erfahrung,  das  ist  eine  Idee.»  Wie  aus  einer fremden  Welt kommend, erschienen Goethe diese Worte.  Er konnte nichts entgegnen als: «Das kann mir sehr lieb sein, wenn ich Ideen habe, ohne es zu wissen, und sie sogar mit  Augen  sehe.» Und er war  ganz  unglücklich,  als  Schiller daran die Worte knüpfte: «Wie kann jemals eine Erfahrung gegeben  werden,  die  einer Idee  angemessen  sein  sollte.  Denn  darin besteht  das Eigentümliche  der  letzteren,  dass  ihr  niemals  eine Erfahrung kongruieren könne.» 


Zwei entgegengesetzte Weltanschauungen stehen in diesem Gespräch einander gegenüber. Es hat für Goethe keinen Sinn zu sagen, ein Ding entspreche der Idee nicht.  Anders  denkt  Schiller. Ihm sind Ideenwelt und Erfahrungswelt zwei getrennte Reiche. Quelle: Rudolf Steiner - Goethes Weltanschauung. In den »Philosophischen Briefen« gibt Schiller seiner spiritualistisch-optimistischen Weltanschauung beredten Ausdruck. »Das Universum ist ein Gedanke Gottes.« »Wo ich einen Körper entdecke, da ahne ich einen Geist.« Alle Geister werden von Vollkommenheit angezogen, alle streben nach dem Zustand der höchsten freien Äußerung ihrer Kräfte. Die Natur ist »ein unendlich geteilter Gott«. Quelle: textlog.de – Historische Texte – Friedrich Schiller

Versuchen wir herauszufinden, welche Weltanschauung  Martin Walser vertritt, werden wir von ihm belehrt, dass er das Wort 'Weltanschauung'  meidet, weil es einen fragwürdigen 'kentaurischen' Sinn hat: „Das dunkle Wortgebräu Weltschmerz zeigt durch seine schwer auflösbare Konstruktion nur, daß man eben nicht genau weiß, woran man leidet, wenn man unter Weltschmerz leidet. Aber so zurückhaltend und verhangen ein allgemeiner Kummer sich als Weltschmerz beklagt, so unverfroren kann jede unerkannte Verdauungsbeschwerde bei uns als Weltanschauung auftreten. Das liegt in der kentaurischen Natur dieser sprachlichen Möglichkeit.“ Quelle: Martin Walser: Einheimische Kentauren oder: Was ist besonders an der deutschen Sprache? (DIE ZEIT Nr. 47 / 1964)

Mit anderen Worten: Martin Walser hält es für angebrachter, über die Schönheit der Welt zu reden, als darüber, wie wissenschaftliche, technische, ökonomische und politische Erfahrungen und Erkenntnisse Weltanschauungen und individuelle Denk- und Verhaltensweisen prägen. In dem Cicero-Interview beruft sich Walser mehrfach auf  philosophische Aussagen, speziell auf Platons Vorstellung einer absoluten Ideenwelt. Man fragt sich: Hat Walser jemals darüber nachgedacht, dass die Schönheit einer Blume in seinem Garten am Bodensee weniger für ihn attraktiv sein will, sondern dass die Blume attraktiv für die Hummel sein muss, um sie zu bestäuben.


Nachtrag am 17.2.2018

Peter Hiemann ergänzte:  Ich habe keine spezielle Einsicht oder Meinung zu Peter Sloterdijks philosophischer Arbeit. Mir ist bei Sloterdijk lediglich aufgefallen, dass er mit  wissenschaftlich orientierten Gesprächspartnern effektiv interagiert.

Bei früheren Überlegungen zum Thema 'Gelassenheit und Wirklichkeit', die ich aufgrund einer persönlich schwierigen Situation nach meiner Krebsoperation angestellt habe, habe ich gesehen, wie Philosophen untereinander kommunizieren: Der Philosoph Manfred Frank wirft seinem Kollegen Peter Sloterdijk in einem offenen Brief in der ZEIT vor, „Geschweife und Geschwefel“ zu produzieren und zu verbreiten. Das klingt so: „Heidegger hat den Humanismus wie so viele Denker seiner Generation (auch Karl Barth gehört zu ihnen) zu überwinden versucht - das sei ihm, denken Sie, gutgeschrieben. Er hatte schon in Sein und Zeit Philosophie nicht mehr vom Subjekt, dem Agenten der Menschlichkeitsideologie, sondern vom Sein aus zu begründen unternommen. Aber noch hielt das "Dasein" - der fundamentalontologische Nachfolgebegriff für "Subjekt" oder "Mensch" - eine bedeutende Stellung, die auch in den Schriften nach der "Kehre" nicht aufgegeben wird. So bleibt das Dasein im Brief über den ,Humanismus' zwar "nicht der Herr des Seienden", wohl aber der "Hirt des Seins". Diese ontologische "Pastorale" gilt es nunmehr - meinen Sie - durch Radikalisierung der Absage an den Humanismus zu entharmlosen, aber ebenso, dass keinerlei Moral die Berufung des Hirten zur Wahrung seiner Wahrheit normativ anleitet.“ 


