Donnerstag, 30. August 2012

Wie viel Europa darf es denn sein?

Die Euro-Diskussion führt zwangsläufig zu der Frage, was uns Europa wert ist. Gemeint ist damit, welche Opfer wir Deutsche aufzubringen bereit sind, damit aus der Idee des vereinigten Europas etwas wird. Wenn die Kanzlerin sagt, dass es ihr Ziel ist, jetzt für mehr Europa zu kämpfen, hört sich das nach Entschlossenheit an. Nur ist das Ziel ‚mehr Europa‘ beliebig vage. Deshalb ist die Frage berechtigt, wie viel Europa wir Europäer eigentlich haben möchten.

Ich lasse mich bei den folgenden Betrachtungen davon anregen, was zwei ehemalige Politiker dazu sagen. Beide sind noch nicht so alt, dass sie wie Helmut Schmidt bereits an das politische Vermächtnis denken, welches sie uns einst hinterlassen möchten. Noch sind sie politisch aktiv, so dass sie vor lauter Rücksicht auf die Parteilinie sich nicht trauen, das zu sagen, was sie für richtig halten. Ich meine Friedrich Merz und Wolfgang Clement mit ihrem Buch ‚Was jetzt zu tun ist. Deutschland 2.0‘. Das Buch erschien im Frühjahr 2010, also zu Beginn der Eurokrise.

Ihr Plädoyer lautet: Wir brauchen ein Europa mit gemeinsamer Außen-, Sicherheits-, Wirtschafts-, Finanz-, Energie- und Klimapolitik. Interessant ist, was beide Autoren wegließen. Es kann dies ohne Absicht geschehen sein oder mit Absicht. Für letzteres spricht, dass sie die andern möglichen Themen im ganzen Buch nicht ansprechen. Dazu gehören zwei Bereiche, die heute schon sehr stark von der EU bearbeitet werden, nämlich Landwirtschaft und Forschung. Andere sind erst in der Diskussion oder nicht einmal das. Gemeint sind Industrie-, Verkehrs-, Sozial-, Bildungs-, Kultur-,  und Gesundheitspolitik. Ich will alle Themen kurz beleuchten.

Vornweg noch einmal die Abgrenzung des Begriffs Europa. Wie Thilo Sarrazin sehr treffend sagte, sind es entweder 740, 500 oder 327 Millionen Menschen, nämlich das geografische Europa, die Europäische Union (abgekürzt EU) oder die Euroländer. Wenn nichts anderes gesagt, meine ich die mittlere Zahl.

Außen- und Entwicklungspolitik

Europa hat es noch nicht geschafft, den Willen Henry Kissingers zu erfüllen, und dem US-Präsidenten eine Telefonnummer zu geben, die er in Europa anrufen kann. Zwar haben wir inzwischen eine Art Außenministerin, nur wird kaum ein nicht-europäischer Außenminister sie anrufen. Nicht 700, nein 7000 gut geschulte Brüsseler Beamte werden einmal ihren Zweck darin sehen, noch weniger aufzufallen als ihre derzeitige Chefin. Die Entwicklungsländer müssen sich weiterhin an die einzelnen europäischen Länder wenden, wenn sie Geld haben möchten. Das erste ist wohl ein Manko, das zweite nicht.

Verteidigung, Verbrechen und Migration

Noch sehen die Einzelstaaten Europas ihre Rolle sehr unterschiedlich, wenn es um die Wahrung des Weltfriedens geht. Nur Frankreich und England werden von sich aus aktiv. Mehrere andere Länder engagieren sich von Fall zu Fall in militärischen Aktionen der Völkergemeinschaft. Bei der Abwehr von Terroraktionen und organisiertem Verbrechen gibt es Kooperationen, die nicht-europäische Staaten mit einschließen. Der massenhaften illegalen Einwanderung stehen die am Rande der Union gelegenen Staaten weitgehend allein gegenüber. Hier wäre eine einheitliche Politik erstrebenswert. Da es nicht heißen kann, die ‚Festung Europa‘ für Zuwanderer aus Asien und Afrika dicht zu machen, wird es nicht leicht sein, diese Politik zu formulieren und dann durchzusetzen.

Währung, Finanzen und Steuern

Mit der Währungsunion wurde ein mutiger Schritt getan, dem sich bisher 17 von 27 Ländern anschlossen. Sie war als Vorgriff auf eine stärkere politische Union gedacht. Die derzeitigen Probleme ergaben sich aus einer ungleichmäßigen Entwicklung der Euroländer und einer unterschiedlichen Finanzpolitik. Um die stärkere Koordinierung der Finanzpolitik wird zurzeit gerungen.

Mangels anderer Mechanismen wird Druck auf die EZB ausgeübt, die Finanzmärkte zu beeinflussen und den Bankensektor zu kontrollieren. Da dies die ursprüngliche Aufgabe der EZB – Sicherung der Geldwertstabilität – aufweicht, gibt es Spannungen innerhalb des Währungsverbunds. Auch vergrößern sich die Meinungsunterschiede zu Nicht-Mitgliedern, vor allem zu England. Das betrifft insbesondere alle Maßnahmen, die als Belastungen für den Bankensektor angesehen werden. Der vor allem von Frankreich immer wieder eingebrachte Vorschlag einer Wirtschaftsregierung leidet an einer klaren Aussage, was damit verbunden ist.

