Freitag, 30. November 2018

Deutschland und sein ostelbisches Trauma – von einem Briten erzählt

Zurzeit verfolgt die Welt, wie britische Politiker massiv den Interessen ihrer Jugend und ihrer Wirtschaft zuwiderhandeln. Der vor zwei Jahren aus Versehen und mit knapper Mehrheit zustanden gekommene BREXIT-Beschluss, den Boris Johnson und Nigel Farage mit Lügen herbeigeführt hatten, wird gerade durchgezogen. Der mühsam mit Brüssel ausgehandelte Scheidungsvertrag umfasst zwar über 500 Seiten. Er erklärt im Wesentlichen aber nur, dass alles zunächst so bleibt, wie es ist, Das meiste muss später geregelt werden. Früher hatten die Briten einmal den Ruf, die Dinge mit Vernunft und Realitätssinn anzugehen. Gefühle und Ideologien überließen sie gerne andern. In dieser Stimmung las ich die englische Ausgabe des Buchs Die kürzeste Geschichte Deutschlands (2018, 336 S.) von James Hawes (*1960). So wie Rheinländer und Bayern ist auch er sehr bemüht, Deutsche bzw. Deutschland nicht mit Preußen gleichzusetzen. Ein früherer Blog-Beitrag beleuchtete meine Sicht von Preußens Rolle.

Erstes Halbjahrtausend – Germanen (8 vor Chr. – 526 nach Chr.)

Über die Germanen gab es seit 500 vor Chr. die ersten Gerüchte und Erzählungen. Sie sollen wild und unzivilisiert sein. In ihrer Sprache hatte es gegenüber den Bewohnern des Mittelmeerraums eine Lautverschiebung gegeben (pater-father, frater-brother, labia-lip, usw.). Einen etwas präziseren Bericht gab Julius Caesar in seinem Gallischen Krieg. Er trieb einen germanischen Heerführer namens Ariovist, der mit seinen über 100.000 Gefolgsleuten in Gallien eingefallen war, nach einer vernichtenden Schlacht über den Rhein zurück. Später überschritt Caesar selbst den Rhein anhand einer Holzbrücke, konnte sich aber nicht festsetzen. 


Germanien nach Ptolemaeus-Karte

Die Schlacht im Teutoburger Wald (9 vor Chr.) hielt die Römer nicht davon ab, weitere Versuche zu machen, das Gebiet zwischen Rhein und Elbe unter Kontrolle zu bekommen. Der Erfolg blieb aus. Hawes vergleicht den Rhein mit der Sykes-Picot-Linie (wie sie Engländer und Franzosen im Nahen Osten zogen). Die Römer als Besatzer versuchten sie als Grenze zu erzwingen. Die Germanen dachten nicht daran, sich daran zu halten. Selbst ein so imposantes Bauwerk wie der Limes schreckte sie nicht ab. Händler überquerten ihn, Siedler sickerten durch. Die Römer selbst beschäftigten ganze Heerscharen von Germanen als Soldaten und Offiziere.

Ab dem Jahre 300 begann eine Migrationswelle, welche später die Bezeichnung Völkerwanderung erhielt. In Sprache und Sitten passte man sich den Römern an, da vorwiegend junge Männer beteiligt waren und nur wenige Frauen. Schließlich übernahm eine Auswanderergruppe auch die Verwaltung des römischen Reiches, nämlich Theodorich und die Ostgoten. Im Jahre 525 machten sie Ravenna zur Hauptstadt.

Zweites Halbjahrtausend – Reich der Franken (526-983)

Der germanische Stamm der Franken dachte nicht daran, auf Wanderschaft zu gehen. Sie blieben in der Gegend und lernten Latein. Sie vergrößerten jedoch ihr Siedlungsgebiet vom Niederrhein bis nach Paris. Im Jahre 754 kam Papst Stephan II. nach St. Denis (bei Paris) und salbte Pepin uns seine beiden minderjährigen Söhne. Einer von ihnen ging als Karl der Große (frz. Charlemagne, 747-814) in die Geschichte ein. Ab dem Jahre 800 befasste er sich mit der Neugründung des Römischen Kaiserreiches. Vor allem aber bemühte er sich, es von der Rheingrenze bis zur Elbe auszudehnen. Auch die Bayern band er ein.

Karls Nachfolger überquerten auch die Elbe. Sie wurden jedoch im Jahre 983 durch einen Aufstand der Slawen (auch Wenden genannt) zurückgedrängt. Im Jahre 1147 rief dann Bernhard von Clairvaux, der Gründer des Zisterzienser-Ordens, zu einem Kreuzzug gegen die Wenden auf. Karls berühmtester Nachfolger war Friedrich Barbarossa (1122-1190), der zur Sagengestalt wurde.

Drittes Halbjahrtausend – ein Kampf um Deutschland  (983-1525)

Im Jahre 1226 erließ Friedrich II. (1194-1250), Barbarossas Enkel, die Goldene Bulle von Rimini. Darin übertrug er dem Deutschen Orden (engl. teutonic knights) die Missionierung und Erschließung  des Gebietes östlich der Elbe. Zusammen mit dem Händlerverband Hanse verbreiteten sie deutschen Einfluss und deutsche Siedler über das gesamte Baltikum.

In dem zum Deutschen Orden gehörenden Gebiet lag auch die Gegend des späteren Ostpreußens. Hier erlitten im Jahre 1410 die Ordensritter eine Niederlage (bei Tannenberg), von der sie sich nur mühsam erholten. Der Anführer der Slawen war Jan Zizka, der später Jan Hus in Prag unterstützte. Ostpreußen blieb zwar Ordensbesitz, kam jedoch unter die Oberhoheit der polnischen Könige. Von der Elbe bis zum Baltischen Meerbusen herrschte eine deutsche Oberschicht als Gutsbesitzer über verschiedene slawische Ethnien. Ihre Ideologie war die eines adeligen Junkertums. Die deutschen Herren mussten das Baltikum erst nach den beiden Weltkriegen verlassen. Ihre Herrenhäuser wurden teilweise restauriert und werden heute von Touristen bestaunt.

Viertes Halbjahrtausend – Deutschlands zwei Wege (1525- heute)

Durch Luthers Reformation wurde Deutschland zweigeteilt. Luther verkündete, dass nur Gottes Gnade die Erlösung bringt und nicht die guten Werke eines Menschen. Die Fürsten sahen eine Chance, an das Geld und den Besitz der römischen Kirche zu gelangen. Luther sah, dass ihm die Fürsten nützlich sein würden und schlug sich auf ihre Seite im Bauernaufstand.

