Mittwoch, 24. Juli 2019

Evolutionstheorie im Kreuzfeuer der Kritik – wenn auch etwas verspätet

Die auf Charles Darwin (1809-1882) zurückgehende Evolutionstheorie sorgte im 19. Jahrhundert für gewaltige geistige Turbulenzen. In mancher Hinsicht erschütterte sie das Weltbild der Zeitgenossen. Zweihundert Jahre später könnte man meinen, das sei alles ein alter Hut, das Thema sei gegessen. Dem scheint aber nicht so zu sein. Liest man Stefan Grafs Buch Darwin im Faktenscheck (2013, 380 Seiten) so bekommt man den Eindruck, dass Darwin uns gerade erst verlassen habe und der Meinungsstreit sei soeben voll entbrannt. Stefan Graf (*1961) hat Medizin und  Biologie an der FU Berlin studiert und arbeitet als Wissenschaftsjournalist. Mit etwas Mühe arbeitete ich mich durch den Wälzer. Immerhin gab es einige Punkte, an denen ich stutzte oder dazulernte.

Essenz der Darwinschen Theorie

Bei der biologischen Fortpflanzung kommt es immer wieder zu Veränderungen des Erbguts, fachlich als Mutationen im Genbestand (Genom) bezeichnet. Die Art, die Position und die Verteilung sind im Prinzip zufällig. Ihre Ausprägung und Wirkung im erzeugten Lebewesen, also dem Phänotyp, kann sehr unterschiedlich sein. Außerdem gibt  es Unterschiede aufgrund leichter Variationen desselben Gens, der so genannte Allele.

Welche Mutationen dem Phänotyp zum Vorteil gereichen, hängt von dessen Umwelt ab. Es ist die Umwelt, die selektiert, welche Mutationen sich zahlenmäßig stark oder weniger stark verbreiten, indem die Zahl der Phänotypen wächst oder schrumpft. Diejenigen Mutationen, deren Träger als Phänotyp Nachfolger zeugten, werden Teil des Genotyps nachfolgender Generationen. Änderungen des Genotyps von einer Generation zur andern sind meist minimal. Erst nach einer Reihe von Generationen können sie ins Gewicht fallen. Das Gesamtpaket der Gene, das Genom, und nicht ein einzelnes Gen, bestimmt, welcher Phänotyp für eine gewisse Situation gut oder schlecht vorbereitet ist. Der am besten angepasste hatte die besten Chancen zu obsiegen, d.h. zu überleben (engl,; survival of fittest). Aber auch alle Fehlentwicklungen erhalten eine Bewährungsprobe, oft für Jahrtausende.

Wer angepasst war, ist stets nur im Nachhinein zu beurteilen. Vorhersagen sind nicht möglich. Die Evolution tut nichts Aktives. Sie bewertet lediglich den Erfolg von Mutationen und Rekombinationen bei der Nahrungsbeschaffung, der Partnerwahl und der Fortpflanzung. Als Kernbegriffe der Evolution gelten Zufall, Fitness und Konkurrenz; entscheidend ist der Zeitfaktor.

Historische Leistung Darwins und spätere Erkenntnisse

Es bedurfte vermutlich der Besonderheit viktorianischer Naturforschung, um das Wirken des Zufalls ernst zu nehmen. Die Vorstellung, dass die Umwelt sich ändert, ohne dass wir wissen weshalb, war eben erst ins Bewusstsein der Menschheit gedrungen. Es war auch noch relativ neu, bei der Betrachtung der Erde und des Kosmos in  großen Zeitintervallen zu denken. In der biblischen Genesis lag der Tag Null der Schöpfung keine 10.000 Jahre zurück. Jetzt begann man in Jahrmillionen zu denken. Möglicherweise beeinflusste ihn auch die Sichtweise des Thomas Robert Malthus (1766-1834), der einen Trend zum Überschuss von Nachkommen und dadurch durch Ressourcen begrenzte Populationen konstatierte.

Im Altertum wurde eine in den Ergebnissen mit Darwin vergleichbare Deszendenztheorie von Herodot (480-420 vor Chr.) und Lukrez (94-53 vor Chr.) gelehrt. Die Kirche akzeptierte später nur die Allmacht Gottes als Schöpfer, und zwar nicht nur im einmaligen Akt sondern in laufender Wiederholung.