Sehr kontrovers wird die Frage diskutiert, ob ein Land mittels niedriger Steuern Wettbewerbsdruck ausüben darf. Ein Beispiel ist die Slowakei. Es ist nichts anderes als das, was andere Länder mittels verbilligter Grundstücke oder temporärer Subventionen tun. Ohne dies hätte der keltische Frühling in Irland nicht stattgefunden.

Wirtschaft und Technologie

Wirtschaftssteuerung, wie sie von Frankreich verstanden wird, bedeutet, dass der Staat starken Einfluss auf die Unternehmen nimmt. Es besteht die Befürchtung, dass dies langfristig die Konkurrenzfähigkeit einzelner Länder beeinträchtigt. Da die deutsche Wirtschaft – vor allem der Mittelstand – sich stärker am Weltmarkt misst als die anderer Euroländer, sieht man hier eine Gefahr. Die meisten Konjunkturmaßnahmen haben den Nachteil, dass sie die bereits sehr hohe Staatsverschuldung noch erhöhen.

Der wirtschaftliche Erfolg ergibt sich fast nur durch die Ausnutzung moderner Technologien. Ausnahmen sind Innovationen (oder auch altbekannte Tricks) finanzieller Art. In Europa konnten vor allem die Schweiz und Luxemburg damit punkten. Manche neuen Technologien sind so, dass einzelne Firmen sich leicht überfordert fühlen, die zu ihrer Umsetzung notwendigen Investitionen zu betreiben. Für manche dieser Themen braucht man nicht einmal nach dem Staat zu rufen. Im Gegenteil: Es erfordert sehr viel Mut, nicht die Hand aufzuhalten. Einige, die es nicht taten, stehen heute sehr gut da, etwa SAP. Andere, die sich massiv fördern ließen, haben ihre einschlägische Potenz längst verloren, so AEG/Telefunken und Siemens.

Energie und Klima

Beides sind Themen, bei denen eine gemeinsame europäische Politik eindeutige Vorteile hätte. Da bei der Atomenergie noch sehr unterschiedliche Meinungen herrschen, ist man von einer gemeinsamen Planung weit entfernt. Bei der Sicherung von Öl- und Gasimporten gibt es erste Ansätze, Es überwiegen noch die Maßnahmen der einzelnen Länder. Ein Beispiel ist die Gas-Pipeline durch die Ostsee. Selbst die mögliche Kooperation mit afrikanischen Ländern wird nur sehr zögerlich in Angriff genommen (Bsp. Projekt DeserTec).

Bei der Klimapolitik gelang die Festsetzung einheitlicher Abgasnormen. Die Maßnahmen zur Einführung von Elektroautos beschränken sich auf nationale Initiativen, obwohl hier grenzübergreifende Systeme unabdinglich sind.

Landwirtschaft und Verbraucherschutz

Die Landwirtschaft ist der Bereich, in dem sich die EU, also die Vereinigung der 27 Staaten, schon sehr lange und sehr intensiv eingemischt hat. Sie hat den Markt vollständisch reguliert. Für keinen Bereich wird mehr Geld ausgegeben. Niemand erwartet, dass eine Steigerung möglich oder sinnvoll ist. Das finanzielle Engagement der EU wird langfristig zurückgefahren. Lange galt der Grundsatz ‚Wachsen oder Weichen‘, d.h. es sollte die Lebensfähigkeit von Betrieben durch Konsolidierung gesichert werden. Hier sind einerseits Grenzen erreicht, andererseits hatten die nach 1990 hinzugekommenen osteuropäischen Betriebe dieses Problem nicht. Außerdem gerät Europa durch seine Fördermaßnahmen immer mehr in Konflikt mit den Entwicklungsländern. Sie sehen jede aktive Politik als gegen sie gerichtet an, was ursprünglich nicht der Fall war. Das gilt auch für die Förderung von Biosprit, also den Anbau von Soja und Mais.

Forschung und Wissenschaft

Obwohl Wissenschaft und Forschung nur dort Früchte tragen können, wo eine entsprechende personelle Basis vorhanden ist, wird von der EU ein starkes finanzielles Engagement gefordert. Manchmal erscheint dies dann als eine Form von Entwicklungspolitik für einzelne Regionen. So ist bekannt, dass Förderanträge aus Deutschland nur dann eine Chance haben, wenn auf dem Antrag akademische Partner aus Kreta, Slowenien oder Zypern aufgeführt sind.

Diejenigen, die Milliarden an Forschungsinvestitionen zu verantworten haben, werden sicherlich keine Schwierigkeiten haben, auf Erfolge hinzuweisen. Trotzdem hatten einige Programme der EU den Geruch, dass unter dem Mantel der wissenschaftlichen Forschung Industriepolitik, ja Protektionismus betrieben wurde. IBM, Microsoft, Google, Apple und andere im Markt erfolgreiche Firmen mussten annehmen, dass gewisse Programme – wenn auch verhohlen – gegen sie gerichtet waren. Nicht nur wurden Aufholjagden finanziert (wie bei Theseus und Galileo), manchmal wurde auch der Verbraucherschutz als Waffe ins Feld geführt.