Der Großmeister des Deutschen Ordens, Albrecht von Brandenburg, säkularisierte 1525 das Ordensgebiet und nannte sich fortan Herzog von Preußen. Später erbten seine Nachfahren auch die Mark Brandenburg und den damit verbundenen Kurfürstentitel. Obwohl im Augsburger Frieden von 1555 die Frage der Religion zugunsten der Fürsten entschieden worden war (lat. cuius regio, eius religio). gab sich Kaiser Ferdinand damit nicht zufrieden. Er beauftragte seine Heerführer mit der gewaltsamen Rekatholisierung. Es kam 1618 zum 30-jährigen Krieg. Als des Kaisers Söldnerführer (Tilly, Wallenstein) zu viel Erfolg zu haben schienen, schaltete sich das katholische Frankreich und das protestantische Schweden ein. Es kam 1648 zum Friedensschluss, allerdings war Deutschland nur noch ein Trümmerfeld mit halbierter Bevölkerung.

Auf dem früheren Reichsgebiet entstanden 1800 Kleinstaaten, 50 freie Städte und 60 kirchliche Besitztümer. Eine verbindende staatliche Einheit existierte kaum mehr. Es herrschte die Willkür  (engl. failed state). Gleichzeitig entstand in Frankreich ein starkes Staatsgebilde, das 72 Jahre lang von einer Person (Ludwig XIV.) beherrscht wurde. In Preußen konnte sich Kurfürst Friedrich Wilhelm 1657 aus der polnischen Lehensabhängigkeit lösen. Da Preußen außerhalb der Reichsgrenzen lag, war er dort nunmehr ein souveräner Herrscher. Dies nutzte sein Sohn Kurfürst Friedrich III., um sich 1701 selbst als Friedrich I. zum König in Preußen zu krönen.

Überall in Deutschland strahlte ein Jahrhundert lang der Einfluss Frankreichs in vielfältiger Weise aus. Man baute französisch und sprach französisch. Preußens König Friedrich II. (genannt der Große) traf sich mit Voltaire. Nach der Revolution von 1789 kam der Korse Napoléon in Frankreich an die Macht. Er besiegte die Preußen bei Jena und Auerstedt vernichtend. Er hätte es von der Landkarte verschwinden lassen, wenn nicht der russische Zar sich 1807 im Frieden von Tilsit für sein Überleben eingesetzt hätte. Es wurde auf das Gebiet östlich der Elbe beschnitten und wurde ein Satrap Russlands.

Preußen war ein Staat, in dem das Militär einen hohen Stellenwert hatte. ‚Andere Staaten besitzen eine Armee; Preußen ist eine Armee, die einen Staat besitzt‘. So soll es der Marquis de Mirabeau ausgedrückt haben. Die ostelbischen Junker sahen in der Armee ihre Aufstiegsmöglichkeiten. Auch beim Wiener Kongress von 1815 erhielt Preußen die Unterstützung des russischen Zaren. Auf Wunsch Englands erhielt es auch wieder Besitz am Rhein. Man wollte ein Bollwerk gegen Frankreich schaffen. Preußen erhielt dadurch nicht nur eine starke katholische Volksgruppe, sondern auch ein Gebiet, das sich industriell entwickelte. Für Preußen wie für das habsburgische Österreich gab es neben Deutschen stets noch weitere Volksgruppen, die es beherrschte. Ein deutsches Nationalbewusstsein war daher für beide ein Problem.

Preußens Kanzler Otto von Bismarck erkannte dies und strebte eine spezielle, d.h. preußische Lösung an. Wie er 1862 dem englischen Premier Benjamin Disraeli anvertraute, müsse er Österreich mit Gewalt aus Deutschland hinausdrängen und die deutschen Kleinstaaten an Preußens Leine nehmen. Für letzteres brauche er einen Krieg mit Frankreich. Im Jahre 1871 war es soweit. Die Frage war nur, nennt sich Wilhelm I. deutscher Kaiser oder Kaiser in Deutschland. Jetzt war ganz Deutschland in den Händen einer ostelbischen Macht. Bismarck wollte einen protestantischen Nationalstaat errichten, was im Rheinland zum Kulturkampf führte. Im Jahre 1879 vollzog er eine Kehrtwende und verbündete sich mit Österreich, 1880 streckte er Fühler nach St. Petersburg aus. Kaiser Wilhelm II. wollte mit England konkurrieren und träumte von überseeischen Kolonien und einer Flotte. Die ostelbischen Junker zogen jedoch den Ausbau des Heeres vor.

Wilhelms militärischer Berater Helmuth Graf von Moltke meine 1912: ‚Je früher wir Russland angreifen, desto besser‘. Nach dem Attentat von Sarajewo erteilte der deutsche Kaiser Österreich eine Blankovollmacht. Deutschland war nahe dran, den Ersten Weltkrieg zu gewinnen. Es hatte die besseren Waffen und bessere Heerführer (Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff). Im Frieden von Brest-Litowsk wurde Preußen um große Teile Litauens, Lettlands und Polens erweitert. Ludendorff wollte die Bolschewiken vertreiben und den Zar als Vasall Preußens wiedereinsetzen. Dummerweise hatte die Heeresleitung nicht mit den Amerikanern gerechnet, die sich durch die deutschen U-Boote provoziert fühlten. Außerdem brachten die Engländer neue Tanks an die Front bei Amiens, die im August die deutschen Linien durchbrachen.

In Weimar gaben sich die Parlamentarier (angeführt von Hugo Preuss) eine echte demokratische Verfassung, noch ehe der Friedensvertrag von Versailles vorlag. Sozialisten und Zentrum versuchten es, aus der schwierigen Situation das Beste zu machen. Der preußische Adel kochte vor Wut. Sie konnten viele ihrer Söhne auf den verbliebenen Offiziersposten der Reichswehr unterbringen. Man testete neue Waffen heimlich in Russland, zusammen mit der Roten Armee. Die Nachkommen der Ordensritter operierten als Freikorps im ganzen Baltikum. Im Jahre 1920 eroberten sie vorübergehend die Stadt Riga. Politisch sammelte man sich in der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP), angeführt von Alfred Hugenberg und Franz von Papen.


Ergebnisse für Reichstagstagswahlen 1930 und 1932

Mit Hilfe der DNVP kam Hitler an die Macht. Zusammen erhielten DNVP und Nazis 1932 über 60% der Stimmen, allerdings nur in Ostdeutschland. Im Westen und Süden Deutschland, wo die Bevölkerung vorwiegend katholisch ist, kam Hitler nie über 35% (siehe Grafik). Dem Ermächtigungsgesetz, das Hitler zur Festigung seiner Diktatur nutzte, stimmte das katholische Zentrum zu − aus Angst als Verräter hingestellt zu werden, meint Hawes.


Preußische Heldentradition 1933

Nur die Nicht-Kenner preußischer Geschichte wunderten sich, als Hitler 1939 einen Vertrag mit Stalin schloss, der zur dritten Aufteilung Polens führte. Dennoch griff Hitler zwei Jahre später Russland an, wobei er sich kräftig übernahm. Nachdem er zuerst Hunderttausende nicht für lebenswert erachtete deutschstämmige Bürger getötet hatte, richtete sich sein darwinistischer Groll vor allem gegen Millionen von Juden in Europa. Das wiederum rief die Amerikaner auf den Plan. Sein Reich war untergegangen in dem Moment, als sich Amerikaner und Russen 1945 in Torgau an der Elbe die Hände reichten.

