Montag, 26. Februar 2018

Erinnerungen an Rul Gunzenhäuser (1933-2018)

Rul Gunzenhäuser war emeritierter Informatik-Professor der Uni Stuttgart und einer der bekanntesten und profiliertesten Informatiker Deutschlands. Er hatte im August 2011 in einem Interview dieses Blogs einen Rückblick auf sein akademisches Arbeitsgebiet gegeben. Vor allem in den letzten etwa 15 Jahren pflegten wir sehr intensive Kontakte. Wir hatten ein äußerst freundschaftliches Verhältnis.


Rul Gunzenhäuser 2008

Persönliche Begegnungen

Gunzenhäuser und ich kannten uns seit über 50 Jahren. Wir müssen uns Ende der 1960er Jahre zum ersten Mal getroffen haben. Mit Gunzenhäusers Projekten wurde ich seit 1972 im Detail vertraut. Als Mitglied des Sachverständigenkreises für das Überregionale Forschungsprogramm Informatik (ÜRF) des Bundesministers für Forschung und Technologie (BMFT) durfte ich seine Förderanträge mit begutachten. Neben Gunzenhäuser hatte Stuttgart damals ein halbes Dutzend Gruppen, die Förderanträge stellten. Nicht alle kamen aus der Informatik. Gunzenhäusers Gruppe war die einzige, die von einem Ordinarius geleitet wurde. Das blieb so bis in die 1980er Jahre. Zur gleichen Zeit haben die TU München und die TH Karlsruhe jeweils 8-10 Professuren mit Forschungsgruppen eingerichtet. Später folgten Aachen, Berlin, Darmstadt, Dortmund und Erlangen. Weniger engagiert waren Bonn, Braunschweig, Hamburg, Hannover, Kaiserslautern, Kiel und Saarbrücken.

Da das Böblinger IBM Labor, wo ich beschäftigt war, um diese Zeit eine Kompetenz in Software-Ergonomie aufbaute, gab es einen intensiven fachlichen Austausch mit Gunzenhäusers Gruppe in Stuttgart. Einige seiner Doktoranden und Absolventen fanden eine dauernde Aufgabe im IBM Labor, so Dorothea und Joachim Bauer, Ursula Braun, Thomas Fehrle, Wolfgang Glatthaar, Heinz Kreibohm und Hans Albrecht Schmid.

Bei meiner Promotion im Jahre 1976 an der Uni Stuttgart war Gunzenhäuser Zweitberichter. Mein ‚Doktorvater‘ war Erich Neuhold. Da Neuhold bald danach Stuttgart verließ, war Gunzenhäuser ─ so zu sagen ─ der hinterbliebene Elternteil meiner Stuttgarter akademischen Familie. Jedenfalls vermittelte er mir dieses Gefühl. Bei vielen Veranstaltungen der Universität Stuttgart, aber auch in der Gesellschaft für Informatik (GI), erfuhr ich seine besondere Aufmerksamkeit und seine spezielle Fürsorge. Sicher habe ich es auch ihm zu verdanken, dass meine langjährige Lehrtätigkeit an der Universität Stuttgart durch die Ernennung zum Honorarprofessor anerkannt wurde.

Eine weitere Phase der Zusammenarbeit ergab sich während meiner Zeit von 1993-1997 an der TU München. Im Rahmen eines vom BMFT geförderten Forschungsprojekts mit Namen MeDoc arbeiteten 30 Hochschulen und 14 Verlage zusammen, um ihnen einen Frühstart in Richtung Digitalisierung zu ermöglichen. Stuttgart leistete dank Gunzenhäusers Engagement ganz beachtliche Beiträge. Die aktuelle Projektarbeit wurde von Uwe Berger durchgeführt, einem Mitarbeiter des Uni-Rechenzentrums. Mit Gunzenhäuser zusammen bemühte ich mich, das Nachfolgeprojekt nach Stuttgart zu holen. Leider hatten wir keinen Erfolg.

 

Ehepaar Gunzenhäuser 2008

Zahllose gemeinsame Bahnfahrten zwischen Bonn und Stuttgart boten immer wieder Gelegenheit, sich über unsere sehr unterschiedlichen beruflichen Welten zu informieren und unsere Erfahrungen zu vergleichen.

Im Rentnerstand

Etwa zur gleichen Zeit beendeten wir beide unsere berufliche Laufbahn, ich 1997, er ein Jahr später. Da wir beide den Ruhestand als Unruhestand betrachteten, nahm unsere Zusammenarbeit noch zu. Unser erstes gemeinsames Opus war eine Broschüre, die wir zusammen verfassten, um älteren Menschen die Vorteile der Computernutzung zu erklären. Eine Beschreibung befindet sich in einem Blog-Beitrag mit dem Titel Senioren und Informatik aus dem Februar 2011. Es werden 18 Anwendungen vorgestellt und es wird Mut gemacht, sich mit ihnen zu befassen. Die Broschüre selbst wurde über zwei bei der Seniorenbetreung eingesetzten Plattformen verteilt.