Die EU könnte dazu beitragen, dass neue Technologien sehr offen diskutiert werden. Vielleicht ließen sich dadurch Ängste und Vorurteile leichter überwinden. Beispiele sind die Nano- und die Gentechnik, sowie die Stammzellenforschung.

Industrie- und Verkehrspolitik

Normalerweise ist die Industriepolitik ein Unterthema der Wirtschaftspolitik. Da der Sektor Landwirtschaft in der EU eine besondere Aufmerksamkeit bekam, sollte hier die Industrie eigens erwähnt werden. Es gibt in der Tat große staatlich gehätschelte Firmen wie Airbus, für die zwar nicht die EU-Kommission sondern die deutsche Bundeskanzlerin und der französische Präsident in China vorstellig werden. Nachdem große Mengen von Steuergeld investiert worden waren, hat man eine Phase erreicht, in der man fast mit dem Platzhirsch Boeing konkurrieren kann. Nicht der Fall ist es bei den Raumfahrt-Projekten oder bei den Navigationssystemen. Hier ist der Staat engagiert mit dem Argument, dass die amerikanischen Firmen auch nicht ohne staatliche Hilfe so stark geworden wären. Über fehlgeschlagene Projekte, also über versunkene Milliarden, etwa in der Informationstechnik redet man am liebsten nicht mehr.

Der Verkehr gehört eindeutig zu den Bereichen, wo durch die Zusammenarbeit in Europa Vorteile zu erzielen sind. Zum Glück hatten sich alle Länder Europas außer Russland schon frühzeitig auf die Spurweite 1432 mm geeinigt. Dennoch kostete es enorme Beträge ehe der von Siemens gebaute ICE nach Paris und der von Alstom gebaute ‚Train à Grande Vitesse‘ (TGV) bis nach Stuttgart fahren konnten.

Die EU macht sich kaum Gedanken darum, wie man den Bau von Luft-, Raum-, Schienen- oder Straßenfahrzeugen oder andern Geräten und Produkten vereinfachen könnte. Im Gegenteil, sie macht fast nur von sich reden, wenn sie neue Auflagen erfindet, sei es im technischen oder im sozialen Bereich. Sie hat höllische Angst, in den Ruf zu geraten, dass sie industrie-freundlich sei. Dass dies auch für die Verbraucher von Vorteil sein könnte, wird verheimlicht.

Sozial-  und Gesellschaftspolitik

Da immer wieder sozialistische Parteien in den Ländern Europas an die Macht kamen, ist es nicht verwunderlich, dass der Ruf nach einem sozial-aktiven Europa laut wurde. Mit unterschiedlichem Erfolg wurde versucht, soziale Errungenschaften, die in einem Land mühsam erkämpft worden waren, per EU-Kommission allen Ländern zu Gute kommen zu lassen. Beispiele sind Regelung der Wochen- und Lebensarbeitszeit, Mindestlohn, Kündigungsschutz, Gleichstellung von Frauen und Männern, Diskriminierung von Behinderten. Es wird argumentiert, dass dies die Wettbewerbsfähigkeit einzelner Länder beeinflusse und dass darum alle sich dieselben Lasten auflegen müssten. Nach meiner Meinung ist dies ein Bereich, wo jede zusätzliche EU-Richtlinie eher schädlich als nützlich ist.

Gesundheits- und Drogenpolitik

Die Frage, ob alle Bürger hinreichende Vorsorge für den Krankheitsfall treffen, wird oft als Teil der Sozialpolitik angesehen. Die Kämpfe, die demokratische Präsidenten in den USA in diesem Punkte austragen, belegen, dass es sehr unterschiedliche Auffassungen geben kann. Es macht wenig Sinn, hier EU-weite Standards zu erzwingen. Dass die Versicherungsleistungen im Krankheitsfalle auch außerhalb des eigenen Landes in Anspruch genommen werden können, würde den Austausch von Arbeitskräften im gemeinsamen Markt fördern.

Über den wirtschaftlichen Schaden, der durch Drogenkonsum verursacht wird, wird anderswo mehr geredet als in Deutschland. Bei uns spielen z.B. das Rauchen und  der Alkoholkonsum eine zwielichtige Rolle. Mal werden mutige Beschlüsse gefasst, wie in Bayern, die dann durch Volksbefragung korrigiert werden. Es ist leicht vorzustellen, wie sich der Bekanntheitsgrad europäischer Institutionen steigern ließe, wenn sie sich mit den Raucher- und Alkoholthemen exponieren würden. Sinnvoll ist es nicht.

Bildungs-, Sport- und Kulturpolitik

In der föderalen Bundesrepublik ist Bildung und Kultur Ländersache. Längst nicht alle Bürger sehen dies als ideal an. Als Folge schaltet sich der Bund ein, wo das Gefühl besteht, dass die Länder zu wenig tun, oder sich nicht dazu in der Lage fühlen. Beispiele sind Bafög und Exzellenz-Initiativen. Immer wieder wird ein bundeseinheitliches Abitur gefordert. Für die Durchlässigkeit und Vergleichbarkeit von Studiengängen steht der Name Bologna-Prozess. Nicht alle Betroffenen fühlen sich von dieser Anpassungsanstrengung beglückt. Ob sie – wie erhofft –  der Wirtschaft zu Gute kommt, muss sich noch herausstellen.

