Freitag, 29. Mai 2020

Narrative in den Wirtschaftswissenschaften

RobertJames Shiller (*1946) ist ein US-amerikanischer Ökonom und Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Yale University. Er erhielt 2013 – gemeinsam mit Lars Peter Hansen und Eugene Fama – den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften, der von der schwedischen Nationalbank verliehen wird.

In den 1980er Jahren entwickelte Shiller zusammen mit Karl E. Case und Allan Weiss den Case-Shiller-Index, der die Entwicklung des US-amerikanischen Immobilienmarktes widerspiegelt. Sein im Jahr 2000 auf dem Höhepunkt der New-Economy-Euphorie erschienenes Buch „Irrationaler Überschwang“ (engl. irrational exuberance) wurde zum Bestseller. Die darin aufgestellten Thesen bewahrheiteten sich kurz darauf in der Baisse der Jahre bis 2003. Auch vor der 2008 geplatzten Immobilienblase in den USA warnte er frühzeitig. Die nachfolgenden Bemerkungen basieren auf Shillers Buch Narrative Wirtschaft (2020, 480 Seiten).

Wesen der Narrative

Das Wort Narrativ ist sehr modern. Es ist eine Aufpolierung oder Auffrischung eines sehr abgenutzten Begriffs, dem der Erzählung oder der Geschichte (engl. story). Shillers Augenmerk sind ökonomische Narrative. Er vergleicht sie mit Epidemien. Irgendwann gehen sie viral, so wie eine von Viren übertragene Krankheit. Dabei gibt es Schleuderer (engl. superspreader). Das sind Infizierte, die besonders viele andere Menschen anstecken. Das Abflauen erfolgt nicht durch Heilung, sondern durch Vergessen.

Berühmte Beispiele

Shillers Buch verweist auf mehrere Dutzend Beispiele, die in den Wirtschaftswissenschaften eine Rolle spielen. Im Folgenden will ich drei Beispiele näher beleuchten. Sie stellen ganz unterschiedliche Ebenen dar, auf denen ein Phänomen signifikant sein kann.

Beispiel 1: Amerikanischer Traum

Der Begriff ist seit 1931 im Gebrauch und spricht vor allem den materiellen Wohlstand an, den Amerikaner erreichen können. Die Grundlage dafür wurde schon 1776 in der Unabhängigkeitserklärung (engl.: Declaration of Independence) geschaffen, die besagt, dass alle Menschen gleich sind, und dass alle amerikanischen Staatsbürger das Recht auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück haben. Auf den Gedanken des amerikanischen Traums lässt sich ein Großteil der Zuwanderung nach Amerika zurückführen. Richtig viral wird der Begriff ab 1950 in verschiedenen fast gleichzeitig erschienenen Büchern. Martin Luther King gab der Sache 1963 eine spezielle politische Bedeutung. Bekanntlich wurde er wenig später ermordet. Heute wird der Begriff Amerikanischer Traum primär von Maklern verwendet, und zwar in der Werbung für Eigenheime. Einige Leute verbinden mit ihm auch einen Appell zur moralischen Rechtschaffenheit.

Beispiel 2: Bitcoin

Bitcoin ist die weltweit führende Kryptowährung. Sie basiert auf einem dezentral organisierten Buchungssystems. Zahlungen werden kryptographisch legitimiert und über ein Netz gleichwertiger Rechner (eng. peer-to-peer) abgewickelt. Anders als im klassischen Banksystem üblich, ist kein zentrales Clearing der Geldbewegungen notwendig. Eigentumsnachweise an Bitcoin werden in persönlichen digitalen Brieftaschen gespeichert. Der Kurs eines Bitcoin zu den gesetzlichen Zahlungsmitteln folgt dem Grundsatz der Preisbildung an der Börse. Die Idee einer Kryptowährung ist vor allem bei Leuten interessant, die den Einfluss des Staates zurückdrängen wollen.