Anschließend war Gunzenhäuser der Ko-Autor zweier Bücher, die wir zusammen veröffentlichten. Das Buch Schuld sind die Computer von 2010 geht indirekt auf seine Initiative zurück. Bei einem Treffen der GI Fellows im Jahre 2009 in Salzburg gab es eine Diskussion über das Selbstverständnis der Informatik. Als ich dazu einige Bemerkungen machte, kam Gunzenhäuser auf mich zu und sagte: ‚Wenn Sie das aufschreiben, werde ich Sie unterstützen‘. Genau das geschah dann auch. Er regte an, korrigierte mich und ergänzte meinen Text.

Das zweite Buch Menschen machen Informatik von 2015 kam nur aufgrund seines Drängens zustande. Ich hatte diverse Interviews mit Kollegen als Teil meines Blogs im Internet veröffentlicht. Für mich war die Sache damit erledigt. Gunzenhäuser meinte, dass dies nicht alle potentiellen Leser erreichen würde. Er behielt Recht. Viele, vor allem ältere Kollegen, wurden erst auf diese Texte aufmerksam, als sie in Buchform vorlagen. Beide Bücher wurden dank der Vermittlung Gunzenhäusers auch in die Reihe der Veröffentlichungen der Stuttgarter Informatik aufgenommen.

Schwäbischer Nahverkehr

Gunzenhäuser und ich pflegten in den letzten 8-10 Jahren einen laufend sich steigernden Kontakt. Er war nicht nur ein treuer Leser meines Blogs und meiner sonstigen Veröffentlichungen. Das ausführliche Interview mit ihm, in dem er sein früheres Arbeitsgebiet, die Mensch-Computer-Interaktion, erläuterte, hatte ich eingangs bereits erwähnt. Er ließ darin fast sein ganzes akademisches Leben Revue passieren. Er lieferte immer wieder Kommentare zu diversen Blog-Beiträgen. Er hielt mich auf dem Laufenden, was die Stuttgarter Informatik anbelangte, aber auch die akademische Informatik in ganz Deutschland. Auch über Politik und Zeitgeschehen tauschten wir uns aus.


Festredner 2013

Gerne erinnere ich mich an die Besuche mit seiner Gattin oder mit dem Kollegen Ludwig Hieber zusammen bei uns in Sindelfingen. Seine Teilnahme an der Feier meines 80. Geburtstags im Jahre 2013 im Parkrestaurant Sindelfingen ragt besonders heraus. Bei dieser Gelegenheit sprach er einige Grußworte. Wegen ihres launigen Inhalts und ihrer lustigen und sehr verbindlichen Vortragsweise ist diese Rede noch sehr lebhaft in meinem Gedächtnis, und bestimmt auch bei allen Teilnehmern aus der Familie und den anderen Gästen. Rul Gunzenhäuser ließ es sich nicht nehmen, mich zu allen Veranstaltungen seines Lehrstuhls einzuladen, gleich ob es sich um fachliche Ehrungen oder Altersjubiläen handelte. Sogar sein Nachfolger Thomas Ertl setzte diese Tradition fort.

Wissenschaftlicher Werdegang

Gunzenhäuser machte 1953 sein Abitur in Esslingen am Neckar. Anschließend studierte er Mathematik, Physik und Philosophie in Tübingen und Stuttgart. Er legte 1959 das erste und nach einer zweijährigen Referendarzeit das zweite Staatsexamen ab. Parallel hierzu erstellte er seine Dissertation. Darin ging es um die  Anwendung statistisch-mathematischer Verfahren auf die Text-Ästhetik. Er promovierte 1962  zum Dr. phil., und zwar bei dem bekannten Stuttgarter Philosophen Max Bense.


Bei infos-Veranstaltung um 2010

Schon als Student bekam er Kontakt mit Computern. Nach dem Studium wurde er wissenschaftlicher Mitarbeiter von Professor Walter Knödel am Rechenzentrum der TH Stuttgart, das zuerst eine Standard Elektrik ER56 und danach eine Zuse Z22 betrieb. Dort befasste er sich unter anderem mit Programmen zum Erlernen von Assemblersprachen. Er organisierte das erste Symposium in Deutschland über „Programmierter Unterricht und Lehrmaschinen“. Von 1964 bis 1965 weilte er als  Gastprofessor an der State University of New York. Nach seiner Rückkehr übernahm er zunächst eine Professur für Angewandte Mathematik und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Esslingen. Im Jahre 1973 erfolgte der Ruf auf eine ordentliche Professur für Informatik an der Universität Stuttgart. Bis 1998 leitete er dort die Abteilung Dialogsysteme, die eine ungewöhnlich hohe Zahl von Studienarbeiten, Diplomarbeiten und Promotionen (insgesamt 42 Promotionen) betreute. Sechs seiner Schüler sind Universitätsprofessoren geworden.