Wer Lust hat, kann Manfred Franks Brief mit dem Titel 'Geschweife und Geschwefel' lesen. Franks Brief ist einer der Gründe, dass ich (leider?) nur Philosophen respektiere, die auch in der Lage und Willens sind, aktuelle wissenschaftliche, technische, ökonomische und politische Situationen zu reflektieren. Wir haben ja Erfahrungen, dass das bei philosophisch orientierten Gesprächspartnern nicht selbstverständlich ist.

Montag, 12. Februar 2018

Karneval in Brasilien – Erinnerung an eine Kreuzfahrt im Frühjahr 2004

Immer wieder griff ich in diesem Blog auf Erinnerungen an frühere Reisen zurück. In den jetzigen Karnevalstagen möchte ich einige Eindrücke einer Südamerikareise wiedergeben. Wir flogen zunächst nach Buenos Aires und fuhren dann per Schiff bis nach Belem an der Mündung des Amazonas. Nach einem Zwischenstopp in Montevideo ging es nach Rio und von dort an der brasilianischen Küste entlang nach Norden. Ich greife hier nur meine Berichte über Rio de Janeiro und Salvador de Bahia heraus.

Rio de Janeiro

Nach zwei vollen Seetagen, während der wir über 1000 Seemeilen zurücklegten, ohne Land zu sehen, näherten wir uns der Guanabara-Bucht. Je mehr Felsen auf der Backbordseite auftauchten, umso mehr Pas­sagiere erschienen an Deck. Durch den Vortrag von Dr. Jörg Wagner aus Tübin­gen vom Vortage waren wir eingestimmt worden. Er empfahl Stefan Zweigs Buch von 1941, in dem dieser Rio als die schönste Stadt der Welt pries.

 Guanabara-Bucht

Der Zuckerhut (Pao de Açucar), der als erstes auftauchte, ist ein Granitfelsen, ebenso der etwas später erscheinende, höhere Corcovado. Die Einfahrt zur Bucht bewacht auf jeder Seite eine ehemalige portugiesische Festung. Mitten in der Bucht liegt die Insel, auf der Durand de Villegaignon ab 1555 mit seinen Landsleuten aus Dieppe wohnte, ehe ihn die Portugiesen vertrieben. Die Insel ist heute eine Marinebasis. Auf einer kleinen Insel (Ilha de Fiscal) daneben ist das Schloss, in dem Kaiser Pedro II. den letzten Ball gab, bevor er eine Woche später das Land verlassen musste. Wir fuhren am Stadtflughafen Santos Dumont vorbei und legten noch vor der Niteroi-Brücke am Hafenkai an.

 
Catedral Metropolitan

Unsere Busrundfahrt brachte uns zuerst ins Stadt­zentrum. Man ließ uns in die Kathedrale Metro­poli­tan hinein, einem moder­nen Betonkegel, der einem Maya­tempel nach­emp­funden ist. Rund­herum sind Hoch­häuser von Banken und das Gebäude der Öl­gesellschaft Petrobras. Wir fuhren auch an zwei Kirchen im Barockstil vorbei. Die größere heißt Kerzen­kirche. Die Seilbahn zum Zuckerhut führt zunächst zum Morro de Urcar. Ab da ist die Aus­sicht fantastisch. Ganz oben sieht man zuerst die Verkaufsstände von H. Stern und Amsterdam-Sauer. Das sind zwei Juwelenhändler, deren Vertreter sich seit der Abfahrt von Buenos Aires auf dem Schiff herumtrieben und sich um uns be­mühten. Es gibt herrliche Post­kartenaus­sichten nach allen Seiten, wobei die Südseite mit den Stadt­teilen Copa Cabana und Ipanema beson­ders beeindruckt. Dahinter kommen steile Berge bis ans Meer. Über dem Stadt­zen­trum und Niteroi ging alsbald ein Gewitter herunter. Wir beobachteten das Natur­schauspiel als Unbetroffene.