Darwin standen keinerlei Kenntnisse weder aus der Genetik noch aus der Epigenetik zur Verfügung, durch die viele der von ihm beobachteten Phänomene später erklärt wurden. Heute weiß man, dass jede einzelne Körperzelle eine volle Kopie der DNA besitzt. Entwirrt wäre sie ein Faden von mehr als zwei Metern Länge. Die drei Mrd. Bausteinpaare des Genoms eines höheren Lebewesens entsprechen einem Sprachumfang von 100 Bill. (10 hoch 14) Zeichen. Unterschiede in der Ausprägung ergeben sich durch An- und Abschalten einzelner Gene. Diese Genregulation ist das wahre Geheimnis des Lebens. Was lange als Schrott-DNA bezeichnet wurde, erweitert das Genom zum Epigenom. Aus der Genetik wird die Epigenetik. Mag die DNA des Schimpansen zu 98% identisch sein mit der des Menschen, so ist der Phänotyp dennoch ganz verschieden. Immerhin sind Änderungen an 2% der oben erwähnten 3 Mrd., also an 60 Mio. Positionen möglich.

Gegenargumente der Kreationisten und Sychronisten

Darwins Lehre stellte seinerzeit eine große Provokation dar, für alle jene, die den göttlichen Schöpfer unablässig am Werke sahen. Solange nicht für jede heute existierende Lebensform eine entsprechende Zwischenstufe gefunden ist, glauben die Darwin-Gegner, dass jede Form einen eigenen Akt der Schöpfung darstellt. Es kann in der Tat schwer sein, Fossilien von allen Zwischenschritten zu finden, da längst nicht alles, was existierte, auch in der Form von Fossilien Spuren hinterlassen hat. Andererseits muss man fragen, warum ein Schöpfer so viele ähnliche Schöpfungen wiederverwendet. Warum benutzen eine Kuh und eine Erbse dasselbe Enzym? Das muss eine eigenartige Marotte dieses Schöpfers sein. Wenn ein fertiger Flügel sich als nützlich erweist, um sich damit in die Lüfte zu erheben, so ist unklar, was immer den Anlass dazu ergab, die notwendigen Zwischenschritte zu vollziehen.

Zweifel an Darwins Modell äußerten nicht nur seine Zeitgenossen. Als einer der heutigen Angreifer wird Reinhard Eichelbeck mit seinem Buch Das Darwin-Komplott (1999, 379 Seiten) zitiert. Vor allem wirft man Darwin vor, die Schöpfung des Lebens ohne die Mitwirkung von Gott verkündet zu haben. Dabei hat Darwin zu der auch heute größtenteils unbeantworteten Frage, wie das Leben entstand, überhaupt nichts gesagt. Er versuchte lediglich zu erklären, wie sich die unterschiedlichen Formen des Lebens herausgebildet haben konnten. Ob es Gott gibt, können Darwinisten durchaus mit Ja beantworten. Nur wie er wirkt, da unterscheidet man sich von Kreationisten. Nicht der einzelne Phänotyp erfordert das Eingreifen des Schöpfers. Um den Prozess als Ganzes zu konzipieren und in Betrieb zu setzen, da sei göttliche Hilfe nicht auszuschließen meint der Autor.

Die Synchnonisten bezweifeln die der Evolution zugrunde liegende Zeitskala. So nehmen sie an, dass Menschen und Dinosaurier gemeinsam lebten. Nach dem neuestem Stand der Wissenschaft ist der Mensch (homo habilis) zwischen 1,5 und 2,0  Mio. Jahre alt. Die Dinosaurier starben vor etwa 65 Mio. Jahren aus.

Missdeutung als grausamer Überlebenskampf

Überleben können nicht nur die besseren Angreifer, sondern auch die besseren Verteidiger. Oft wird gesagt, der geile Macho genieße Vorteile. Aber auch er benötigt Kontrolle, Ethik und Sozialverhalten. Die Evolution rechtfertigt weder Terror noch Brutalität.  Menschlichkeit und Empathie tragen meistens weiter. Weder Kannibalismus noch die Kindestötung durch Harems-Herren lässt sich mit Darwin begründen, erst recht nicht das Töten von Juden durch die Nazis.

Der Egoismus ist eine Eigenart des Menschen. Er ist nicht aus Darwins Theorie ableitbar. Nur der Selbsterhaltungstrieb ist es. Die Natur hat es mehrmals geschafft, einer Spezies ein ausgeprägtes Sozialverhalten aufzuwingen. Es ist bei Insekten, also Bienen und Ameisen, unübersehbar. Es gibt es aber auch bei Säugetieren wie etwa den Nacktmullen. Bei dieser afrikanischen Nagetierart werden Staaten gebildet mit einer Königin an der Spitze und Wächtern, die sie bewachen.