Konrad Adenauer (1876-1967), der während der Zeit der Weimarer Republik das Rheinland von Preußen trennen wollte, erreichte für die Bundesrepublik, die nur die Gebiete westlich der Elbe umfasste, eine eindeutige Bindung an den Westen. Bei der Währungsreform 1948 wurden alle Schulden Deutschlands auf einen Schlag gestrichen, Die Wirtschaft konnte sich erholen und wieder Güter aller Art produzieren.

Dort wo einst Luther und die Junker lebten, entstand die DDR, die sich als das bessere Deutschland auffasste. Die Frankfurter Auschwitz-Prozesse und der Vietnamkrieg trieben Teile der westdeutschen Jugend auf die Straße. Die von der Roten Armeefraktion (RAF) verursachten Morde führten zum Deutschen Herbst des Jahres 1977. Die Sympathie weiter Bevölkerungskreise für die RAF war ebenso störend wie die Hilfe durch den Geheimdienst der DDR (Stasi).

Helmut Schmidt (1918-2015), ein von der SPD gestellter Kanzler, setzte den NATO-Doppelbeschluss durch und die Installation von Mittelstrecken-Raketen (Pershing). Es folgte 1989 der Zusammenbruch des Ostblocks und die deutsche Wiedervereinigung. ‚Entweder kommt die DM zu uns oder wir gehen zu Ihr‘, skandierten die Ostdeutschen. Der Umtausch der Ostmark erfolgte im Verhältnis 1:1 mit katastrophalen Folgen für die DDR-Wirtschaft. Den Franzosen zuliebe führte Helmut Kohl den Euro ein. Der Bundestag wählte mit knapper Mehrheit Berlin zur neuen Hauptstadt. Da die Hauptstadt von den süddeutschen Bundesländern mit Milliardenbeträgen subventioniert wird, blüht sie auf. Touristen und Unternehmensgründer fühlen sich angezogen.

Das Land östlich der Elbe verliert immer mehr Menschen. Eigentlich möchte niemand dort leben. Anstatt DNVP und Nazis wählt man jetzt Linke und AfD. Die Milliarden, die als Hilfe flossen, können daran nichts ändern. Es fehle das Vertrauen in eine demokratische Zukunft. Die Staaten Osteuropas, denen weniger Hilfe zufließt als der ehemaligen DDR, staunen nur. Warum hilft ihnen denn niemand?

Nachgedanken zum Buch

Am Schluss des Buches wundert sich Hawes doch darüber, dass er mit seinem Schema nicht alles erklären kann. Als er im Jahre 2017 sein Buch abschließt, kandidiert ein katholischer Sozialdemokrat aus dem äußersten Westen (Martin Schulz) gegen eine protestantische Pfarrerstochter aus dem Osten (Angela Merkel).

Überhaupt fiel so Manches der Kürze zum Opfer. Wo bleiben Johann Gottfried Herder (in Mohrungen geboren, später in Riga und Weimar tätig) und Immanuel Kant (aus Königsberg)? Was ist mit den Gebrüdern Humboldt (aus Berlin)? Wer kennt nicht den Arzt Rudolf Virchow (aus Hinterpommern)? Was ist mit Günter Grass (aus Danzig)? Ostelbien ist zweifellos ein Teil Deutschlands, sowohl in der Geschichte wie auch heute. Ich halte es sogar für einen sehr interessanten und wichtigen Teil.

Mittwoch, 21. November 2018

Idealvorstellung von der Gleichheit aller Menschen – europäisch und national betrachtet

Seit der Französischen Revolution kennt Europa das Ideal der Gleichheit aller Menschen. Auch von Karl Marx (1818-1883) bis zu Thomas Piketty (*1971) schwärmten europäische Linke davon. Sie besingen sie in ihren Liedern, dafür gehen sie auf die Straße. Umgekehrt geißeln sie jedwede Ungleichheit, die bereits herrscht oder sich gerade ausbreitet. Dass es ungleiche Veranlagungen und Begabungen – nicht nur im Sportlichen – gibt, wird zwar anerkannt und akzeptiert. Dennoch sollen alle Menschen einen gleichen Start bekommen und gleich steile und gleich lange Wettkampfstrecken absolvieren. So verkünden es linke Utopisten. Wenn dann trotzdem ungleiche Ergebnisse herauskommen, möchte man diese nachträglich korrigieren. Diese Gedanken wurden zwar bisher nicht zu olympischen Prinzipien erhoben, sie sind aber das A und O jeder politischen oder gesellschaftlichen Diskussion geworden – zumindest in Europa.

Ökonomische Gegebenheiten in Europa

Dass sich Europa wirtschaftlich von anderen Teilen der Welt absetzt, ist hinreichend bekannt. Dies ist der Hauptgrund für die Migrationsströme sowohl aus Afrika wie aus Asien. Dabei ist Europa alles andere als ein homogener Block. Die Unterschiede zwischen Luxemburg und Bulgarien betragen, was das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf betrifft, mehr als eine Größenordnung. Betrachtet man alle Länder der Welt, so treten noch weit größere Unterschiede zu Tage. So wünschenswert eine Angleichung auch sein mag, niemand traut sich nach dem Untergang des kommunistischen Abenteuers, eine systematische, geschweige denn gewaltsame Angleichung zu fordern. Besungen wird aber weiterhin die Gleichheit aller Menschen, zusammen mit Freiheit und Brüderlichkeit.

Europäische Wirtschaftsdaten 2017

Das BIP ist der Gesamtwert aller Waren und Dienstleistungen, die während eines Jahres innerhalb der Landesgrenzen einer Volkswirtschaft als Endprodukte hergestellt wurden. Das Einkommen umfasst die in einem Jahr den natürlichen Personen zufließenden finanziellen Leistungen, auch Verdienst genannt. Das Vermögen ist, in Geld ausgedrückt, der Wert des einer Person gehörenden Eigentums.

In seinem Buch Das Märchen vom reichen Land (2018, 256 S.) fordert Daniel Stelter (*1964) dazu auf, anstatt des Einkommens das Vermögen pro Kopf der Bevölkerung zu verwenden, wenn Vergleiche zwischen Ländern angestellt werden. Das Einkommen sei nur eine Flussgröße, die Ergebnisse eines einzigen Jahres festhalte. Dem gegenüber sei das Vermögen eine Bestandsgröße, die das Ergebnis eines längeren Zeitraums ausdrücke. Sowohl Deutschland wie Schweden gehören dann nämlich zu den armen Ländern Europas, weit hinter Frankreich, Italien und Spanien. Am deutlichsten wird diese Aussage, wenn man anstatt der Durchschnittswerte (Spalte 3 der Tabelle) die Medianwerte (Spalte 4) vergleicht, Selbst Griechenland übertrifft uns dann. In der Statistik ist der Median (auch Zentralwert genannt) derjenige Wert, der genau in der Mitte steht, wenn man die Werte der Größe nach sortiert.