Stadtzentrum vom Zuckerhut aus

Der Ausflug, der uns als „Rio bei Nacht“ angeboten wurde, brachte uns in eine Samba-Show im Stadtteil Ipanema. Tromm­ler und Kampf­tänzer zeigten welchen Tempos sie fähig sind, die braunen Mädchen schritten eher würdig um­her, mal kaum bekleidet, mal von bunten Karne­vals­kostümen überlastet. Wir tranken je eine Caipirinha. 

 
 Samba-Show
 
Am näch­sten Vormittag ging es am Samba­drom vorbei zur Talstation der Zahn­radbahn zum Corco­vado. Oben ange­kommen, hüllte Christus sich in Wolken und der Blick nach unten war getrübt. Auch war das Maracana-Stadion ver­steckt. Umso eindrucksvoller war der tropische Urwald an beiden Seiten der Zahnradbahn. Diese Gegend ist nämlich Teil des bota­nischen Gartens der Stadt. Am Bin­nensee Rodrigo de Freitas vorbei brachte uns der Bus an die Copa Cabana. Er hatte allerdings keine Zeit, um anzuhalten.

 
Corcovado-Besucher

Das holten wir dann am Nachmittag auf eigene Faust nach, nachdem wir einen Besuch der Werk­statt der Firma Stern in Ipanema hinter uns ge­bracht hatten. Unser Zielpunkt war das Copa Cabana Palace Hotel, das älteste und beste Hotel der Stadt. Eine Kokosnuss lieferte eine Erfrischung, bis dass der Regen uns zur Flucht zwang. 

An der Copa Cabana

Mehrfach durch­fuhren wir während der beiden Tage die Stadtteile Botafogo und Flamengo, sei es im Bus oder Taxi, stets bei lebhaftem Verkehr. Mehrere dem Verkehr sich ent­gegenstellende Bergrücken im Stadtgelände werden durch Tunnels unterfahren. Im Stadtteil Flamengo zieht sich kilometerlang der gleich­namige Park zwischen Ufer und Schnellstraße. Hier trainieren zukünftige Fußball-Weltstars. Die MS Berlin verließ Rio um Mitternacht.

Salvador de Bahia

Etwa 750 Seemeilen trennen Rio und Sal­vador. Wir waren dort am Rosen­mon­tag. Beim morgendlichen Stadtrund­gang sahen wir überall karnevalistische Dekora­tionen. Buntgekleidete Frauen lockten zum Fotografieren. Überall drängten sich Menschen in Festtagsstimmung. Höhe­punkte des Rundgangs waren die Ka­the­drale mit ihren vergoldeten Altären und der Mercado Modelo in der Unterstadt. 
Hafen-Distrikt

Cathedral Basilica

 Am Nachmittag dröhnte es von der Stadt herüber zum Schiff. Trotz der Warnung der Reiseleitung, uns nicht in den Trubel zu begeben, stellten wir uns in die Schlange am Aufzug. Meine alte Kamera hatte ich in der Hosentasche. Wir gingen in die Richtung, aus der die Musik kam. Am Platz Castro Alvez war kein Weiterkommen mehr. Hier drängten sich Tausende. Hier stand ein Musikwagen, von dem herab der Lärm dröhnte, den die meisten der anwesenden Jugendlichen als Musik empfanden.

Frauen und Karneval 1


Frauen und Karneval 2

 Der Zug selbst kam von einer gegen­über­lie­genden Anhöhe herab und bog vor uns in die Uferstraße, die nach Süden führt (Ave­nida Lafayette Coutinho). Kinder besprüh­ten sich gegenseitig mit Rasierschaum aus Spray-Dosen. Andere sammelten Bier- und Coladosen ein, um sie zu Geld zu machen.


Männer gibt es auch 1


Männer gibt es auch 2

Immer wieder kamen kleine Teilgruppen von fantastisch gekleideten Figuren, die besondere Aufmerksamkeit erregten. Wir verließen den Ort des Geschehens nach Einbruch der Dunkelheit. Ein Ende des Trubels war noch nicht abzusehen. Wir mussten uns den Weg zum Fahrstuhl bahnen, der uns runter in den Hafen und zu unserem Schiff brachte.

