Montag, 18. Mai 2020

Was Karl Marx einst nur erträumte

Ludger Eversmann (*1953) ist ein aus dem Münsterland stammender Wirtschaftsinformatiker, der ein volles Berufsleben als SAP-Berater hinter sich hat. Im Alter von 51 Jahren hat er noch 2004 eine Dissertation vorlegt. Diese war aber – wie er selbst zugibt − zu spät, um ihm noch eine akademische Laufbahn zu eröffnen. Von seinem Buch Die große Digitalmaschinerie (2018, 298 Seiten) erwartete ich mir eine Auseinandersetzung mit aktueller Technik und Wirtschaft. Ich war überrascht, wie sehr selbst Erwachsene noch zu ideologischen Träumereien neigen. Das Buch gibt mir Gelegenheit, eine Reihe von Themen zu adressieren, die in der fachlichen und politischen Diskussion eine Rolle spielen

Marxsche Utopien

Das Buch erinnert an die Utopien, die einst Karl Marx verkündete. Der forderte bekanntlich, dass ‚die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und … eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren‘. [Da ich selbst weder fische noch jage, habe ich umso mehr Zeit, um Kritiken zu schreiben – selbst über Marxisten.] Auch Eversmann sieht eine solche Zukunft als nicht mehr sehr ferne an. Das Smart Home und die universelle Weltfabrik liefern die Voraussetzungen dazu. Ein MIT-Professor namens Neil Gershenfeld forscht auf diesem Gebiet (engl. science of digital fabrication). Auch Japans Shinzo Abe hat auf der auf CeBit 2018 verkündet, dass die digitale Fabrik im Kommen sei, und zwar in der Form einer universalen Weltfabrik.

Rolle der Produktion

Aus Sicht vieler Anhänger von Karl Marx muss die Produktion den Verbrauchern gehören. Jede erfolgreiche Fabrik, die sich in Privathand befindet, würde nach marxistischer Lehre ja unweigerlich zum Monopol führen. Das gilt erst recht von einer digitalen Fabrik, die ja die Tendenz hat zu einer universellen Fabrik zu werden. Im Idealfall lassen sich in ihr alle Produkte herstellen, die jemand braucht, und zwar ab der Losgröße 1. Dabei sind nicht die Kosten und die Perfektion das Entscheidende, sondern die Universalität. Als Beweis dafür, dass sich die Industrie in diese Richtung bewegt, wird ein Patent erwähnt, das die Firma Amazon im April 2017 erteilt bekam. Es handelt sich dabei um eine Maschine zur vollautomatischen Herstellung von Bekleidung.

In der Marxschen Denkweise spielte die Produktion stets die Hauptrolle. Planung, Entwurf, Bewertung und Vertrieb kommen nicht vor. In der heutigen Welt jedoch sind es diese vier Aktivitäten – von Marxisten meist als Design zusammengefasst − die alles entscheidend sind. Für die Produktion bieten sich diverse Lösungen an, die es früher nicht gab, nämlich die Herstellung durch Auslagerung (engl. outsourcing) in ein Billiglohnland oder die Automatisierung. Die zurzeit wertvollste Firma der Welt, Apple, ist ganz diesem neuen Prinzip verpflichtet. Sie hat die Produktion zu 100% nach Asien ausgelagert. Noch fährt sie gut damit. Ikea arbeitet ähnlich.

Natürlich passt diese Entwicklung, zu der auch viele andere Unternehmen gelangt sind, nicht in das Denkschema von Marx und seinen Epigonen. Es soll ja nicht sein, was nicht sein darf. Man überlegt sich daher Alternativen. Auch Eversmann meint, es sei ja die bessere Lösung, wenn die Fertigung dezentralisiert und vom Staat oder Kommunen übernommen würde, und zwar möglichst in der Nähe des Verbrauchs. Am allerbesten wäre es, der Konsument könnte auch die Produktion übernehmen. Dass es etwas wie einen Weltmarkt gibt, den man als Exporteur angehen könnte, scheint nicht in das Weltbild zu passen.

Herkunft und Rolle der Designs

Was weder Karl Marx noch seine Anhänger interessiert, ist die Frage, wo die Designs herkommen. Dass es ohne Design meist auch keine Produktion gibt, wird zwar vielfach anerkannt. Man benutzt auch Bilder wie das der Schaffung des digitalen Zwillings. Nur dass dabei Sozialpartner eine Rolle spielen, passt in kein Schema. Vor allem wird nicht zur Kenntnis genommen, dass da mehr Menschen involviert sein können, als nur die Unternehmens- oder Gründerpersönlichkeiten eines Betriebs. Man könnte demnach den Eindruck gewinnen, dass es bei Firmen wie Apple nur Unternehmer gäbe.