Ökonomische Gegebenheiten in Deutschland

Deutschland ist Europas stärkste Wirtschaft. Unser Grundgesetz (Artikel 72) erteilt der Politik den Auftrag, für eine Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse zu sorgen. Von 1949 bis 1994 wurde sogar von der Gleichheit der Lebensverhältnisse gesprochen. Man sah ein, dass diese Forderung nicht realisierbar war.

Deutsche Wirtschaftsdaten 2017

Die Unterschiede sind in Deutschland geringer als innerhalb Europas. Es gibt jedoch ein klares Süd-Nord- und West-Ost-Gefälle. Von der Sonderrolle Hamburgs abgesehen, liegen Bayern, Baden-Württemberg und Hessen an der Spitze. Es sind dies auch die Bundesländer, die vom so genannten Länderfinanzausgleich belastet werden. Wie künstlich und umstritten dieser Ausgleich ist, zeigt sich darin, dass das Bundesverfassungsgericht (BVG) sich schon mehrmals damit befassen musste. Zuletzt wurden Bayern und Hessen im Jahre 2013 mit einer Klage anhängig, die sie 2017 zurückzogen. Sie hätten hinreichende Verbesserungen auf dem Verhandlungswege erzielt.

Gerade in Deutschland wird vehement gegen den europäischen Finanzausgleich argumentiert. Das Ausgleichsverbot (engl. no bail-out) des Vertrags von Maastricht wird immer wieder betont. Dass diese Front bereits Bruchstellen hat, zeigt ein Zitat, das Günther Oettinger, dem deutschen EU-Kommissar, nachgesagt wird. ‚Europa ist mir wichtig, nicht nur Mecklenburg und Saarland‘.

Einkommens-Spreizung nach Berufen

Die Unterschiede der Individuen in Veranlagung und Begabung kommt in einer freien Wirtschaft in den frei gewählten Berufen zum Ausdruck. Nur sozialistische Utopisten forderten, dass alle Berufe vom Staat vorgegeben und als gleichwertig anzusehen seien. Das führte zu perversen Situationen, selbst in Westberlin, wo in den 1950er Jahren Universitätsprofessoren und Putzfrauen sich um gleichen Einfluss und gleiche Vergütung rangelten. Diese Art von politischem Schmierentheater ist nach dem Misserfolg des DDR-Experiments in Vergessenheit geraten. Sie gehört mit Recht in den Mülleimer der Geschichte.


Vergleich der Einkommen nach Berufen

In jeder dieser Gruppen gibt es weitere Differenzierungen. So liegen bei den Ärzten Radiologen weit vor den Urologen. In dem Bereich von Piloten und Ärzten liegen auch ähnlich angesehene und einflussreiche Berufe wie Ingenieur, Architekt oder Anwalt. Künstler oder Spitzensportler bilden eh eine Klasse für sich. Da kommt es zu immer neuen Exzessen.

Fachkräfte aus dem Ausland

In Deutschland hört man seit Jahren ein allgemeines Jammern über den Mangel an Fachkräften. Manche von uns hatten gehofft, dass die ungeplante massenhafte Einwanderung seit 2015 auch dieses Problem lindern würde. Inzwischen ist man klüger. Es hat sich herausgestellt, dass eine unkontrollierte Einwanderung als Erstes unsere Sozialsysteme belastet. Sie wirkt sich ferner auf die gefühlte oder tatsächliche innere Sicherheit aus. Man will jetzt endlich eine gesetzliche Regelung herbeiführen, die Einwanderung erlaubt, ohne das Asylrecht in Anspruch zu nehmen.

Offensichtlich sind Erfolge da am leichtesten, wo die fachlichen und sprachlichen Anforderungen gering sind. Das ist beim Postverteilen und Kraftfahrzeugfahren gegeben, und auch bei Gaststättengehilfen und Pflegekräften. Die Attraktion Deutschlands für Ingenieure und Informatiker dagegen ist immer noch gering. Hier sind die USA und Kanada weiterhin starke Magnete, selbst für Deutsche.

Übrigens ist Japan, dessen Bevölkerung auch stagniert und altert, gezwungen, einen andern Weg zu gehen. Statt auf Zuwanderung setzt man auf Automatisierung. In der Altenpflege sieht man heute schon Roboter bei Tätigkeiten, die bei uns Frauen aus Rumänien und Polen machen.

Gewinner und Abgehängte von Wirtschaft und Gesellschaft

Wem es als Deutschstämmiger oder als Einwanderer gelingt, eine attraktive und gut bezahlte Beschäftigung zu finden, fühlt sich als angekommen. Es muss außerdem eine Arbeit sein, die gute Perspektiven für die Zukunft besitzt. Mit dem wirtschaftlichen Erfolg geht die gesellschaftliche Anerkennung einher.

Schafft es jemand nicht, wirtschaftlich Fuß zu fassen, oder bleibt man unter seinen Erwartungen, tritt sehr leicht das Gefühl auf, abgehängt zu sein. Obwohl dies in der heutigen Situation Deutschlands eher ein persönliches Versagen darstellt, ist es nicht verwunderlich, dass die Schuld dafür sehr oft bei andern gesehen wird.

Wenn zum Beispiel ausländische Investoren deutsche Firmen übernehmen, kann es sein, dass ein Teil der sozialen Errungenschaften verloren geht. Daraus die Konsequenz zu ziehen, jedwede nicht-deutsche Investition zu verbieten, sehe ich als übertrieben an. Man muss dann damit rechnen, dass es deutschen Investoren im Ausland mit der gleichen Münze zurückgezahlt wird. Die internationale Verflechtung der Wirtschaft und der freie Fluss von Kapital bringen Vorteile, die wir nicht leichtfertig in Gefahr bringen sollten.

Moderne Medien tragen dazu bei, dass Bilder aus unserer Glitzer-Welt in vielen Teilen der Welt als Traumbilder verbreitet wären. Wer sich nicht in der Lage sieht, sich auf eine Wanderung von Tausenden Kilometern zu machen – wie die Hondurianer, die gerade in Tijuna ankommen – fühlt sich abgehängt und elend. Könnten wir doch mit den elektronischen Bildern gleich Einkaufsgutscheine verschicken, die aber nur vor Ort gültig sind.

Nachtrag vom 23.11.2018

Hinweisen möchte ich darauf, dass ich das Thema Gleichheit bereits im Jahre 2013 in diesem Blog behandelte. Anlass war ein Buch von Joseph Stieglitz. Ich setzte dessen Vorstellungen in Vergleich zu denen seines Landsmanns John Rawls, wobei ich Letzteren für den wichtigeren Autor halte.

Dieser Tage fiel mir ein Goethe-Gedichtlein in die Hände. Es muss aus der Zeit um 1818 stammen, dem Geburtsjahr von Karl Marx. Es heißt Égalité. Hier der Text: 

   Das Größte will man nicht erreichen,
   Man beneidet nur seinesgleichen;
   Der schlimmste Neidhart ist in der Welt,
   Der jeden für seinesgleichen hält.