Sicherlich lässt sich im Sport auch damit argumentieren, dass die Chancen mit China, Russland und den USA im olympischen Medaillenspiegel gleichzuziehen, verbessern ließen, gäbe es eine europäische Sportförderung.

Generelle Beobachtungen

Die Mehrheit der Europäer hofft,  ̶  davon bin ich überzeugt  ̶  dass Europa ein Staatenbund bleibt und kein Bundesstaat wird. Im Staatenbund behalten die Staaten ihre Souveränität, um die sich das Bundesverfassungsgericht so sehr besorgt zeigt.

Schon jetzt gibt es unterschiedliche Geschwindigkeiten, mit denen das Zusammenwachsen erfolgt. In der EU, aber nicht im Euroland sind Länder wie England, Schweden und Tschechien. So ist in England die Bereitschaft, Rechte an Brüssel abzutreten, nicht sehr stark ausgeprägt. Die offizielle Politik bringt dies verschieden stark zum Ausdruck, je nachdem ob gerade Konservative oder Sozialisten die Regierung stellen.

In fast jedem Land gibt es Separatistenbewegungen, die mehr lokale Autonomie anstreben. In Frankreich sind es die Korsen, in Spanien die Basken, in Großbritannien die Schotten und Waliser, in Belgien die Wallonen. Es wird daher eine gleichzeitige Regionalisierung und Zentralisierung erforderlich sein. Oder anders gesagt: Es muss über die optimale Allokation von Verantwortungen innerhalb einer mehrstufigen Hierarchie laufend nachgedacht werden. Je weiter unten eine Aufgabe gelöst werden kann, umso besser. Subsidiarität heißt der Fachausdruck. Dabei dürfen einige wenige überlappemde, d.h. konkurrierende Verantwortlichkeiten durchaus zulässig sein.

Wenn die Dinge nicht von allen 27 oder 17 Ländern gleichzeitig in Angriff genommen werden, könnten kleinere Gruppen vorpreschen. Merz und Clement meinen, dass Frankreich und Deutschland dies tun sollten. Dazu zwei Ergänzungen: Das wurde geschrieben, als Merkel und Sarkozy (auch als Merkozy abgekürzt) noch die erste Geige in Europas Medien spielten. Außerdem wurden – wie es deutschen Politikern allzu gerne unterläuft – mehrere kleine Länder übersehen, etwa die Benelux-Länder, die noch europäischer gesinnt sind als Deutschland und Frankreich. Jedes Vorpreschen einzelner Länder hat unter anderem den Nachteil, dass die Frage nach der demokratischen Legitimierung aufgeworfen wird. So wird es als Problem angesehen, dass es kein Parlament nur für das Euroland gibt.

Als letzten Gedanken: Es ist auch nicht nötig, Europa gegen die USA in Stellung zu bringen. Das war nie sinnvoll und nie zeitgemäß. Europa schadet sich damit nur selbst. Zu behaupten, die europäische Kultur sei der amerikanischen oder gar allen andern überlegen, ist lediglich ein Zeichen von Unkenntnis, wenn nicht von Borniertheit.

Nach meiner Meinung sollten wir nur da mehr Europa fordern, wo es einen Mehrwert darstellt. Ökonomen sprechen von Skaleneffekten (engl. economies of scale) immer da, wo große Zahlen die Stückkosten reduzieren. Dieser Beitrag soll anregen, über solche Dinge nachzudenken. Der Beitrag von Martin Walser in der FAZ vom 20. August belegt, – besser als ich es tun könnte – dass die ökonomische Herangehensweise nicht die einzig mögliche ist. Man sollte sie jedoch nicht zu sehr vernachlässigen.

Samstag, 25. August 2012

Folgen der Finanzkrise und deren Überwindung – deutsch-französisches Grübeln

Lohn- und Rentenkürzungen, Anstieg der Wochen- und Lebensarbeitszeit, Zunahme von Zeitverträgen und Leiharbeitern, Auflockerung des Kündigungsschutzes, Erhöhung der Verbrauchssteuern und der Konventionalstrafen, Reduzierung des öffentlichen Dienstes und des Staatsbesitzes, usw. Das war nicht im 19. Jahrhundert, sondern es sind Nachrichten aus diesem Jahr. Jedem Gewerkschaftler, jedem Sozialdemokraten, aber auch vielen andern Menschen kommt diese Liste wie ein geballter Angriff auf alle sozialen Errungenschaften der Neuzeit vor. Wenn dann noch von einer Steigerung der Unternehmensgewinne, Konzentration von Besitz und Vermögen, Verschärfung der sozialen Ungleichgewichte usw. die Rede ist, hat man das Gefühl, dass die gesamte soziale Bewegung nur noch eines kennt: Rückzug!

Ich will nicht versuchen zu klären, wie weit dieser Eindruck richtig ist, d.h. wie schlimm es wirklich ist. Weltweite Aktionen haben sich als Protest gegen die Verursacher und die Folgen der Krise artikuliert. Protest ist nicht nur das, was auf die Barrikaden geht, oder – um es etwas friedlicher auszudrücken – sich lautstark auf der Straße zu Wort meldet. Nur gegen die angeblichen Verursacher zu protestieren, hilft uns auch nicht allzu viel weiter. Viel wichtiger ist es, gangbare Ideen zu finden und unter das Volk zu bringen, die uns helfen die Folgen der Krise zu verstehen und zu überwinden.