Fehlentwicklungen des Kapitalismus

Der Wertekanon des Westens sei vom Kapitalismus bestimmt. Dass es dem Sozialismus nicht gelang, auf Dauer Fuß zu fassen, wird als Katastrophe angesehen. Der Kapitalismus führe unweigerlich zu einer Zunahme sozialer Ungleichheit. Die aktuelle Ursache dafür sei im Finanzkapitalismus zu finden. Die Unternehmen halten sich mit Investitionen oder Lohnerhöhungen zurück, weil es billige Ostarbeiter gibt. Der Lohndurchschnitt lag 2015 bei 32,6k Euro. Der Journalist Gunther Tichy wirft der EZB davor, sie enteigne Sparer durch ihre Niedrigzinspolitik.

Die Wirtschaft benutzt wenig Fremdkapital, sie basiert vorwiegend auf Eigenfinanzierung. Staaten tilgen kaum Schulden. Sollte es nötig werden, stimulieren sie die Nachfrage mit Helikoptergeld. Das von der Finanzwirtschaft in Form von Derivaten gebundene Geld beträgt das 65-fache der Realwirtschaft. Das Privatvermögen der Bürger entspricht dem 10-fachen der Staatsschulden. Die Neoliberalen treiben die Kosten für staatliche Leistungen nach unten.

Verbliebene Alternativen zum Kapitalismus

Der Philosoph Jürgen Habermas finde, dass die Priesterklasse der Intellektuellen die Wurzeln für gesellschaftliche Alternativen vorwiegend bei Karl Marx sieht. Nur hielten sie den praktizierten Realsozialismus nicht für erstrebenswert.

Maschinen sollten vergesellschaftet werden, damit Kommunisten ein Einkommen haben. Yochai Benkler (Harvard) sieht als Zukunft eine Ökologie mit Commons und Open Source. Die Erstellung von Wikipedia kann als Modell dienen (engl. peer-to-peer production). Das Ideal, das Eversmann vorschwebt, ist eine Produktion am Ort des Verbrauchs, und zwar mittels einer perfekten und universellen Maschine. Dass dies eine digital gesteuerte Maschine ist, versteht sich von selbst.

Es gäbe eine intrinsische sowie eine materielle Motivation, um gesellschaftliche Arbeit zu leisten. Die Allmende, zu der jeder freiwillig Arbeitsleistung beiträgt, sei in Verruf geraten. Sie verursacht Kosten, die von der Gemeinde aufgebracht werden müssten. Dennoch besteht für sie ein selbstreferenzielles Interesse, vor allem in der akademischen Welt.

Ideale Produktion durch Konsumenten selbst

Bei der Firma Henn GmbH in Pleinfeld (bei Nürnberg) hat Eversmann eine sehr optimistische Darstellung der Fabrik der Zukunft gesehen. Es war eine digitale Stadtfabrik, basierend auf einem oder mehreren 3D-Druckern. Wie von Gershenfeld postuliert, muss die Fabrik der Zukunft vollkommen additiv arbeiten. Sie geht von der Nanoebene aus und assembliert alle Produkte, und zwar völlig ohne Abtragen.

Für einen sozialistischen Traum, wie er Eversmann ja vorschwebt, muss diese Maschine in der öffentlicher Hand sein. Als digitale Universalmaschine fabriziert sie alles, was man braucht. Hinzu kommt, dass sie sich in jedem Haushalt befindet. So wie eine Waschmaschine oder Spülmaschine produziert sie für alle Nutzer im Haushalt. Gegenstände wie Blumentöpfe, Fahrräder, Textilien, Schuhwerk, Mobilar, Musik-CDs, Computer oder Rasenmäher brauche man nicht mehr zu kaufen. Damit wäre endlich der Kapitalismus überwunden.

Einige nicht gelöste Probleme hat die Sache. Die erste Frage – die oben bereits anklang − heißt, wo kommen die Designs her. Selbst Open Source Designs sind nicht kostenlos. Wer deckt Lager- und Transportkosten für die Grundmaterialien, die ja bevorratet werden müssen? Da die Wertschöpfung der individuellen Produktion (engl. do-it-yourself production) gering ist, entfällt sie für die übliche Besteuerung. Welche alternativen Quellen der Besteuerung gibt es?