PS. Alle Zahlen in den obigen Tabellen entstammen im Netz verfügbaren Veröffentlichungen des Statistischen Bundesamtes.

Sonntag, 18. November 2018

Technologie und Ökonomie (Essay von Peter Hiemann)

Peter Hiemann macht sich sehr viele Gedanken über technische Systeme und wirtschaftliche Unternehmen. Anhand bekannter Beispiele versucht er dieses Mal den Unterschied klarzumachen zwischen gesellschaftlich nützlichen und daher wünschenswerten Systemen oder Unternehmen einerseits und schädlichen und daher kritisch zu beurteilenden Systemen oder Unternehmen andererseits. BlackRock und Facebook haben es ihm besonders angetan.

Zum ersten Mal für diesen Blog gibt Hiemann eine kurze Beschreibung des Buchungssystems Amadeus. Hiemann war in der Leitung dieses Projekts involviert, was zur Folge hatte, dass er seine beufliche Wirkungssphäre von Süddeutschland nach Südfrankreich verlegte. Es lag daher nahe, dass er für seinen Ruhestand die Ausläufer der Seealpen wählte. Die Stadt Grasse liegt genau zwischen Meer und Bergen, mit allen Attributen einer paradiesischen Landschaft.

Klicken Sie hier für den neuen Essay!

Donnerstag, 8. November 2018

Großbritannien, China und die Opiumkriege

In einem der letzten SPIEGEL-Hefte (40/2018) las ich eine Besprechung des soeben erschienenen historischen Romans ‚Gott der Barbaren‘ von Stephan Thome. Der Autor, Jahrgang 1972, heißt mit bürgerlichem Namen Stephan Schmitt und stammt aus Biedenkopf in Nordhessen. Er wohnt in Taiwan. Weniger der Preis von 18,99 Euro als die 720 Seiten hielten mich davon ab, das Buch sofort zu lesen. Inzwischen habe ich dies nachgeholt. Ich gebe hier zunächst nur den historischen Rahmen der Handlung wieder und stelle einige der Handelnden vor, soweit sie historisch belegt sind. Damit gehe ich auch ganz kurz auf die Romanhandlung ein. Sie steigert das, was an sich schon spannend und reichlich verworren war, und stellt einen Bezug zur deutschen Geschichte her.

Hongkong und der erste Opiumkrieg

Im Ersten Opiumkrieg (1839-1842) machte England den ersten Versuch, das China der Mandschu-Dynastie für den westlichen Handel zu öffnen. Unter Handel wurde vor allem der Import von Opium gesehen, das in Indien angebaut wurde. Englische Händler im Verband mit der Ostindienkompanie bedrängten das Parlament. Eine Flotte, bestehend aus 16 Kriegsschiffen (mit 500 Kanonen und 4000 Mann an Bord)  besetzte die Insel Hongkong als Operationsbasis. Die Briten besetzten außer Hongkong noch drei Häfen: Ningbo und Zhoushan am Jangtsekiang und Tianjin am Beihai. Ein in Tianjin abgeschlossener Vertrag, in dem China auf Hongkong verzichten und hohe Reparationen zahlen sollte, lehnte der Kaiser ab. Daraufhin setzten die Engländer den Krieg fort und eroberten Nanjing. Der dort 1842 abgeschlossene Vertrag gilt in China als der erste der ‚Ungleichen Verträge‘. Er verpflichtete die Chinesen zur Öffnung der Handelshäfen Kanton, Xiamen, Fuzhou, Shanghai und Ningbo für Ausländer, zur Duldung weitgehend unbeschränkten Handels mit Opium, zur Abtretung Hongkongs sowie zu Reparationszahlungen. Die Insel Hongkong (chinesisch für Duftender Hafen) wurde  erst im Jahr 1997 an China zurückgegeben. Seitdem ist es eine Sonderverwaltungszone unter Beibehaltung einer freien Marktwirtschaft und hoher innerer Autonomie.

Zweiter Opiumkrieg und Besetzung Bejings

Der Zweite Opiumkrieg (1856-1860) brach aus mit der Beschlagnahme eines unter englischer Flagge segelnden Schiffes, das Opium und andere Schmuggelware nach Kanton brachte. Als die vorwiegend chinesischen Besatzungsmitglieder von den Behörden nicht freigelassen wurden, erklärten die Briten den Krieg. Um die angebliche Hinrichtung eines französischen Missionars zu rächen, schloss sich Frankreich an. Im Grunde suchten beide Staaten eine Erweiterung ihrer Einflusssphäre in China.

Im Jahre 1857 wurde Kanton eingenommen und im Jahr darauf die Dagu-Festungen in der Nähe von Tianjin. Es kam zur Unterzeichnung des Vertrags von Tianjin, welcher gleichzeitig auch von Frankreich, Russland und den USA verhandelt wurde. Dieses Abkommen öffnete elf weitere Häfen für den Handel mit dem Westen. Als China zögerte, diesen zweiten der „Ungleichen Verträge“ anzuerkennen, rüsteten 1860 Briten und Franzosen zum Angriff auf Bejing. Beteiligt waren 11.000 Briten (zum großen Teil Inder) und 6.700 Franzosen. Die Truppen besetzten die Stadt und verwüsteten anschließend den Sommerpalast des Kaisers. Auch die Russen griffen ein, mit der Folge, dass China Gebiete in der Mandschurei, am Usuri und am Amur an das Zarenreich verlor. Als im darauf folgenden Jahr der Kaiser starb, übernahm Prinz Gong die Macht, zusammen mit der Kaiserwitwe Ci Xi. Diese hat China 42 Jahre lang regiert und trat vor allem während des Boxeraufstands 1899-1901 in Erscheinung. An seiner Niederschlagung war auch das deutsche Kaiserreich beteiligt.

Taiping-Aufstand
           
Genau zur gleichen Zeit, als China sich gegen britische und französische Angriffe zu wehren hatte, wurde es durch innere Unruhen erschüttert. Hóng Xiùquán (1814-1864), der aus einer bäuerlichen Familie der Provinz Guandong im Süden Chinas entstammte, war mehrmals bei den staatlichen Prüfungen durchgefallen. Er verfiel in geistige Wahnvorstellungen, während der er Visionen gehabt haben soll. Diese basierten auf Vorstellungen, auf die ihn ein deutscher protestantischer Theologe gebracht hatte, dessen Übersetzungen ins Chinesische er gelesen hatte. Hauptberuflich arbeitete er für ein britisches Unternehmen, das im Opiumhandel tätig war. Er gründete 1837 eine dem Christentum nahe stehende religiöse Gemeinschaft, die er ‚Großes Reich des Himmlischen Friedens’ (chinesisch: tàipíng tiānguó) nannte. Er selbst bezeichnete sich als ‚Himmlischer König’ (chinesisch: tiānwang) und jüngeren Bruder Jesu. Man verteilte Bibeln gratis und predigte die Zehn Gebote. Man zeigte keinerlei Toleranz gegen andere Glaubensbekenntnisse. Hong war ein Hakka und gehörte damit einer benachteiligten Volksgruppe an. Er wollte zunächst gegen die Mandschu-Herrscher kämpfen. 