Fachliches Profil und lokale Ausstrahlung

Gunzenhäuser war ein Pionier im Bereich des rechnerunterstützten Lehrens und Lernens. Er galt international als Koryphäe und zog Projekte und Forscher an.

An seinem Lehrstuhl entstanden Lehr- und Lernprogramme, Programmierumgebungen, objektorientierte Arbeitsumgebungen, intelligente tutorielle Systeme, Benutzungsoberflächen und Hypertext- und Hypermediasysteme unter Berücksichtigung von Text, Graphik, Sprache und Multimedia.

So beschrieb es neulich sein Stuttgarter Kollege Volker Claus in einem Nachruf der Fakultät. Schon 1962 befasste sich Gunzenhäuser mit dem Thema ‚Lehrmaschinen und Programmierte Instruktion‘. Er entwickelte Lernprogramme für den Mathematikunterricht (die Informatik gab es damals noch nicht), entwarf rechnerunterstützte Tutorsysteme, erforschte Lehr- und Lernmethoden. Das Fachgebiet hat eine Reihe von Namensänderungen erfahren, die Gunzenhäuser alle überlebt hatte. Mal hieß es Rechnergestützter Unterricht (RGU), mal Computer-based Instruction (CBI) und zuletzt E-Learning. Ähnlich erging es seinem andern Standbein, den Interaktiven Systemen und der Mensch-Maschine-Kommunikation.

Gunzenhäuser experimentierte schon in den 1960er Jahren unter anderem mit der maschinellen Erzeugung von Gedichten. Ein Schüler von ihm (Frieder Nake) erzeugte Grafiken und Bilder auf einem Zeichentisch Zuse Z64, die echten Kunstwerken sehr nahe kamen. Später organisierte Gunzenhäuser eine Ausstellung mit Werken von verschiedenen Rechnern bzw. Programmierern. Eines dieser Bilder hängt seit etwa 1974 bei uns zuhause im Flur. Wie in einem anderen Beitrag dieses Blogs erwähnt, werden ähnliche Leistungen im Jahre 2016 als Errungenschaft der Künstlichen Intelligenz vorgeführt. Im Jahre 1977 begann an Gunzenhäusers Lehrstuhl eine Arbeitsgruppe um Waltraud Schweikhardt mit der Erstellung von rechnerunterstützten Hilfsmitteln für Blinde. Diese Arbeiten resultierten in Hardware- und Software-Produkten, die Blinden und Sehbehinderten Zugang zu Computern gestatteten.

Rechnererzeugtes Gemälde von 1974

Gunzenhäuser hatte einen unvergleichlichen Ruf als Lehrer und Vortragender. Die Studierenden der Universität Stuttgart gaben seinen Lehrveranstaltungen stets beste Noten. Mit seinen Vorträgen konnte er seine Zuhörer begeistern.

Gunzenhäuser lag die Selbstverwaltung der Wissenschaft sehr am Herzen. Er war mehrfach Dekan der Fakultät Informatik und Geschäftsführender Direktor des Instituts für Informatik. Zusammen mit seinen Kollegen Volker Claus und Ludwig Hieber gründete er infos, das Informatik-Forum Stuttgart. Erreicht wurde damit die Einbindung der lokalen Industrie in die Belange der Stuttgarter Informatik. Zwei jährliche Kontaktmessen mit jeweils über 40 Firmenständen bieten Studierenden und Absolventen Job-Angebote. Ein Mitteilungsblatt (Infos-Zeitung) dient der Kommunikation.

Bundesweites professionelles Engagement

Viele Jahre hat er die bundesweit agierende Fachgruppe „Intelligente Lernsysteme“ in der Gesellschaft für Informatik (GI) geleitet. Er betreute unter anderem eine Tagungsreihe, in der junge Informatiker ihre Studien- und Diplomarbeiten vorstellten. Auch dort waren seine belebenden Vorträge und überraschenden Initiativen sehr geschätzt.