Kurze Diskussion

Dass viele privatisierte Betriebe scheiterten, ist bekannt. Sie betrafen Leistungen zur Infrastruktur, Sozialdienste, Gesundheit, Verkehr und Wohnungen. Man kann diese Dienste der Daseinsfürsorge nicht mit Gebrauchsgütern gleichsetzen. Das geht selbst in Kuba nicht, wo das kommunistische Experiment ja andauert. Ob das neue China die richtigen Antworten hat, bleibt abzuwarten.

Nach Karl Marx haben auch John M. Keynes und Joseph Schumpeter Krisen des Kapitalismus vorhergesehen. Er hat sie bisher alle überlebt – ja geradezu locker weggesteckt. Der Marxismus dagegen hat einen Schiffbruch der Extra-Klasse hingelegt. DDR und GULAG sind nur zwei markante Beispiele gewesen.

4 Kommentare:

  1. Erinnert wird an den Spruch 'Wer mit 20 kein Sozialist ist, hat kein Herz. Wer es mit 40 noch ist, hat keinen Verstand'. Dieser Spruch wird u.a. Georges Clemenceau und Winston Churchill unterschoben.

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  2. Peter Hiemann schrieb: Die Coronaviruskrise verdeutlicht, dass die von Regierungen angeordnete 'soziale Distanz' und Isolation während der Krise von der Bevölkerung nur kurzfristig zu ertragen ist. Langfristige soziale Distanz ist unmenschlich und bewirkt gesundheitliche Schäden, besonders bei Kindern. Bevölkerungen verlangen offene, realistische Einschätzungen aktueller gesellschaftlicher Situationen, um zumindest Missverständnisse zu vermeiden bzw. zu klären.

    Derzeitig häufige Ursache für Missverständnisse ist die Benutzung bedeutungsloser Begriffe und falscher Annahmen. Wer mit einer offenen Einstellung die derzeitigen gesellschaftlichen Situationen in Deutschland, Frankreich, Polen, USA und China im Detail studiert wird feststellen, dass die allgemeinen Begriffe 'Marxismus, 'Kapitalismus', (auch 'soziale Marktwirtschaft'), 'Sozialismus', 'Demokratie' (auch 'Sozialdemokratie') oder 'Diktatur' (auch 'Proletariat') ungeeignet sind, gesellschaftliche Situationen zu erklären. Die Begriffe haben ihre ursprüngliche Bedeutung mehr oder weniger verloren. Tatsächlich wird im 21. Jahrhundert vermittels konkreter, unterschiedlicher Vorstellungen aufgrund unterschiedlicher Regierungssysteme entschieden:

    - Wie gesellschaftliche Institutionen strukturiert und mit welchen Rechten sie ausgestattet werden.
    - Wie Kapital kreiert und wofür es eingesetzt wird.
    - Welche technischen Mittel verfügbar sind und wofür sie genutzt werden.
    - Wie ökonomischen Prozesse organisiert und praktiziert werden.
    - Welche Freiheitsgrade gewährt werden und wie Recht gesprochen wird.

    In einer offenen Gesellschaft ist es unmöglich Vorstellungen zu vermeiden, die Bevölkerungen polarisieren. Man kann zwar versuchen, Polarisierungen 'auszubalancieren' (Kompromisse auszuhandeln). Inwieweit jedoch unterschiedliche Orientierungen und ethische, moralische und rechtliche Grundeinstellungen tatsächlich gesellschaftliche Verhältnisse ändern werden, ist eine 'unendliche', offene Geschichte.

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  3. Ich halte es für besser zu sagen, nicht die Begriffe wie Marxismus, Kapitalismus, Sozialismus, Demokratie usw. haben sich verändert, sondern die Verhältnisse. Nicht da, wo einmal Sozialismus (in welcher Form auch immer) herrschte, ist dies heute auch noch der Fall. Auch im Mutterland der Demokratie kann man Dinge erkennen, die nicht unter den Begriff Demokratie fallen. Es ist nicht zu leugnen, dass die Verhältnisse sich ändern. Um überhaupt noch kommunizieren zu können, sollten wir aber nicht auch die Begriffe laufend ändern.

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  4. Für eine lebende Sprache ist es nichts Ungewöhnliches, wenn sie wächst, d.h. neue Wörter und Begriffe bildet. Die Umdeutung vorhandener Wörter ist eher die Ausnahme. Da gibt es zu leicht Probleme.

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