Aufstandsgebiet der Taiping

Hans Magnus Enzensberger hat im SPIEGEL 3/2015 dem Taiping-Aufstand ein mehrseitiges Essay gewidmet. Die Überschrift lautete ‚Der vergessene Gottesstaat‘. Es sei einer der größten Bürgerkriege der Weltgeschichte gewesen. Der himmlische König habe sich wie später die Kommunistische Partei Chinas, der modernsten Techniken bedient, um seine  Ziele zu erreichen. Ich zitiere Enzensberger für einige Details:

Am kaiserlichen Hof wollte niemand etwas von solchen Innovationen wissen. Hong Xiuquan knüpfte zur Verbreitung seiner Botschaft ein engmaschiges Netz von Kurieren und gründete Druckereien, um Flugschriften und Anweisungen unter das Volk zu bringen. Für die Kranken ließ er Spitäler bauen. Um für den Nachschub zu sorgen, legte er Straßen an. Sogar den Bau von Eisenbahnen soll er geplant haben. … Obwohl Plünderungen ihnen verboten waren, fielen seine Truppen über die Dörfer her. Sie konfiszierten das Vieh und nahmen die Vorräte der widerspenstigen Bauern in Beschlag. Doch Beutezüge und Lösegeldzahlungen reichten nicht hin, um Hongs Kriegskasse zu füllen. Dazu war er auf Geschäfte mit fremden Waffenhändlern, Schmugglern, Abenteurern und Schiebern angewiesen. Und was die Frauen betraf: So streng er sie zum Gehorsam anhielt, so gern brauchte er sie als Hilfstruppen und setzte sie als Attentäterinnen ein. … Klar ist auch, dass das Reich der Taiping nicht von außen besiegt worden, sondern an seinen inneren Widersprüchen zugrunde gegangen ist. … Je erfolgreicher und selbstsicherer die Taiping anfangs waren, desto brüchiger wurde ihre Herrschaft. Ihr Anführer ernannte immer mehr Vizekönige, "Prinzen", "Minister" und "Gouverneure", die miteinander rivalisierten und ihm die Herrschaft streitig machten. Zerwürfnisse, Niederlagen und Hungersnöte häuften sich. Vetternwirtschaft, Bestechlichkeit, Gier und Grausamkeit der Kämpfer taten ein Übriges. Hong selbst zog sich von seinen Anhängern zurück und setzte sich über seine eigenen Regeln hinweg, indem er sich einen Harem von 88 Beischläferinnen hielt und einem absurden Luxus frönte.

Zwanzig bis dreißig Millionen Todesopfer soll diese  Erhebung gefordert haben, mehr als 600 Städte wurden von ihr eingenommen und achtzehn Provinzen beherrscht. So viele Menschen kamen ums Leben, dass die Kämpfe schließlich aus Mangel an Kämpfern endeten. Beim Lesen der Gräueltaten der Taiping-Rebellen hatte ich dieselbe Idee, die auch Enzensberger zum Ausdruck bringt. ‚Die Parallelen zum Dschihad des "Islamischen Staates", der sich heute zwischen dem Mittelmeer und Pakistan ein gewaltbereites Imperium zu errichten sucht, sind unübersehbar.‘ Ob man vom Zusammenbruch der Taiping-Bewegung auf das Ende des IS hoffen darf, sei dahingestellt.

Romanfiguren und andere

Dem Charakter eines Romans entsprechend sind in Thomes Buch mehrere Figuren sehr nuancenreich beschrienen. Einige davon sind historisch, andere nicht.

Der General Zeng Guofan (1811-1872) vertrat das alte China. Er stammte aus einer alten, nicht sehr wohlhabenden Familie der Provinz Hunan und hatte alle Prüfungen des Hofes bestanden. Er war Anhänger der konfuzianischen Lehre und liebte besonders die Schriften eines Dichters aus seiner Heimatprovinz. Er verfasste Gedichte und philosophische Essays. Als die langhaarigen Anhänger Hongs, die dem Gott der Barbaren huldigen und die Ahnentafeln zerstörten, in die Provinz Hunan einfielen, organisierte er den Widerstand. Mit seiner halb-privaten Hunan-Armee befreite er die Hauptstadt Changsha. Anschließend belagerte er die Stadt Anqing am Jangtsekiang und verhinderte das weitere Vordringen der Aufständischen nach Westen. Ab dem Jahre 1860 belagerte er Nanjing mit 20.000 Soldaten. Die Belagerung dauerte vier Jahre lang (bis Juli 1864) und bereitete der Taiping-Bewegung ein blutiges Ende.

Der stets  im Namen der Königin Victoria und des Parlaments auftretende Brite war Lord Elgin (1811-1863). Sein voller Name lautete James Bruce, 8. Earl of Elgin und 12. Earl of Kincardine. Sein Vater hatte die Friese der Akropolis aus Athen ins Britische Museum nach London gebracht. Lord Elgin verkörperte in China den englischen adeligen Diplomaten, der stets langfristigere Ziele im Kopf hatte als die Generäle ihrer Majestät. Als Anhänger des Philosophen Hegel sah er sich als ‚Weltgeist auf dem Wasser‘. Eigentlich träumte er stets von seinem schottischen Landgut und seiner Frau, bei denen er viel lieber sein wollte als im verworrenen China. Dass englische Missionare in Hongs Theologie eine Frühform des Christentums, den Arianismus, entdeckten, steigerte die politische Verwirrung.

Die folgende Person ist frei erfunden. Sie heißt Philipp Johann Neukamp. Vielleicht wurde sie eingefügt, um den Stoff für deutsche Leser interessanter zu machen. Jedenfalls stellt er einen Bezug zur deutschen Geschichte her. Er hatte in Berlin mit Robert Blum (1807-1848) zusammengearbeitet. Blum war ein prominenter Abgeordneter des Frankfurter Paulskirchen-Parlaments, der 1848 in Wien standrechtlich erschossen wurde. Im Auftrage der Basler Mission ging Neukamp nach Hongkong. Hier lernte er Vertreter der Taiping-Rebellion kennen. Mehrere Versuche, nach Nanjing zu gelangen, schlugen fehl. Als er es schließlich geschafft hatte, wurde er dort sehr bewundert und verehrt. Kurz vor der Eroberung Nanjings gelang es ihm, der Belagerung zu entkommen und nach Amerika zu fliehen.

Wen ich in dem Buch erwartet habe, aber nur in einem Nebensatz erwähnt fand, war Charles George Gordon (1833-1885). Er hatte sich bereits im Krimkrieg gegen die Türkei ausgezeichnet. In China leitete er das Söldnerheer, das zuerst die Stadt Shanghai gegen einen Angriff der Taiping-Rebellen erfolgreich verteidigte. Da das offizielle England sich neutral verhielt, zog Gordon mit 4.000 indischen und chinesischen Söldnern in Nanjing ein. Bekanntlich übernahm Gordon viel später nochmals eine riskante Mission, als er 1885 im Sudan gegen den Aufstand des Mahdi kämpfte und in Karthum sein Leben verlor.