Samstag, 10. Februar 2018

Tübingens Boris Palmer erklärt die Flüchtlingsproblematik

In unserem Ländle, also in Baden-Württemberg, regieren seit 2011 die Grünen. Ein wahrer Magnet von Sympathie und Zustimmung ist Wilfried Kretschmann, der Landesvater. Er hat nicht nur die SPD marginalisiert, er gilt auch als bester Mann von Angela Merkel. Die Stadt Stuttgart wird von einem grünen OB geleitet (Fritz Kuhn), seit Neuestem auch die benachbarte Kreisstadt Böblingen. Böblingen ist übrigens Deutschlands reichster Landkreis, nach dem Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Einwohner gerechnet. Die Universitätsstadt Tübingen schließt sich südlich an. Sie hat neben Freiburg den höchsten Anteil grüner Wähler im Südwesten. Der Tübinger OB heißt seit 2007 Boris Palmer (*1972). Im Folgenden gebe ich einige Ideen seines Buches Wir können nicht allen helfen (2017, 4. Auflage, 256 S,) wieder.

Familie und Werdegang

Boris Palmer ist der Sohn des früheren Remstal-Rebellen Helmut Palmer. Von 2001-2007 war er Landtagsabgeordneter der Grünen für Baden-Württemberg. Nach einer verlorenen Kandidatur 2004 in Stuttgart gewann er 2007 die Bürgermeisterwahl in Tübingen. Er gewann im ersten Wahlgang mit 50,4 % der Stimmen. Bei der Wiederwahl im Jahre 2014 erzielte er beeindruckende 61,7 %. Er engagierte sich in einer lokalen Klimaschutzinitiative (Tübingen macht blau), durch die der CO2-Ausstoßes pro Kopf seit 2007 um 18 %  gesenkt wurde. Er wurde dafür mit dem European Energy Award in Silber ausgezeichnet.

Ursachen und Auswirkungen des Flüchtlingsstroms

Das Jahr 2015 gilt als das Jahr, als wahre Flüchtlingswellen über Deutschland rollten. Palmer erinnert daran, dass am Anfang nicht die Flüchtlinge aus Syrien standen, sondern die aus dem Kosovo. Auslöser dieser Fluchtwelle war ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVG) von 2014 und das daraufhin geänderte Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG). Danach erhält jeder Flüchtling 300 € pro Monat, egal welche Chancen er hat, anerkannt zu werden. Das veranlasste halbe Dorfgemeinschaften aus dem Kosovo nach Deutschland überzusiedeln. [Ähnliche Zustände gab es 1830 in meiner Heimat, als ganze Nachbarschaften in die USA auswanderten]. Erst als der UNO das Geld ausging, um Flüchtlingslager vor Ort mit Lebensmitteln zu versorgen, setzte der Flüchtlingsstrom aus Syrien ein.

Nach den Bildern auf dem Bahnhof in Budapest und dem Entschluss Viktor Orbans die dort Versammelten mit Bussen zur österreichischen Grenze zu bringen, beschloss Angela Merkel zusammen mit ihrem österreichischen Kollegen Werner Faymann die Grenze zu öffnen. Merkel habe zu diesem Zeitpunkt durchaus Realpolitik gemacht, meint Palmer. Sie wollte keine Gewalt an den Grenzen. Die Gesinnungspolitik, nämlich nach einem moralischen Grundsatz zu handeln, sei ihr unter anderem von Politikern der Grünen, z. B. von Katrin Göring-Eckardt, unterstellt und bejubelt worden. Es sei Merkels Fehler gewesen, diesem Eindruck nicht energisch widerstanden zu haben. Kein Land könne dem auf Dauer gerecht werden.

Nachdem die Leute im Land waren, wurden sie zuerst in zentralen Auffanglagern der Bundesländer untergebracht. Anschließend wurden sie den Kreisen und Kommunen zugewiesen. Hätte sich die Rate von über 100.000 Flüchtlingen pro Monat länger fortgesetzt, hätte dies unser Land überfordert. Genau darauf habe er verwiesen, als er Merkels ‚Wir schaffen das!‘ widersprach. Zum Glück flaute der Strom bereits im Laufe des Jahres 2016 deutlich ab. Er pendelte sich bei etwa 200.000 pro Jahr ein. Wer oder was dies bewirkt habe, das mögen Historiker klären. Ob es die Schließung der Balkanroute durch die Visigrad-Staaten war, oder das Abkommen mit der Türkei, das sei sekundär. Wahrscheinlich spielte beides eine Rolle.

Wegen des Zuzugs echter Asylbewerber änderte sich Mitte 2015 die Situation von Wirtschaftsmigranten wie aus dem Kosovo schlagartig. Sie wurden zur Ausreise angehalten und dabei finanziell unterstützt. Wo nötig, wurden Abschiebungen durchgeführt.