Das Bitcoin-Zahlungssystem wurde von dem unter dem Pseudonym Satoshi Nakamoto auftretenden Autor nach dessen Aussage im Jahr 2007 erfunden. Es wurde im November 2008 in einer Veröffentlichung beschrieben und seit Januar 2009 mit einer Open-Source-Referenzsoftware unterstützt. Das Bitcoin-Netzwerk basiert auf einer von den Teilnehmern gemeinsam verwalteten dezentralen Datenbank, der Blockchain, in der alle Transaktionen verzeichnet sind. Mit Hilfe kryptographischer Techniken wird sichergestellt, dass gültige Transaktionen mit Bitcoins nur vom jeweiligen Eigentümer vorgenommen und Geldeinheiten nicht mehrfach ausgegeben werden können. Neue Bitcoin-Einheiten werden durch die Lösung kryptographischer Aufgaben, das sogenannte Schürfen (engl. mining), geschaffen.

Beispiel 3: Laffer-Kurve

Die Laffer-Kurve ist ein nach dem US-Ökonomen Arthur B. Laffer benannter finanzwissenschaftlicher hypothetischer Zusammenhang, dem zufolge die Steuereinnahmen mit steigendem Steuersatz erst steigen, dann nach Erreichen eines Maximums wieder sinken, also die Form eines umgekehrten „U“ annehmen. Das bedeutet insbesondere, dass bei hohen Steuersätzen eine Senkung der Einkommensteuer das Einkommensteueraufkommen erhöhen kann. 

Laffer-Kurve

Die Regierung von Ronald Reagan berief sich im Rahmen ihrer Wirtschaftspolitik, der sogenannten Reaganomics, auf die These und senkte die Einkommensteuern. In den Folgejahren sanken die Einnahmen der öffentlichen Haushalte, und Haushaltsdefizite stiegen an. Auch die Regierung von Margret Thatcher wurde von dieser Denkweise beeinflusst.

Mehr zu Narrativen

Es ist meist Zufall, welche Stories viral gehen, d.h. epidemisch werden. Es passiert oft mittels einer Mutation. Empirische Untersuchungen bestätigen, dass Narrative mehr überzeugen als Statistiken. Aussagen der narrativen Wirtschaft müssen nicht wahr sein. Eine Verbindung mit großen Namen oder mit patriotischen Gefühlen kann hilfreich sein.

Die Verbreitung von Narrativen erfolgt nicht systematisch. Sie ähnelt eher dem Verhalten einer Epidemie. Die gesamte Wirtschaftsgeschichte wird geprägt von denjenigen Mutationen, die eine erhöhte Ansteckungsrate und eine geringere Vergessenheitsrate haben. Narrative müssen ähnlich wie ein Witz mit den richtigen Worten erzählt werden. Es besteht kein Konsens, was die einflussreichsten Narrative sind.

Die Angst vor der Automatisierung ist ein verbreitetes Narrativ seit es arbeitssparende Dreschmaschinen gibt. Das war um 1870. Ein neuer Höhepunkt war zwischen 1974 und 2000, und nochmals stärker nach 2008. Das Narrativ der stets steigenden Immobilienpreise ist ebenfalls alt. Es ging ab 2008 stark zurück. Narrative über einen bevorstehenden Aktien-Crash erhielten 1921 und 1987 neue Nahrung.

Donnerstag, 28. Mai 2020

Von individueller Orientierung zur gesellschaftlichen Kultur

Soziologen und Sozialpsychologen äußern sich laufend zu den Einstellungen und Präferenzen heutiger Gesellschaften. Dabei ist die Quelle ihrer Schlussfolgerungen nicht immer offensichtlich. Peter Hiemann ist der Meinung, dass heute eine anonymisierte Erhebung und Auswertungen individueller Daten zum Stand der Technik gehören sollte. Die moderne Kommunikationstechnik hat hier ein enormes Potential, dessen Nutzung den Möglichkeiten hinterherhinkt – aus welchen Gründen auch immer. Als Beispiel sind Untersuchungen des Sozialpsychologen Harald Welzer zitiert, der eher mit einem geisteswissenschaftlichen als mit einem naturwissenschaftlichen Ansatz gesellschaftliche Fragestellungen bearbeitet.

Die Ausnahmesituation, die der Corona-Virus verschafft, eröffnet weitere Möglichkeiten, das Studium gesellschaftlicher Phänomene zu intensivieren.