Beispiele des Evolutionsprozesses

Außer den von Darwin studierten Galapagos-Finken kennen wir heute mehrere Beispiele, die den Evolutionsprozess eindrucksvoll belegen. Waren es bei den Finken 18 verschiedene Arten, die Darwin untersuchte, so kennt man in Ostafrika über 700 getrennte Arten des Buntbarschs. Infolge des Austrocknen der Seen wurden die Populationen immer wieder getrennt und verändert. Nach Phasen des Steigens des Wassers vermischten sich die Arten wieder. Von einer eigenen biologischen Art spricht man immer nur dann, wenn ihre Mitglieder gemeinsame Nachfahren haben können.

Eine durch eine einelne  Genveränderung entstandene Mutation ist bei Europäern die Laktose-Toleranz. Sie erfolgte vor rund 10.000 Jahren, als die aus Afrika eingewanderten Menschen damit begannen Viehzucht zu betreiben und Milchprodukte zu genießen. Die in Afrika verbliebenen Populationen besitzen diese Mutation nicht. Ähnlich interessant ist die Sichelzellen-Anämie. Nur wenn beide Elternteile diese Genveränderung aufweisen, sind die Nachkommen immun gegen Malaria. Hier lässt sich spekulieren, dass in ganz Afrika diese Genvariante gute Chancen gehabt hätte sich durchzusetzen, wäre kein anderes Malaria-Gegenmittel erfunden worden.

Ist die Evolution ein einmaliger Prozess?

Alles deutet darauf hin, dass die Evolution nur einmal stattgefunden hat. Dasselbe gilt für den Urknall und die Entstehung des Lebens. Das muss aber nicht so sein. Darüber darf spekuliert werden. Klar ist nur, dass jeder zweite Start zu gänzlich andern Ergebnissen führen wird, selbst dann wenn die Startbedingungen identisch sind.

Als Quintessenz lässt sich sagen: Der Mensch – aber auch jedes andere Lebewesen − ist das Ergebnis einer langer Folge von Zufallsmutationen, die selektiert wurden. Das bisherige Ergebnis ist beachtlich. Je nach Standpunkt wünscht man sich, dass die vorhandenen Verbesserungsfähigkeiten ausgenutzt werden.


Nachtrag von Peter Hiemann vom 25.7.2019

Es ist bewundernswert, dass Charles Darwin mit seinen Methoden ohne genetische Kenntnisse den Mut hatte, eine Evolutionstheorie zu formulieren. Heute wissen wir, dass die evolutionären Prozesse Replikation, Variation und Selektion die Vielfalt biologischer Arten bewirkt haben. Der Blog-Eintrag 'Evolutionstheorie im Kreuzfeuer der Kritik' hat mich veranlasst, einige Überlegungen zum Thema 'biologische Evolution' beizusteuern.

Schon der Physiker Erwin Schrödinger war überzeugt, dass die wesentliche Eigenschaft des Lebens darin bestehe, Ordnung von Generation zu Generation weiterzugeben. Da die materielle Verkörperung dieser Ordnung offenbar Platz findet in einer einzelnen Zelle, müsse sie in Gestalt eines 'Codes' gespeichert sein. Einige systemische Aspekte sind entscheidend, um das Phänomen der biologischen Evolution zu erfassen:

(1) Physikalische Aspekte

Rund 100 Jahre nach Charles Darwins Theorie “Über die Entstehung der Arten“ gelang dem Molekularbiologen James Watson und dem Biochemiker Francis Crick die epochale Entdeckung, dass die Evolution lebender Strukturen auf einer molekularen Doppelhelix-Struktur (ähnlich zwei sich umwindenden Wendeltreppen) beruht. Diese Struktur wird von quantenphysikalischen Kräften geformt, wie sie der Biochemiker Linus Pauling beschrieben hat. Diese Struktur besitzt die 'intrinsische' (von innen heraus kommende) Eigenschaft, dass sie auf einfache biochemische Weise reproduziert werden kann. Zitat James Watson: „Uns war klar: So wird das Genmaterial kopiert – und genau das war ja das zentrale Problem des Lebens, sowie Schrödinger in seinem berühmten Buch “Was ist Leben?“ definiert hatte.“ Darüber hinaus verfügt das sehr große Molekül, die DNA genannte Substanz, über verschiedene biochemische Mechanismen, die mit Hilfe von Enzymen Schäden beseitigen, die bei der Reproduktion von DNA ständig entstehen. Ohne diese Reparaturmechanismen, wäre eine fehlerfreie Replikation der DNA nicht möglich.