Schlussgedanken

Zweifellos gelingt es Thome den vielen politischen, sozialen, religiösen und weltanschaulichen Themen und Überzeugungen, die hier zur Diskussion standen, einen angemessenen Ausdruck zu verleihen. Wir wissen immer noch viel zu wenig über den langen Weg, den China ging, bis es zu seiner heutigen Rolle in der Welt fand. Chinesen sind sich dessen durchaus bewusst. Dass auch bei uns ein Interesse an romanhaften Darstellungen von Geschichte besteht, ist nicht zu leugnen. An die sprachliche Klasse eines Daniel Kehlmann kommt Thome jedoch nicht heran.

Sonntag, 4. November 2018

Denkweisen der Theoretischen Physik – ein Dialog

Den nachfolgenden Dialog zweier Freunde und Ex-Kollegen finde ich lesens- und diskussionswert. Berührt wird das Verständnis der Welt, das die heutigen Naturwissenschaften anbieten. Mit Erlaubnis der beiden Autoren, Peter Hiemann (PH) in Grasse und Hans Diel (HD) in Sindelfingen, gebe ich die Essenz wieder.

PH: Im Novemberheft von Spektrum der Wissenschaft (SdW) sind zwei Artikel des Physikers und Wissenschaftsjournalisten Robert Gast, die für einen Laien wie mich ziemlich verständlich sind, und mir gleichzeitig einen interessanten Blick in die Denkweisen einiger aktueller theoretischer Physiker gegeben haben.

Im Artikel “Teilchenphysik – Trügerische Eleganz“ bezieht sich Gast auf auf das Buch “Das hässliche Universum“ der Physikerin Sabine Hossenfelder. Unter anderem konnte ich erfahren, dass theoretische Physiker „einen Dschungel an Modellen für Physik jenseits des Standardmodells“ geschaffen haben, und dass einige theoretische Physiker vermutlich in Sackgassen geraten sind. Hossenfelder  moniert: „Sie glauben, Mutter Natur sei elegant und einfach“.  Hossenfelder ist suspekt, dass „viele ihrer Kollegen vergäßen, dass „mathematische Ästhetik Physiker schon oft in die Irre geführt habe“. Die Idee, dass eine “Theorie von allem“ „also irgendwann schon dann als wahr gilt, wenn sie die einzige weit und breit ist, die keine Widersprüche zu etablierten Naturgesetzen hervorruft“, findet der Nobelpreisträger Frank Wilczek „wirklich abstoßend“. Hossenfelder hofft auf den Idealfall, dass „eines der Projekte, die nach Dunkler Materie suchen, einen Befund ausspuckt, der theoretische Physiker auf die richtige Spur bringt. 

Im Artikel “Naturgesetze – Am Ende der Natürlichkeit“ befasst sich Gast mit „Grenzen, ab der die Formeln einer effektiven Theorie nicht mehr gültig sind“.  Gast ist der Ansicht, dass Erfolge in der Festkörperphysik „Physiker in dem Glauben bestärkt haben, dass die Natur  ‚emergent‘ ist: Danach sollte es möglich sein, die bei großen Abständen gültigen Naturgesetze aus denen kleinerer Distanzen herzuleiten“ Ich vermute, nicht in deterministischen aber kausalem Sinn: Eigenschaften Quarks → Protonen → Atomkernen → Atome lassen sich als emergente Phänomene auffassen. “Schließlich lässt sich mit  Chemie und Thermodynamik die Brücke zu makroskopischen Phänomenen schlagen“. Physiker verwenden die Bezeichnung «natürlich», wenn Abläufe auf einer bestimmten Skala nicht allzu empfindlich auf das reagieren, was auf einer viel kleineren Skala vor sich geht. Einige Physiker sind nach der Entdeckung des Higgs-Teilchens dazu übergegangen, Erweiterungen des Standardmodells zu entwerfen, die bewusst ‚unnatürlich‘ sind. Denen geht es darum, Quantenfeldtheorien zu entwickeln, in denen es völlig normal ist, wenn sich physikalische Prozesse über viele Skalen hinweg beeinflussen (jedoch nicht auf  Renormierung angewiesen sind).

Beim Lesen des Artikels habe ich öfters an Sie gedacht, da sie ja versuchen ein interaktives Modell der Quantenphysik zu entwerfen. Der Quantenfeldtheore zufolge sind nicht Elementarteilchen die grundlegenden Bausteine des Kosmos, sondern ihnen entsprechende Felder. Ich hatte auch ständig meine Vorstellung biologischer und neurobiologischer Prozesse vor Augen, die programmatisch aber selbstorganisierend. ablaufen. Gelingt es am Ende theoretischen Physikern, wichtige Beiträge zur Erklärung des Phänomens ‚Selbstorganisation‘ zu liefern?


HD: Ich habe die Artikel auch gelesen. Außerdem habe ich auch die englische Version des Buches von Sabine Hossenfelder gelesen. Das Buch hat mir sehr gut gefallen. Das habe ich auch Frau Hossenfelder in einer Email geschrieben. Der Titel der englischen Ausgabe ist "Lost in Math − How beauty leads physics astray". Ich finde, dass dieser Titel schon eine stärkere Aussage enthält als der deutsche Titel. Auch habe ich den Eindruck, dass der Artikel im SdW  die im Buch formulierte Kritik an der extensiven physikalischen Interpretation von mathematischen Formeln nur ungenügend wieder gibt. Vermutlich teilt Robert Gast Frau Hossenfelders Ansichten nur zum Teil.

Dass es in der theoretischen Physik neben dem Standardmodell einen "Dschungel" von alternativen Modellen gibt, halte ich für gut und normal. Mich stört nur, dass neue Theorien  es so schwer haben, wenn sie vom Mainstream abweichen. Wenn ich mich recht erinnere, kritisiert das Frau Hossenfelder auch.

In dem Buch von Frau Hossenfelder gibt es auch ein Kapitel über "biases" in science (nicht nur in der Physik) das mir sehr gut gefallen hat. Sie bespricht da alle möglichen Arten von Biases (confirmation bias, motivated cognition, sunk cost fallacy, in-group bias, attentional bias, etc.). Am besten gefallen hat mir, wo sie schreibt: "Then there is the mother of all biases, the bias blind spot - the insistence that we certainly are not biased."…  "And we insist that our behaviour is good scientific conduct, based purely on unbiased judgement, because we cannot possibly be influenced on social and psychological effects, no matter how well established."

Ich bin auch der Meinung, dass die Natur im Kleinsten (also auf der Quantenskala)  ‚emergent‘ ist. Ich finde es jedoch unseriös dies zu glauben/behaupten/vermuten, wenn man das nicht durch ein (mögliches) Modell untermauern kann. Darum versuche ich ein derartiges Modell zu entwickeln. Ob man bei dem, was ich da entwickele, von "Selbstorganisation" reden kann, müsste ich mit jemand besprechen der ein besseres Verständnis als ich von "Selbstorganisation" hat.