International tätig, und bezüglich Form und Inhalt des Protestes neuartig, ist die ‚Occupy‘-Bewegung. Die ursprünglichen Proteste in New York richteten sich gegen soziale Ungleichheiten, Spekulationsgeschäfte von Banken und den Einfluss der Wirtschaft auf die Politik. In Europa kritisierten ihre Protagonisten unter anderem, dass Mittel des Staates statt für die Wohlfahrt der Massen für die Rettung großer Banken ‚missbraucht‘ wurden. Wären die Banken alle verstaatlicht, brauchte man sie nicht mehr zu retten. Alle Politiker wären dann nämlich Banker. Eine sehr beunruhigende Erfahrung in der Finanzkrise war, dass die staatlich kontrollierten Banken Deutschlands, so die WestLB oder die Bayrische Landesbank, sich am verrücktesten aufgeführt hatten. Sie benötigten alsbald auch ihre Milliarden und bekamen sie ohne viel Gerede. Nur die EU-Kommission meinte, man solle diese Subventionierung nicht übertreiben. Das sei unfair andern Ländern gegenüber, die keine oder weniger Staatsbanken hätten. Die bisherige Wall Street arbeitete jedenfalls unbeeindruckt weiter, ebenso die europäischen Bankzentralen. In Frankfurt waren die Besetzer des Bankenviertels am Ende nur noch Stadtstreicher und Obdachlose.

In Europa sind die Auswirkungen der Krise besonders in den Ländern der Peripherie und des Südens zu spüren. Sehr hart getroffen sind Griechenland, Portugal, Estland, Irland, Spanien und Italien. Frankreich und Deutschland sind relativ gut davon gekommen. Deutschlands Steuereinnahmen liegen dieses Jahr bereits fast 10 Mrd. Euro über den Erwartungen.

Da auch in Deutschland soziale Auswirkungen befürchtet werden, äußerte sich der DGB-Vorsitzende Michael Sommer mehrmals mit einer sehr pauschalen Kritik der derzeitigen Regierung. Er fordert eine Reichensteuer und Zwangsanleihen sowie verstärkte Investitionen,  ̶  nach der von Keynes vorgeschlagenen Manier  ̶  durch zusätzliche Schulden finanziert. Er fand dabei relativ wenig Unterstützer. Die Links-Partei haut zwar laufend in dieselbe Kerbe. Der DGB hütet sich jedoch davor, mit ihr in Verbindung gebracht zu werden. Frank Bsirske von der Gewerkschaft Verdi hat es geschafft, zusammen mit attac, dem Vorläufer der ‚Occupy‘-Bewegung, und den Sozialverbänden, ein Manifest zu veröffentlichen. Darin wiederholt er die Forderungen des DGB. Das war es dann auch. Alle andern Gewerkschaften (Metall, Chemie, Bau) hüllen sich in Schweigen. Die Parteien äußern sich kaum zu den möglichen Folgen der Krise, einschließlich SPD und der Grünen. Die Piraten, eine ganz moderne Ein-Thema-Partei, hat sich mit der Finanzkrise noch gar nicht beschäftigt.

In Frankreich hat die Linke gerade eine Wahl gewonnen. Die Gewerkschaften sind deshalb recht friedlich. Nur ein Häuflein linker Intellektueller meldete sich zu Wort. Sie veröffentlichten im Jahre 2011 ein Manifeste d'économistes atterrés. Dabei heißt ‚atterré‘ nicht beerdigt  ̶  und daher von den Toten auferstanden  ̶  sondern niedergeschmettert und bestürzt. Auf das Dokument wies mich ein in Frankreich wohnender Kollege hin. Der Sprecher der Autorengruppe ist Philippe Askenazy, ein Direktor bei der staatlichen Forschungseinrichtung CNRS in Paris. In dem Manifest feiern alle bekannten sozialistischen Forderungen eine Wiederauferstehung, dieses Mal als Lösungskonzept heutiger Probleme. Die Autoren bezweifeln, 
 
…dass Finanzmärkte überhaupt effizient sind; dass sie zum Wirtschaftswachstum beitragen; dass Finanzmärkte die Kreditwürdigkeit von Staaten korrekt einschätzen können; dass der Anstieg der Staatsverschuldung von übermäßigen Ausgaben herkommt; dass die Staatsausgaben deshalb begrenzt werden müssen, um die Staatsverschuldung zu senken; dass letztere die Last unserer angeblichen wirtschaftlichen "Maßlosigkeit", des Konsums, auf spätere Generationen verschiebt; dass man die Finanzmärkte "beruhigen" muss, um die Staatsverschuldung zu finanzieren; dass die EU das europäische Sozialmodell schützt.