Hiemanns neues Essay enthält eine ganze Reihe von Vorschlägen, wie sich aktuelle gesellschaftliche Daten und Aussagen gewinnen lassen. Hier können Sie sich informieren.

Montag, 18. Mai 2020

Was Karl Marx einst nur erträumte

Ludger Eversmann (*1953) ist ein aus dem Münsterland stammender Wirtschaftsinformatiker, der ein volles Berufsleben als SAP-Berater hinter sich hat. Im Alter von 51 Jahren hat er noch 2004 eine Dissertation vorlegt. Diese war aber – wie er selbst zugibt − zu spät, um ihm noch eine akademische Laufbahn zu eröffnen. Von seinem Buch Die große Digitalmaschinerie (2018, 298 Seiten) erwartete ich mir eine Auseinandersetzung mit aktueller Technik und Wirtschaft. Ich war überrascht, wie sehr selbst Erwachsene noch zu ideologischen Träumereien neigen. Das Buch gibt mir Gelegenheit, eine Reihe von Themen zu adressieren, die in der fachlichen und politischen Diskussion eine Rolle spielen

Marxsche Utopien

Das Buch erinnert an die Utopien, die einst Karl Marx verkündete. Der forderte bekanntlich, dass ‚die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und … eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren‘. [Da ich selbst weder fische noch jage, habe ich umso mehr Zeit, um Kritiken zu schreiben – selbst über Marxisten.] Auch Eversmann sieht eine solche Zukunft als nicht mehr sehr ferne an. Das Smart Home und die universelle Weltfabrik liefern die Voraussetzungen dazu. Ein MIT-Professor namens Neil Gershenfeld forscht auf diesem Gebiet (engl. science of digital fabrication). Auch Japans Shinzo Abe hat auf der auf CeBit 2018 verkündet, dass die digitale Fabrik im Kommen sei, und zwar in der Form einer universalen Weltfabrik.

Rolle der Produktion

Aus Sicht vieler Anhänger von Karl Marx muss die Produktion den Verbrauchern gehören. Jede erfolgreiche Fabrik, die sich in Privathand befindet, würde nach marxistischer Lehre ja unweigerlich zum Monopol führen. Das gilt erst recht von einer digitalen Fabrik, die ja die Tendenz hat zu einer universellen Fabrik zu werden. Im Idealfall lassen sich in ihr alle Produkte herstellen, die jemand braucht, und zwar ab der Losgröße 1. Dabei sind nicht die Kosten und die Perfektion das Entscheidende, sondern die Universalität. Als Beweis dafür, dass sich die Industrie in diese Richtung bewegt, wird ein Patent erwähnt, das die Firma Amazon im April 2017 erteilt bekam. Es handelt sich dabei um eine Maschine zur vollautomatischen Herstellung von Bekleidung.

In der Marxschen Denkweise spielte die Produktion stets die Hauptrolle. Planung, Entwurf, Bewertung und Vertrieb kommen nicht vor. In der heutigen Welt jedoch sind es diese vier Aktivitäten – von Marxisten meist als Design zusammengefasst − die alles entscheidend sind. Für die Produktion bieten sich diverse Lösungen an, die es früher nicht gab, nämlich die Herstellung durch Auslagerung (engl. outsourcing) in ein Billiglohnland oder die Automatisierung. Die zurzeit wertvollste Firma der Welt, Apple, ist ganz diesem neuen Prinzip verpflichtet. Sie hat die Produktion zu 100% nach Asien ausgelagert. Noch fährt sie gut damit. Ikea arbeitet ähnlich.

Natürlich passt diese Entwicklung, zu der auch viele andere Unternehmen gelangt sind, nicht in das Denkschema von Marx und seinen Epigonen. Es soll ja nicht sein, was nicht sein darf. Man überlegt sich daher Alternativen. Auch Eversmann meint, es sei ja die bessere Lösung, wenn die Fertigung dezentralisiert und vom Staat oder Kommunen übernommen würde, und zwar möglichst in der Nähe des Verbrauchs. Am allerbesten wäre es, der Konsument könnte auch die Produktion übernehmen. Dass es etwas wie einen Weltmarkt gibt, den man als Exporteur angehen könnte, scheint nicht in das Weltbild zu passen.