(2) Programmatische Aspekte

Biologische Systeme unterscheiden sich grundlegend von physikalischen Systemen, weil biologische Systeme programmatische Eigenschaften besitzen. Ein biologisches System besitzt die Fähigkeiten, sich zu bilden, sich zu erhalten und sich zu reproduzieren. Nachfolgende Generationen biologischer Systeme enthalten nicht nur Eigenschaften der Vorgängergenerationen sondern auch nicht vorhersehbare (emergente) Eigenschaften. Bei sexueller Reproduktion werden langfristig nur diejenigen individuellen Neukombinationen oder Veränderungen genetischer Information an Folgegenerationen weitergegeben, die sich erfolgreich in einer Population von Individuen bewähren.

(3) Interaktive Aspekte

Molekularbiologen befassen sich mit Wechselwirkungen biologisch aktiver Moleküle. Deren Strukturen bestimmen ihre Funktionen und das Zusammenwirken zwischen unterschiedlichen Molekülen. Zum Beispiel sind Proteine nach einem genetischen 'Code' hergestellte Ketten von Aminosäuren, deren vielfältige Formen und Funktionen durch spezifische Faltungen bestimmt sind. Bei den molekularen Wechselwirkungen handelt es sich nicht um den Austausch von Information im technischen Sinn. Vielmehr erweist sich biologischer 'Sinn' durch das Zusammenwirken vielfältiger Proteine. Lediglich Proteine mit wechselseitig passenden Formen interagieren miteinander. Biologen bezeichnen dieses biologische, kooperative Prinzip als “molekulare Komplementarität“. Es ist besser bekannt als “Schlüssel-Schloss-Prinzip“. Das Resultat interagierender Proteine ergibt 'Sinn' auf der nächsthöheren biologischen Systemebene einer Zelle. Das Resultat interagierender Zellen ergibt 'Sinn' auf der nächsthöheren biologischen Systemebene eines Organs und letztlich eines Organismus.

Darwin war bei seinen Entdeckungen auf die äußeren Merkmale der Organismen angewiesen. Wenn wir heute von biologischer Evolution sprechen, beziehen wir uns auf unterschiedliche organische Systeme wie Sinnessysteme, Herz-Blutkreislauf-Systeme, Stoffwechselsysteme (Zelle, Darm, Blut), Immunsysteme oder Nervensysteme. Alle organischen Systeme interagieren untereinander und mit der Außenwelt. Sie funktionieren auf selbstorganisierte Weise, mit dem Ziel, einen Gesamtorganismus unter allen Umständen zu stabilisieren (Homöostase).  

Biologische Mutationen bewirken Variationen biologischer Programme. Beim Kopieren des DNA-Moleküls entstehen viele Fehler, die aber postwendend in der Zelle entsorgt (recycelt) werden. Eine selektierte Variation eines Gens wirkt sich in den meisten Fällen auf viele Eigenschaften eines Organismus aus. Häufig wird das Wort 'Evolution' für Entwicklungen benutzt, obwohl kein Programm vorliegt, auf das die Prozeduren Reproduktion, Variation, Selektion angewendet werden könnten. Beim wiederholten Kopieren einer physikalischen Struktur entstehen Strukturen mit zunehmend minderer Qualität.

Die Vorstellung, dass biologische Wesen vermittels einmaliger Schöpfungsakte entstanden sind, hat sich nicht bewährt. Dualistische Hypothesen von getrennt agierenden Körpern und Geist, haben sich nicht bewährt. Die Annahme, dass biologische Prozesse und Systeme ausschließlich nach dem Prinzip 'Ursache → Wirkung' funktionieren, hat sich nicht bewährt. Biologische Prozesse einschließlich neurologischer Prozesse im Gehirn, funktionieren als Einheit auf selbstorganisierte Weise (ohne zentrale Steuerung). Wir stehen erste am Anfang, die Rolle des menschlichen ICH-Bewusstseins für die menschliche individuelle Wesen zu verstehen.

Es ist verwunderlich, wenn heute Wissenschaftler (Antidarwinisten wider besseres Wissen?) Darwins Erkenntnisse kritisieren, ohne moderne Evolutionsüberlegungen zu bedenken. Es ist mehr als angebracht, Antidarwinisten zu widersprechen. Stefan Grafs Buch wird vom Verlag so eingeschätzt: „Er geht den Einwänden dieser Antidarwinisten unvoreingenommen, spannend und humorvoll auf den Grund.“ Ob Grafs Aussagen Antidarwinisten überzeugen, kann ich nicht beurteilen. Ich habe nicht vor, mich näher mit Stefan Grafs Überlegungen zu befassen.

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