Flüchtlinge aus der Sicht der betroffenen Gemeinden

Als Stadt mit etwa 90.000 Einwohnern bekam Tübingen 2000 Flüchtlinge zugewiesen. Sie wurden – wie auch in andern Städten – zunächst in Turnhallen unterbracht. Danach wurden Behelfsunterkünfte (z. B. Container) beschafft und leerstehende Gebäude angemietet. In Tübingen wurden rund 150 leer stehende Wohnungen oder Häuser identifiziert. Sie einer Benutzung zuzuführen, erwies sich nicht immer als leicht. Obwohl die Stadt über die Möglichkeit zur Beschlagnahmung einer Wohnung verfügt, wurde davon nicht Gebrauch gemacht. Erst im Jahre 2017 liefen Bauprojekte an, die permanenten Wohnraum für 1300 Flüchtlinge schaffen sollen. Dabei verfolgt Tübingen das Ziel, diese Wohnungen möglichst über die ganze Stadt zu verteilen und zusammenhängende Stadtrandsiedlungen und Ghettobildung zu vermeiden.

Deutschland gibt derzeit rund 20 Mrd. € pro Jahr für die Unterbringung von Flüchtlingen aus. Ein großer Teil dieses Geldes geht an die Hersteller von Betten und Containern, bzw. in Bauprojekte. Die zusätzlichen Kosten für Schulen und Arbeitsbeschaffung sind darin nicht enthalten.

Grundsätzliches

Palmer sieht es als ein Dilemma an: Wir können weder die Lebensbedingungen in den Ursprungsländern verbessern, noch können wir alle aufnehmen, die zu uns wollen. Armut und Leid per Asylrecht aus der Welt zu schaffen, sei unmöglich.

Ein Staat, der seine Grenzen nicht sichert, verliere ein wesentliches Element seiner Staatlichkeit. Verantwortungsethik und Gesinnungsethik prallten leicht aufeinander. Ein Politiker, der nur Gesinnungsethik gelten ließe, habe laut Max Weber (1864-1920) seinen Beruf verfehlt. Er wäre besser Heiliger geworden. Schon Aristoteles (384-322 vor Chr.) habe darauf hingewiesen, dass eine Tugend immer ein Mittelweg zwischen Extremen sei. Auf das richtige Maß käme es an, etwa zwischen Sparsamkeit und Großzügigkeit, zwischen Realismus und Empathie.

Dass Mehrheiten die Meinung von Minderheiten nicht ignorieren dürfen, ist allgemein akzeptiert. Anderseits dürfen Minderheiten nicht die Mehrheit tyrannisieren. Sie müssten lernen, gewisse Kränkungen zu ertragen. Im übrigen gefalle ihm die Meinung von James Baldwin (1924-1987), der sagte: Wer mich ‚Nigger‘ nennt, der sollte sich sebst fragen, warum er das sagen muss.

Offene Fragen und Ausblick

Palmer findet es unverständlich, dass Deutschland noch immer kein Einwanderungsgesetz hat. Mit der Beschränkung auf Bio-Deutsche sei Deutschland nicht mehr konkurrenzfähig. (Der neue Koalitionsvertrag spricht immerhin von einem Fachkräftezuwanderungsgesetz). Die saubere Trennung von Asyl mit dem Ziel der Lebensrettung und Einwanderung mit dem Ziel des sozialen Aufstiegs könnte viele Diskussionen vereinfachen.

Um die Verteilung von Flüchtlingen innerhalb Europas zu erleichtern, habe Daniel Cohn-Bendit  (*1945) eine Agentur vorgeschlagen, wo aufnahmewillige Städte sich melden können. Diese Idee sollte aufgegriffen werden. Alle Abschiebungen nach Afghanistan würden leider immer von tendenziösen Presseberichten begleitet (z.B. in der Stuttgarter Zeitung). Die Sicherheit in Afghanistan sei besser als die in Brasilien und Chicago. Dort  gäbe es die doppelte Anzahl Morde pro Kopf der Bevölkerung. Weltweit läge Afghanistan auf Platz 50, gleich wie die USA.

Als mustergültig lobt Palmer den Weg, den Richard Arnold, der Bürgermeister von Schwäbisch Gmünd ging. Er kümmerte sich persönlich um alle Flüchtlinge, verhalf ihnen zu Wohnungen und Arbeit. Wenn wir anstatt zu moralisieren eine flüchtlingsfreundliche Politik betreiben würden, die von Verantwortung für Einheimische und Zugereiste geleitet sei, dann schaffen wir es auch, denen zu helfen, die Hilfe benötigen. Nur wenn wir die Probleme offen benennen, die auftreten oder auftreten können, graben wir auch den Rechtspopulisten das Wasser ab.

PS:  Es überrascht schon, wie viel Pragmatismus im Südwesten zuhause ist. Mögen doch andere Regionen dem Beispiel folgen.