Beim Unterzeichnen eines Verlagsvertrags 2015

Nach der deutschen Wiedervereinigung hat er als Mitglied der Informatik-Fachkommissionen für Sachsen und Thüringen am Neubeginn der dortigen Informatikfachbereiche intensiv mitgearbeitet. Als Anerkennung für diesen Einsatz und sein eigenes wissenschaftliches Werk wurde er 1996 mit der Würde eines Dr.-Ing. E.h. der Technischen Universität Dresden ausgezeichnet. Für sein Engagement für Blinde erhielt er 1994 das Bundesverdienstkreuz erster Klasse. Das Informatik-Forum Stuttgart e.V., an dessen Gründung er beteiligt und dessen Arbeit er maßgeblich beeinflusste, verlieh ihm die Ehrenmitgliedschaft. Seit 2003 war er Fellow der Gesellschaft für Informatik. 

Persönliches Umfeld und sonstige Interessen

Das Ehepaar Rul und Brigitte Gunzenhäuser war seit 1966 verheiratet. Sie haben zwei Söhne und eine Tochter und mehrere Enkel. Gunzenhäuser liebte es, an ihm bekannte Urlaubs- und Erholungsorte zurückzukehren. In Deutschland hatten es ihm Rantum auf Sylt und Schwäbisch Hall angetan. Mit Alterskollegen und Jugendfreunden durchwanderte er seine Heimatstadt Esslingen und die Umgebung. Mehrmals zog es ihn in das Thermalbad Abano Terme bei Padua, das er per Direktflug von Stuttgart aus erreichen konnte. Stuttgarts Theater und Ballett schätzte er. Gunzenhäusers Freunde wussten, dass er seit 20 Jahren gegen ein Krebsleiden ankämpfte, dem er schließlich unterlag.

Ich werde Rul Gunzenhäusers anregende Gespräche und seine stets hilfsbereite Art sehr vermissen. Es verbleibt mir die Erinnerung an einen äußerst liebenswerten und hochgeschätzten Kollegen.

5 Kommentare:

  1. Eine wunderbare, lesenswerte Beschreibung eines eindrucksvollen Lebens, beruflich wie privat. Prof. Rul Gunzenhäuser war der zweite Gutachter meiner Promotion und das hat mir persönlich den Zugang zu ihm als Mensch, Wissenschaftler und Lehrer gegeben. So kurz wie dieser Ausschnitt war, so gerne erinnere ich mich positiv daran.
    Prof. Rul Gunzenhäuser wird wie von sehr vielen Menschen auch von mir in positiver aber auch differenzierter Erinnerung bleiben - sehr lange und immer wieder.
    Uwe Dumslaff

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  2. Simone Rehm schrieb: Das ist eine sehr umfassende, informative und äußerst feinfühlige Würdigung, die das besondere Wesen von Herrn Gunzenhäuser gut beschreibt. Danke dafür. Auch über die Fotos habe ich mich sehr gefreut, denn sie zeigen ihn, so wie ich ihn kannte und in Erinnerung behalten werde. Er wird uns als passionierter Informatiker auch bei Infos sehr fehlen.

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  3. Cornelia Winter schrieb: Eine sehr schöne und persönliche Darstellung. Ich kannte Herrn Gunzenhäuser seit seiner Ernennung zum GI-Fellow 2003. Sich mit ihm zu unterhalten war immer ein Vergnügen - ich habe ihn als einen zurückhaltenden, immer freundlichen und sehr zugewandten Menschen erlebt, dessen Interesse weit über die Informatik hinausging und der durchaus auch den Schalk im Nacken hatte. Er wird mir sicher noch lange in Erinnerung bleiben.

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  4. Alfred Zimmermann aus Reutlingen schrieb: Herzlichen Dank für die hervorragende Würdigung meines Doktorvaters Rul Gunzenhäuser, der mir als Lehrer, Wissenschaftler und Mensch stets eng verbunden war. Mit Dankbarkeit denke ich an unsere gemeinsame Zeit mit meinem Doktorvater, aus der ich persönlich bis über seinen Tod hinaus viele gute Erinnerungen mitnehme. Ich vermisse Herrn Gunzenhäuser sehr und trage ihn weiter in meinem Herzen.

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  5. Christof Ebert aus Stuttgart schrieb: Rul Gunzenhäuser war mir besonders ans Herz gewachsen, da ich bereits während meiner Diplomarbeit mit ihm sehr direkt Berührung hatte. Damals - wie heute - beschäftigte mich die Entwicklung und Kontrolle der Komplexität (ganz im Sine von Fred Brooks). Da waren einige frühe Arbeiten der Informatiker mit Prof. Bense in Stuttgart ein sehr spannender Impuls, und natürlich ging es direkt auf Rul Gunzenhäuser zu. Später hatten wir mit Prof. Lauber noch einige Kooperationsprojekte mit ihm, und stets habe ich fachlich wie menschlich profitiert.

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