Auf dem Umweg über Englisch wurde eine Übersetzung ins Deutsche verfertigt. Es ist möglich, dass diese jetzt in deutschen politischen Kreisen kursiert. Ein mir bisher unbekannter Professor Heinz-Josef Bontrup aus Recklinghausen hat dazu ein Vorwort verfasst. Darin zitiert er Karl Marx mit dem Satz: ‚Je ein Kapitalist schlägt viele andere tot‘, und fügt hinzu ‚wenn man ihn denn lässt‘. Er fährt fort:

Deshalb gehören dem Kapitalismus wieder gewisse Leitplanken gezogen. Willfährige Politiker haben sie in den letzten Jahren eine nach der anderen abgebaut, damit sich der Raubtierkapitalismus auch querbeet austoben kann. Genutzt hat es bekanntlich nur Wenigen. Diese Leitplanken müssen noch irgendwo herumstehen und können wieder eingebaut werden. Zusätzlich gehören ergänzende weitere Regeln und Gesetze verabschiedet und unabhängige Kontrolleure ins Werk gesetzt, die deren Einhaltung überwachen.

Zu den von ihm vorgeschlagenen Maßnahmen gehören: Höhere Löhne fordern,  Arbeitszeit verkürzen, mehr Sozialleistungen bieten, Staatsquote erhöhen, Exporte freiwillig reduzieren, noch mehr Schulden machen sowie mehr Transfers versprechen. 

Ein sehr verdienter französischer Sozialist, Hubert Védrine, hat sich auch des Themas angenommen. Sein Dokumentarfilm von 2011, der an Al Gores Film von 2006 erinnert, trägt einiges Material zusammen, das die Zuschauer aufrütteln soll. Er sieht die Schuld für die Misere bei Milton Freeman in Chicago und seinen Epigonen Margareth Thatcher und Ronald Reagan. Mitterand hätte sich dem weltweiten politischen Trend noch entgegengesetzt, Sarkozy und Merkel nicht mehr.

Er erinnert daran, dass die G20 gegründet wurde, um die Finanzkrise zu meistern. Es handelte sich nämlich nicht nur um eine regionale Krise, etwa die des Eurolands, sondern eine weltweite Krise, die vom Bankensektor ausgehend, zentrale Funktionen der Weltwirtschaft beeinträchtigt. Es folgte eine massive öffentliche Verschuldung zur Lösung der privaten Verschuldung. Man wollte eine Wiederherstellung des Wachstums erreichen, schaffte es aber nicht. Selbst Alan Greenspan habe eingesehen, dass er zu sehr auf die selbstregulierenden Kräfte des Marktes gesetzt hätte. [Hier möchte ich einfügen: Offensichtlich richtet der Markt sich auch nicht allzusehr nach den Worten von Journalisten, Ökonomen und Politikern. Vielleicht ist das sogar gut so]

Die Kooperation mit den Entwicklungsländern wird sich als sehr schwierig erweisen. Alles, was wir im Westen tun, um unsere Wirtschaft zu sanieren oder zu fördern, wird von ihnen als Bedrohung empfunden. Es geht also nur über langwierige Verhandlungen. Obwohl Védrine in seiner Zeit als Außenminister mitbekommen hat, wie strapazierend diese sein können, rät er dennoch zur Fortsetzung der Auseinandersetzung mit Mitteln der Diplomatie.

Sehr konkrete Lösungsansätze hat auch er nicht. Er weist jedoch darauf hin, dass das Schwächeln unserer Wirtschaft und unserer Währungen nur eines der Probleme ist, mit denen wir konfrontiert sind. Überbevölkerung, Klimawandel, und Beschränktheit der fossilen Energien überlagern alles, was wir tun. Dafür gibt es nur gemeinsam von allen Völkern zu erarbeitende Lösungen. Védrine verwendet dafür ein sehr anschauliches Bild. Die Länder der Erde verfügen nicht mehr über eigene Boote, sondern nur über Kabinen auf einem gemeinsamen Schiff.

Trotz allem sieht Védrine einen schwachen Hoffnungsschimmer. Er glaubt, dass die Wachstumsrate der Weltbevölkerung überschätzt wird. Er sieht nicht ausgeschöpftes Potential in der Agrartechnik (z.B. höhere Erträge durch neue Getreidesorten) und noch nicht erschlossene Energiequellen (Ölgewinnung und Kohlendioxydabbau durch Algen). Die Solarenergie könnte zur massenhaften Versorgung der Entwicklungsländer heranreifen. Er regt an, gezielt das Gespräch zwischen Experten auf der ganzen Welt zu suchen.

Einige Gedanken am Rande

Wenn immer es irgendwo Schwierigkeiten gibt, tauchen außer ernsthaften Ratgebern plötzlich auch jede Menge Besserwisser auf. Verdächtig sind mir besonders die, die dann genau die Mittel wieder anpreisen, die sie schon früher anpriesen und die damals auch nicht halfen.

Um Elektrizität einzuführen oder das Zähneputzen populär zu machen, muss man weder die Gesellschaft umkrempeln noch die Menschen verändern. Das ist eine schlechte Nachricht für Berufsrevolutionäre. Von ihnen zu verlangen, die Dinge zu differenzieren, also genauer zu zielen, sehen sie als Zumutung an. In dieser Hinsicht besteht kein Unterschied, ob sie grüne, rote oder schwarze Fahnen schwenken oder Uniformen tragen.