Herkunft und Rolle der Designs

Was weder Karl Marx noch seine Anhänger interessiert, ist die Frage, wo die Designs herkommen. Dass es ohne Design meist auch keine Produktion gibt, wird zwar vielfach anerkannt. Man benutzt auch Bilder wie das der Schaffung des digitalen Zwillings. Nur dass dabei Sozialpartner eine Rolle spielen, passt in kein Schema. Vor allem wird nicht zur Kenntnis genommen, dass da mehr Menschen involviert sein können, als nur die Unternehmens- oder Gründerpersönlichkeiten eines Betriebs. Man könnte demnach den Eindruck gewinnen, dass es bei Firmen wie Apple nur Unternehmer gäbe.

Fehlentwicklungen des Kapitalismus

Der Wertekanon des Westens sei vom Kapitalismus bestimmt. Dass es dem Sozialismus nicht gelang, auf Dauer Fuß zu fassen, wird als Katastrophe angesehen. Der Kapitalismus führe unweigerlich zu einer Zunahme sozialer Ungleichheit. Die aktuelle Ursache dafür sei im Finanzkapitalismus zu finden. Die Unternehmen halten sich mit Investitionen oder Lohnerhöhungen zurück, weil es billige Ostarbeiter gibt. Der Lohndurchschnitt lag 2015 bei 32,6k Euro. Der Journalist Gunther Tichy wirft der EZB davor, sie enteigne Sparer durch ihre Niedrigzinspolitik.

Die Wirtschaft benutzt wenig Fremdkapital, sie basiert vorwiegend auf Eigenfinanzierung. Staaten tilgen kaum Schulden. Sollte es nötig werden, stimulieren sie die Nachfrage mit Helikoptergeld. Das von der Finanzwirtschaft in Form von Derivaten gebundene Geld beträgt das 65-fache der Realwirtschaft. Das Privatvermögen der Bürger entspricht dem 10-fachen der Staatsschulden. Die Neoliberalen treiben die Kosten für staatliche Leistungen nach unten.

Verbliebene Alternativen zum Kapitalismus

Der Philosoph Jürgen Habermas finde, dass die Priesterklasse der Intellektuellen die Wurzeln für gesellschaftliche Alternativen vorwiegend bei Karl Marx sieht. Nur hielten sie den praktizierten Realsozialismus nicht für erstrebenswert.

Maschinen sollten vergesellschaftet werden, damit Kommunisten ein Einkommen haben. Yochai Benkler (Harvard) sieht als Zukunft eine Ökologie mit Commons und Open Source. Die Erstellung von Wikipedia kann als Modell dienen (engl. peer-to-peer production). Das Ideal, das Eversmann vorschwebt, ist eine Produktion am Ort des Verbrauchs, und zwar mittels einer perfekten und universellen Maschine. Dass dies eine digital gesteuerte Maschine ist, versteht sich von selbst.

Es gäbe eine intrinsische sowie eine materielle Motivation, um gesellschaftliche Arbeit zu leisten. Die Allmende, zu der jeder freiwillig Arbeitsleistung beiträgt, sei in Verruf geraten. Sie verursacht Kosten, die von der Gemeinde aufgebracht werden müssten. Dennoch besteht für sie ein selbstreferenzielles Interesse, vor allem in der akademischen Welt.

Ideale Produktion durch Konsumenten selbst

Bei der Firma Henn GmbH in Pleinfeld (bei Nürnberg) hat Eversmann eine sehr optimistische Darstellung der Fabrik der Zukunft gesehen. Es war eine digitale Stadtfabrik, basierend auf einem oder mehreren 3D-Druckern. Wie von Gershenfeld postuliert, muss die Fabrik der Zukunft vollkommen additiv arbeiten. Sie geht von der Nanoebene aus und assembliert alle Produkte, und zwar völlig ohne Abtragen.

Für einen sozialistischen Traum, wie er Eversmann ja vorschwebt, muss diese Maschine in der öffentlicher Hand sein. Als digitale Universalmaschine fabriziert sie alles, was man braucht. Hinzu kommt, dass sie sich in jedem Haushalt befindet. So wie eine Waschmaschine oder Spülmaschine produziert sie für alle Nutzer im Haushalt. Gegenstände wie Blumentöpfe, Fahrräder, Textilien, Schuhwerk, Mobilar, Musik-CDs, Computer oder Rasenmäher brauche man nicht mehr zu kaufen. Damit wäre endlich der Kapitalismus überwunden.