PH:
Auch ich halte es für gut und normal, wenn Naturwissenschaftler viele Arbeitshypothesen verfolgen. Ich habe aber Hossenfelder so verstanden, dass sie bei theoretischen Physikern einen mehr oder weniger undurchsichtigen "Dschungel" von Arbeitshypothesen vorfindet. Theoretische Physiker versuchen, in diesem "Dschungel" neue notwendige, grundlegende Erkenntnisse zu finden, die von allen Physikern akzeptiert werden können. In den Naturwissenschaften Chemie, Molekularbiologie und Neurobiologie existieren von allen Experten akzeptierte Erkenntnisse, die für eine Fülle interessanter Forschungsprojekte eine hinreichende Grundlage bieten. 
Übrigens bin ich der Ansicht, dass die meisten Geisteswissenschaftler heute nicht in die Nähe gesicherter Erkenntnisse gelangen. Hossenfelders Aussage mag ihrer Erfahrung mit theoretischen Physikern entsprechen: "And we insist that our behaviour is good scientific conduct, based purely on unbiased judgement, because we cannot possibly be influenced on social and psychological effects, no matter how well established." Aus meiner Sicht sind für Experten der Bereiche Chemie, Molekularbiologie und Neurobiologie die Grundlagen 'well established'. Natürlich sind alle Menschen psychologisch sensitiv.

Das Thema Selbstorganisation wird heute in vielen Wissensbereichen ernst genommen. Nach meinem Verständnis hat das Thema seinen Anfang mit Überlegungen genommen, die die  Neurobiologen Humberto Maturana und Francisco Varela (Buch "Baum der Erkenntnis") zum Thema  'Autopoiese' angestellt haben. Niklas Luhmann hat den Begriff in seinen Vorlesungen "Einführung in die Systemtheorie" übernommen.  'Autopoiese' wurde später mit 'Selbstorganisation' übersetzt. Bernd-Olaf Küppers verweist in seinem Buch "Die Berechenbarkeit der Welt" auf neue wichtige Wissenschaftszweige wie die 'Theorie der Selbstorganisation' oder der 'Netzwerktheorie'. Nach meinem Verständnis ist das Phänomen Selbstorganisation bei Systemen zu beobachten, innerhalb derer eine sehr große  Anzahl von Elementen und höher geordnete Funktionseinheiten interagieren. Ein sich selbst organisierendes System scheint über Funktionseinheiten zu verfügen, die sich fortwährend  über den Status seiner Elemente und Funktionseinheiten informieren, um den Ablauf des Gesamtsystems aufrecht zu erhalten, ohne dass es einer zentralen Steuerung bedarf. 

Entscheidend für die Erhaltung eines Gesamtsystems scheint die Existenz sehr effektiver Archive und Speichermedien zu sein. Bei molekularbiologischen Systemen ist DNA das effektive Archiv und Speichermedium für Organismen, bei neurobiologischen Systemen sind Gedächtnisse die effektiven Archive und  Speichermedien für Erinnerungen, Theoriegebäude und Denk- und Verhaltensweisen. Einige Ansätze von Funktionseinheiten 'intelligenter' Computersysteme scheinen in eine ähnliche Richtung zu gehen.

Aus meiner Perspektive und aufgrund meines unvollständigen physikalischen Wissens kann ich nicht erkennen, dass die derzeitige theoretische Physik  über einen Systemansatz mit Elementen und Funktionseinheiten verfügt, der Überlegungen  zum Thema 'Selbstorganisation' zulässt.

HD: Auch in der Physik gibt es natürlich seit Newton grundlegende Erkenntnisse die von allen Physikern akzeptiert werden. In den letzten hundert Jahren sind die Erkenntnisse enorm gewachsen. Die Physiker sind jedoch noch nicht soweit, dass sie sagen können jetzt haben wir Alles verstanden (auch wenn es einige gibt die meinen sie hätten FAST alles verstanden). Neben der Astrophysik wo noch vieles unverstanden ist, sehe ich noch den Bedarf für (1) ein besseres Verständnis der Quantentheorie und (2) ein kompatibles Verständnis von Quantentheorie und Allgemeiner Relativitätstheorie. Ich sehe zwei Probleme die dazu geführt haben, dass die Suche nach einem besseren Verständnis zu einem "Dschungel" von unausgegorenen Theorien geführt hat:

(1) Die verbesserten Theorien sollten/müssten durch neue Experimente und Beobachtungen  unterstützt werden. Neue Experimente sind jedoch im Kleinsten kaum noch machbar oder extrem aufwendig (e.g. CERN LHC); und im Größten überhaupt nicht möglich. Nur in der Astrophysik konnte man auf Grund vieler neuer Beobachtungen neue Erkenntnisse gewinnen, die jedoch zunächst nur zu Zweifeln an den bisherigen Erkenntnissen geführt haben.

(2) Physikalische Theorien sollten mathematisch beschreibbar sein. Ich behaupte, dass die Fixierung auf die in der Physik seit Jahrhunderten gebräuchliche (und bewährte) Mathematik den Fortschritt behindert. Ich sehe zwei Punkte die zusätzlich zur traditionellen Mathematik  für die Beschreibung verbesserter Physiktheorien notwendig sind: (a) diskrete Werte anstelle von differenzierbaren Wertebereichen, (2) Algorithmen anstelle von linearen (differenzierbaren) Prozessen.

Ich bin der Meinung, dass bei gewissen Themen auch ungesicherte Erkenntnisse einen (großen) Wert haben können. Man sollte diese Erkenntnisse nur bescheidener verkünden. Sind nicht "Grundlagen" per Definition immer well-established (nicht nur in den Bereichen Chemie, Molekularbiologie und Neurobiologie)? Und wenn sich heraus stellt, dass Grundlagen überarbeitet werden müssen, dann ist das meistens nicht wegen der "Biases" bei ihrer Entstehung.

Seit ungefähr zwei Jahren gibt es in meinen (kausalen) Modellen die Themen "Collective Behaviour" und "Emergenz". Ich weiß nicht ob man bei dem was ich vorschlage von "Selbstorganisation" reden kann. Bei mir haben sich die Themen  "Collective Behaviour" und "Emergenz" (zwangsläufig?) ergeben aus meinem Ansatz mit (1) diskreten physikalischen Einheiten (z.B. Raum und Zeit) und (2) nicht-linearen Prozessen. Ich glaube, dass diese Vorgehensweise richtig ist, nämlich: (a) sich Gedanken machen, wie können gewisse physikalische Prozesse im Detail und auf der Grundlage "gesicherter" Theorien ablaufen, und (b) wenn der so definierte Prozess Ähnlichkeit mit Prozessen hat, die in anderen Wissenschaftsgebieten mit "Selbstorganisation" beschrieben werden, ist es vielleicht sinnvoll Vergleiche zu machen.