Die Demokratien sind darauf angewiesen, dass Alternativen entwickelt werden. Diese müssen in der öffentlichen Diskussion auf ihre möglichen Vor- und Nachteile untersucht und abgewogen werden. Sie im Experiment auszutesten, geht in den seltensten Fällen. Sollten wir wirklich eine Mehrheit davon überzeugen können, welche Lösung die beste ist, d.h. die am wenigsten schlechte, dann müssen sich noch Politiker finden, die diese Lösung umsetzen. Es sind oft verschiedene Leute, die gerne analysieren, gerne reden, oder gerne etwas tun.

Donnerstag, 23. August 2012

Kranker Mann am Potomac?

So oder so ähnlich wird einer der nächsten zehn Buchtitel über die USA lauten. Das Buch von Josef Braml Der amerikanische Patient, das dieses Jahr erschien, greift da schon mal vor. Nach mehreren Beiträgen in diesem Blog über die Eurokrise sollte man die Schieflage der USA nicht außer Acht lassen. Die USA sind höher verschuldet als alle Euroländer zusammen. Dennoch ist die Situation eine ganz andere. Ruft der Titel von Braml nur Assoziationen mit dem Spielfilm Der englische Patient von 1996 hervor, so greift mein Titel über 120 Jahre zurück. Der osmanische Sultan galt damals als der ‚Kranke Mann am Bosporus‘. Er musste um 1890 mit ansehen, wie sein Reich an Einfluss verlor, und neue Mächte wie England, Deutschland, Frankreich, Österreich  und Russland in die dadurch entstandene Lücke vordrangen. Die historischen Dimensionen des in den USA anstehenden Wandels erinnern schon eher an den Untergang einer Weltmacht als an den Fieberanfall eines einzelnen Patienten.

In unserer Generation, also seit dem Zweiten Weltkrieg, nahmen die USA für die gesamte Welt eine Ordnungsfunktion wahr. Sie boten Sicherheit, offenen Handel und eine Leitwährung. Dafür erhielten sie Anerkennung, Respekt und – schon etwas seltener – auch Sympathie. Nach Braml sind die USA gerade dabei diese Rolle aufzugeben bzw. zu verlieren. Da dies die berühmten Spatzen längst von allen Dächern pfeifen, fragt man sich, was man an besonderen Einsichten gewinnt, wenn man dieses Buch liest. Da es weniger als 170 Seiten hat, hält sich der benötigte Zeitaufwand im Rahmen. Da es, je nach Vorkenntnis, andere Dinge sind, die einem neu sind, lohnt sich daher die Lektüre. Im Folgenden wird im Wesentlichen die Sicht Bramls wiedergegeben, hin und wieder ergänzt durch eigene Beobachtungen.

Primäre Krankheitssymptome

Aus Sicht dieses Arztes sind es mehrere Symptome, die gleichzeitig auftreten. Es ist daher schwer, wenn nicht unmöglich, eine bestimmte Erkrankung zu diagnostizieren. Er lässt daher mehrere Möglichkeiten zu. Ganz eindeutig sind die Stress-Symptome. Sie sind Folge zweier gerade verlorener Kriege, dem im Irak und dem in Afghanistan. Die Verluste, sowohl in Geld wie im Blutzoll, sind exorbitant. Die finanziellen Kosten belaufen sich auf über zwei Billionen, also 2000 Milliarden US-Dollar. Die Zahl der Kriegstoten nur auf amerikanischer Seite betrug etwa 6.000. Ein Vielfaches davon ist körperlich oder mental als Kriegsverletzter anzusehen.

Die finanzielle Erschöpfung und Atemlosigkeit wird deshalb umso weniger verkraftbar, weil die Wirtschaft aus dem Tritt geraten ist. Dafür sind langfristige und kurzfristige Veränderungen des Landes oder des Umfelds schuld. Nur ein Teil davon ist hausgemacht. Ein Großteil wird von außen verursacht. Die Wirtschaft ist immer weniger sich selbst genügend, also autark. Ein Kraftprotz erlebt, dass auch er Grenzen hat. Gelenkschmerzen, ja Schwindelgefühle soll er haben. Ganz deutlich sind die Anzeichen einer gewissen Depression.

Finanz- und Währungssituation

Die Staatsverschuldung der USA hat einen Umfang erreicht, dass an deren Tilgung nicht mehr zu denken ist. Das Haushaltsdefizit beträgt 1300 Mrd. US$ allein für den Bund, oder 90% des BIP. Dazu kommt vermutlich der gleiche Betrag für die Bundesstaaten und die Kommunen.

Anstatt einen Sparkurs einzuschlagen, wie dies einige deutsche und nordeuropäische Regierungsmitglieder ihren Partnern in der EU raten, verfolgt die Fed, die amerikanische Notenbank, seit den Zeiten von Alan Greenspan einen rein expansiven Kurs. Sein Nachfolger Ben Benarke ist bekennender Keynes-Anhänger. Seine Geldpolitik bekam den Namen 'quantitative easing' (auf Deutsch: Erleichterung durch mengenmäßige Steuerung). Der Zinssatz der Fed liegt um oder unter 0,25%. Außerdem kauft sie Schrottpapiere auf, ohne zu zögern.