Einige nicht gelöste Probleme hat die Sache. Die erste Frage – die oben bereits anklang − heißt, wo kommen die Designs her. Selbst Open Source Designs sind nicht kostenlos. Wer deckt Lager- und Transportkosten für die Grundmaterialien, die ja bevorratet werden müssen? Da die Wertschöpfung der individuellen Produktion (engl. do-it-yourself production) gering ist, entfällt sie für die übliche Besteuerung. Welche alternativen Quellen der Besteuerung gibt es?

Kurze Diskussion

Dass viele privatisierte Betriebe scheiterten, ist bekannt. Sie betrafen Leistungen zur Infrastruktur, Sozialdienste, Gesundheit, Verkehr und Wohnungen. Man kann diese Dienste der Daseinsfürsorge nicht mit Gebrauchsgütern gleichsetzen. Das geht selbst in Kuba nicht, wo das kommunistische Experiment ja andauert. Ob das neue China die richtigen Antworten hat, bleibt abzuwarten.

Nach Karl Marx haben auch John M. Keynes und Joseph Schumpeter Krisen des Kapitalismus vorhergesehen. Er hat sie bisher alle überlebt – ja geradezu locker weggesteckt. Der Marxismus dagegen hat einen Schiffbruch der Extra-Klasse hingelegt. DDR und GULAG sind nur zwei markante Beispiele gewesen.

Montag, 11. Mai 2020

Ethik, Moral und Recht als Basis von Wertvorstellungen (von Peter Hiemann)

Wenn mein Freund Peter Hiemann in diesem Blog das Wort ergreift, geht es sehr oft um Gundsätzliches. Beim letzten Mal beschrieb er Denk- und Verhaltensweisen von Menschen in einer Situation, wie sie im Moment von dem Corona-Virus ausgelöst wird.

Der heutige Beitrag befasst sich mit der Frage, welche Rolle Ethik, Moral und Recht bei menschlichen Entscheidungen spielen. Zur Illustration bemüht Hiemann einen Sozialpsychologen (Erich Fromm), eine Dichterin (Marie von Ebner-Eschenbach) und eine Fernsehjournalistin (Katrin Sandmann). Gleichsam als Überraschungsgäste erscheinen Karl Marx und George Soros. Dass man beide für geradezu verwandte Ideen zum Werben bekommt, ist schon erstaunlich. Hiemann verrät auch unbekannte Details über Karl Marx, so etwa seine Aussage, dass die Deutschen die blödeste Nation (engl.: silliest nation) unter dem Sonnenlicht wären, hätten sie nicht ihn (Marx) hervorgebracht. Selbst das kann uns Trierer nicht mit diesem unserem umstrittenen Landsmann versöhnen.

Dieses und viel mehr erfahren Sie, wenn Sie hier klicken. Viel Spaß beim Lesen.

Samstag, 9. Mai 2020

Ende des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren

Am 8. Mai diesen Jahres erinnerten sich mehrere Altersgenossen an die Ereignisse, durch die der Zweite Weltkrieg beendet wurde. Auch ich erhielt einen Anruf einer etwa gleichaltrigen früheren Nachbarstochter, die sich mit mir austauschen wollte. Da ich diese Ereignisse, soweit sie mein Heimatdorf Niederweis betrafen, schriftlich festgehalten hatte, konnte ich den Wunsch erfüllen. Der 8.5.1945 war der Tag, an dem der im fernen Berlin ausgehandelte Waffenstillstandsvertrag in Kraft trat. Die Kampfhandlungen waren bereits gut zwei Monate vorher über meine Heimat im deutsch-luxemburgischen Grenzgebiet hinweg gegangen. Ich zitiere aus dem entsprechenden Band meiner Heimatgeschichte [1].

Abgesehen von einzelnen Angriffen amerikanischer Jagdbomber (so genannter Jabos) wurde unser Dorf nicht unmittelbar in das Kriegsgeschehen einbezogen bis zum Herbst 1944. Im Juli waren die Alliierten an der französischen Atlantikküste gelandet. Bis September hatten sie die deutsch-luxemburgische Grenze erreicht. Das war weniger als 10 km von Niederweis entfernt. Hier legten sie eine Pause ein, um den Nachschub aufzubauen. Für die nächsten sechs Monate lebten die Einwohner des Dorfes in der Frontzone eines Stellungskrieges. Auf den Höhen hinter Echternach, bei Osweiler und Berdorf, hatten die Amerikaner ihre Artillerie aufgestellt. Sie sandten jeden Tag ihre Grüße in Form einiger Granatsalven. Die Dauer des Beschusses hatte zur Folge, dass kaum ein Haus verschont blieb. Nachts schlief man im Kartoffelkeller. Es gab mehrere Tote unter der Zivilbevölkerung, darunter zwei Schulkinder. Kurz vor Weihnachten 1944 gab es nochmals Trubel. Die deutsche Heeresleitung hatte beschlossen, einen Gegenangriff zu wagen. Die Operation erhielt den Namen Ardennen- oder Rundtstedt-Offensive. Der Schwerpunkt des Angriffs lag nämlich etwas nördlich im südlichen Teil Belgiens; der Ober­komman­dierende auf deutscher Seite war der General Gerd von Rundtstedt. Es wurden nicht nur die zurück gewichenen Truppenteile neu formiert, sondern auch zusätzliche Reserven mobilisiert. Bei diesen handelte es sich insbesondere um Hitlerjungen und Volkssturmmänner. Mitte Januar war der Gegenangriff in sich zusammengebrochen.

Der zweite Weltkrieg endete für Niederweis am 27. Februar 1945. Das war der Tag, an dem amerikanische Truppen das Dorf Niederweis in Besitz nahmen. Um die beiden Bunker in der Nähe von Irrel zu umgehen, erfolgte der Vorstoß von Ferschweiler über Holsthum nach Alsdorf. Wie sich später herausstellte, wäre diese Zangenbewegung um die beiden Bunker herum nicht nötig gewesen. Die Besatzung verfügte nämlich kaum über Munition. Die Amerikaner durchsuchten als erstes sämtliche Häuser, während alle Bewohner des Dorfes sich für mehrere Stunden in den Ehrenhof des Schlosses begeben mussten. Danach wurden die bisher auf 50 Häuser verteilten Einwohner in fünf Häuser in der Dorfmitte eingewiesen. So blieb es für drei Wochen. Während einige der Bauernbetriebe recht große Gebäudeschäden reparieren mussten, hatte das Niederweiser Schloss die Kriegswirren relativ unbeschadet überstanden. Amerikanische Soldaten, die nach der Eroberung des Dorfes im Schloss wohnten, haben jedoch das Inventar größtenteils zerstört.

Eindruck der Besatzer

Vergleicht man dieses Geschehen mit dem, was sich anderswo oder auch später bei solchen Gelegenheiten abspielte, muss man die Amis von 1945 als echte Gentlemen bezeichnen. Der Eindruck, den sie auf mich machten, war ausgesprochen positiv. Nicht nur waren sie der Zivilbevölkerung gegenüber rücksichtsvoll, sie waren echt großzügig uns Kindern gegenüber. Meine Mutter, die damals vorübergehend gehbehindert war, bekam einen Stuhl vor unsere Haustür gesetzt, von wo aus sie die Ereignisse im Schlosshof wenigstens im Verlauf verfolgen konnte. In den Tagen danach erhielten mehrere Kinder des Dorfes Kaugummis und Schokolade. Erinnern kann ich mich an einen Afroamerikaner, der sich in angetrunkenem Zustand daneben benahm. Er belästigte eine junge Frau, die mit zu unserer Hausgemeinschaft gehörte. Mein Vater wies ihn zu Recht und er zog von dannen.

Mehr als alles andere beeindruckte mich die Nonchalance, mit der Gerätschaften und Fahrzeuge von den Soldaten behandelt wurden. Die Waffen hingen locker herum. Die Jeeps standen für jede noch so kurze Strecke zur Verfügung, egal ob für einen, zwei oder mehr Mann. Außerdem zogen die GIs Kabel von jedem Ort aus, wo sich jemand aufhielt, und man quasselte ununterbrochen ins Telefon. Als die Amis später von Franzosen und danach von Luxemburgern abgelöst wurden, hatten wir es nicht nur mit einem anderen Menschenschlag zu tun, sondern auch mit primitiverer maschineller Ausstattung und Technik.

Als mir während meines Studiums die Möglichkeit angeboten wurde, in den USA zu studieren, griff ich sofort zu. Als ich nach einem Jahr zurückkam, wunderten sich einige Leute, dass ich überhaupt zurückkehrte. Bei Auswanderern war dies nämlich kein gutes Zeichen. Man war nicht erfolgreich gewesen. Ich erklärte, dass es mir derzeit primär um einen Studienabschluss ginge. Aufgrund meiner Vorgeschichte war dieser in Deutschland für mich viel schneller zu erreichen als in den USA.

Berufliche Re-Orientierung

Das Jahr als Austauschstudent verbrachte ich an der Ohio State University in Columbus, Ohio. Ich war von August 1955 bis Oktober 1956 dort. Für meine berufliche Laufbahn entscheidend wurde ein Programmierkurs für das IBM Rechnersystem 650, den ich in Columbus absolvierte. Er bewirkte, dass mir der Inhaber eines Geodäsie-Lehrstuhls an der Universität Bonn ein Dissertationsthema anbot. Das zunächst recht vage gefasste Thema lautete: ‚Geodätische Ausgleichsrechnungen mittels elektronischer Rechenanlagen‘. Um meine bis dahin rein theoretischen Kenntnisse der Programmierung um praktische Erfahrungen zu ergänzen, bewarb ich mich um eine 6-monatige Praktikantenstelle im IBM 650 Rechenzentrum in Sindelfingen. Nach drei Monaten bot man mir eine Festanstellung an. Aus den sechs Monaten IBM wurden 35 Jahre. Aus dem Geodät wurde ein Informatiker.

Westorientierung oder USA-Verbundenheit

Als Erstes lernte ich, dass das I in IBM nicht als ‚Ei‘ gesprochen werden dürfe. Wir seien hier nicht bei der IBM Schweiz. Die IBM Deutschland sei schließlich die Nachfolgerin der Deutschen Hollerith GmbH. Wie in [2] ausgeführt, war ich zwischen November 1957 und Ende 1960 Mitarbeiter des Bereichs Rechenzentren. Die Einsatzorte waren Sindelfingen und Düsseldorf. Die Jahre von 1961 bis 1992, also 33 Jahre lang, gehörte ich zum Entwicklungsbereich, dessen Hauptsitz auch heute noch das Labor in Böblingen ist.

IBM hat eine Entwicklung vorweg genommen, wie sie heute für Firmen die Amazon, Apple, Google und SAP typisch ist. Nicht ein einzelnes Labor oder eine einzelne Lokation bestimmt den Weg der Firma. Dutzende Labors liefern im Verbund die Kompetenz, die das Unternehmen benötigt. Bis 1989 handelte es sich dabei primär um Lokationen in den USA, Westeuropa, Indien und Japan. Nach 1989 sind Lokationen in Osteuropa, dem Nahen Osten, Südafrika, China und Vietnam dazugekommen. Die Orientierung auf den Westen führte in der Vergangenheit zu einer mehr oder weniger starken USA-Verbundenheit. Diese tritt immer mehr in den Hintergrund. Damit verschwindet auch die Weltordnung, die sich vor 75 Jahren herausbildete.

Neue Vernetzungen

Lange Jahre hieß der Ratschlag, den Firmengründer bekamen, um erfolgreich zu sein, es führe kein Weg an den USA vorbei. Nur dort sei der Markt groß genug, um Neustarter zu tolerieren und zu testen. ‚If you make it there, you‘ll make it everywhere‘. Dieser Satz galt nicht nur für die Unterhaltungsbranche und für New York City. In den letzten Jahren bieten sich immer mehr Alternativen zu einer strikten Orientierung in Richtung USA an. Viele der aus Deutschland stammenden Technologie-Führer haben Partner in Israel oder China. Im Grunde findet ein Reifeprozess statt. Viele Leute fragen, ob dieser Prozess durch Ereignisse wie die Corona-Pandemie beschleunigt oder gehemmt wird.

Referenzen

1. Endres, A.: Geschichten aus der Eifelheimat, Band 1, 2008 (S. 87ff)
2. Endres, A.: Die IBM Laboratorien Böblingen: System-Software-Entwicklung, 2001

Freitag, 1. Mai 2020

Erinnerungen an Gerhard Goos (1937-2020)

Am 20.4.2020 verstarb Gerhard Goos. Er wurde 82 Jahre alt. Den Lesern dieses Blogs war er vertraut durch ein Interview aus dem Jahre 2011. Goos und ich kannten uns seit dem Oktober 1968, als wir beide an der berühmten NATO-Software-Konferenz in Garmisch teilnahmen. Er war Mitarbeiter am Münchner Lehrstuhl von F.L. Bauer, ich war Abteilungsleiter bei IBM in Böblingen. Von da ab trafen wir uns immer wieder.

Unsere Zusammenarbeit erfolgte auf mehreren Ebenen. Häufig, jedoch eher locker waren die Treffen innerhalb der Gesellschaft für Informatik (GI). Lange Zeit leitete ich mit ihm zusammen die Fachgruppe Software Engineering. Die Treffen wurden von uns gemeinsam vorbereitet und durchgeführt. 
 
Sehr intensiv war unsere Zusammenarbeit über 10-15 Jahre hinweg, als wir beide von der Bundesregierung damit betraut waren, den Ausbau der Informatik-Studiengänge in Deutschland flächenmäßig zu verbreitern und finanziell und personalmäßig auf solide Füße zu stellen. Das Projekt nannte sich Überregionales Forschungsprogramm (ÜRF) Informatik. Gerhard Goos leitete das Gremium, das die Regierung hinsichtlich der Mittelvergabe beriet. Ich war sein Stellvertreter.


Eine dritte Ebene der Zusammenarbeit entwickelte sich in gemeinsamen Aktivitäten meines Arbeitgebers, dem IBM Labor Böblingen, und der Universität (damals noch TH) Karlsruhe. Ich verbrachte jedes Jahr 4-6 Arbeitstage in Karlsruhe, meist zusammen mit dem Entwicklungs- und Technikchef der Firma, Prof. Karl Ganzhorn. 

 
Die Kontakte zwischen Goos und mir profitierten davon, dass wir in vielen Dingen ganz ähnliche Einschätzungen und Präferenzen hatten. So gaben wir den Fachkollegen Recht, die sich darum bemühten die Informatik primär technisch und wirtschaftlich weiterzubringen und dabei soziale und politische Ziele nicht ganz außer Acht ließen. Wir hatten nicht selten Übereinstimmung auch in politischen und gesellschaftlichen Fragen, und tauschten uns aus. Lediglich der Sport blieb außen vor. Wie bekannt, war Goos ein sehr aktiver Segler, den es jeden Sommer auf die Ostsee zog. Ich reiste lieber per Flugzeug oder per Kreuzfahrtschiff um die ganze Welt.


Goos 2008 in Sindelfingen

Goos und ich pflegten auch in den letzten 10-15 Jahren weiterhin regen Kontakt. Seine Gattin und er beehrten mich mit ihrer Teilnahme an den Feiern zu meinem 70. und 75. Geburtstag hier in Sindelfingen. Gerne erinnere ich mich an unser Treffen vor einigen Jahren während meines Aufenthalts in Baden-Baden. Mehrmals im Jahr erhielt ich lange Mails aus Karlsruhe oder wir führten ein ausführliches Telefonat.

Ich werde Gerhard Goos wegen seiner stets anregenden Unterhaltungen und seiner zugehenden Art sehr vermissen. Es verbleibt mir die Erinnerung an einen äußerst klugen, vorbildlichen und hochgeschätzten Kollegen.

PS: Hinweisen möchte ich auf die Gedenk-Plattform, wo viele seiner Schüler, Bekannten, Freunde und Kollegen einen Nachruf hinterlassen haben. Es ist der Link:

https://trauerhilfe-stier-karlsruhe.gemeinsam-trauern.net/Begleiten/gerhard-goos/Kerzen