Niemand muss jedoch die Sorge haben, dass die USA irgendwann ihre Zahlungsfähigkeit verlieren, also pleitegehen. Der einzige Ausweg für die USA ist die Inflation. Dazu wird es mit Sicherheit kommen, aber nur sehr langsam. Der Grund hierfür ist die Tatsache, dass der Dollar als Leitwährung den Wert zu vieler Vermögen auf der ganzen Welt bestimmt. Alle Ölscheichs und autokratischen Herrscher dieser Welt würden ärmer, verlöre der US-Dollar an Wert. Die Kehrseite davon ist: Wer immer Dollar kauft, hilft den Bürgern der USA weiterhin über ihre Verhältnisse zu leben. Sie bekommen Importe, selbst aus Entwicklungsländern, zu Vorzugspreisen. Die im Klappentext des Buches gestellte Frage 'Was passiert, wenn Amerika pleitegeht?' ist unsinnig. Sie wird auch im ganzen Buch nirgends adressiert, und zwar mit Recht.

Struktur der Wirtschaft

Der amerikanische Wirtschaftsraum ist im Vergleich zu andern Ländern enorm groß. Es besteht daher kein Zwang zum Export, etwa wie in Deutschland. Als Folge davon wird die Wirtschaft primär durch den inländischen Konsum bestimmt. An der Kasse von Macy’s, einer Einzelhandelskette so wie Aldi, konnte man feststellen, wie es der Weltwirtschaft geht. Die Kauflust amerikanischer Hausfrauen war daher das beste Konjunkturbarometer.

Kam es zu Krisen, waren es – laut Braml – immer zwei Branchen, die früher als Zugpferde halfen, aus der Krise herauszukommen: Automobil und Immobilien. Allein an Immobilien hänge Dreiviertel der Wirtschaft. In der augenblicklichen Krise seien beide Branchen, also Automobil und Immobilien, Teil des Problems. Schon länger ist es besonders uns Deutschen aufgefallen, dass amerikanische Autos ihre Attraktivität verloren haben. Deshalb bauten Honda, Toyota, BMW und Mercedes eine Fabrik nach der andern in den USA. Mit schuld am Verschwinden amerikanischer Autos sind die gestiegenen Benzinpreise.

Da die Abhängigkeit der Wirtschaft und der Haushalte vom Öl in Amerika fast unverändert hoch ist, ergab sich daraus eine hohe Belastung der Handelsbilanz. Da die eigenen Vorräte aufgebraucht sind, musste immer mehr Öl importiert werden, und zwar zu steigenden Preisen. Welchen Einfluss dies auf die Außenpolitik hatte und hat, werde ich später kurz andeuten. Die inneramerikanische und gesellschaftliche Auswirkung sei auch nur angedeutet. Teure Benzinpreise reduzieren die früher sehr starke Mobilität der Amerikaner. Das hat Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt und die Stadtarchitektur.

Das Thema Immobilienmarkt möchte ich ganz überspringen. Generell ist festzuhalten, dass die USA bereit waren, in großem Umfang die Wertschöpfung durch Produktion aufzugeben zugunsten von Dienstleistungen. In einem früheren Beitrag habe ich am Beispiel des mit 625 Mrd. US$ teuersten Unternehmens der Welt, der Firma Apple, gezeigt, welche Rolle die USA-Mutter noch spielt. Das ist nur eines von hunderten von Beispielen.

Für die Wirtschaft der USA ist zwar die Landwirtschaft nur noch von marginaler Bedeutung. Für die amerikanische Politik ist es jedoch anders – wie wir gleich sehen werden. Auch für die Welternährung und die Nahrungsmittelpreise ist sie nicht vernachlässigbar. Deshalb erfährt die aktuelle Trockenperiode große Aufmerksamkeit, reduzieren sich dadurch nämlich Mais- und Weizenernten.

Bevölkerungsstruktur

Die USA waren stets attraktiv für unternehmungslustige Individuen auf der ganzen Welt. In den letzten zehn Jahren stieg die Einwanderung fast kontinuierlich. Die Herkunft verschob sich immer mehr in Richtung spanischsprechender Mittel- und Südamerikaner. Der Bildungsgrad nahm ab. Schwarze Amerikaner, die zum ersten Mal den Präsidenten stellen, sind nur noch die zweitstärkste Minderheitengruppe.

Längst hat man sich daran gewöhnt, dass in Natur- und Ingenieurwissenschaften fast nur noch Professoren veröffentlichen, die entweder aus China, Indien, dem Iran oder dem Nahen Osten eingewandert sind.

Infolge der liberalistischen Tradition liegt die USA, was die gesellschaftliche Ungleichheit betrifft, nur noch vor Chile, Mexiko und der Türkei, soweit dies in OECD-Ländern gemessen wurde. Ein besonders trauriges Kapitel sind Delikte und Verbrechen. Die Zahl der Gefängnisinsassen hat sich in den letzten 10 Jahren auf 2,4 Mio. vervierfacht.

Politik als Mechanismus

Uns Europäer wundert es manchmal, dass Politiker ohne jede Auslandserfahrungen sich um das Amt des Präsidenten bewerben. Das letzte Beispiel war Sarah Palin, die ehemalige Gouverneurin von Alaska. Ähnlich schwer einzuordnen sind die diversen politischen Strömungen, sei es die Tea Party, die christlichen Konservativen oder die jüdischen Ärzte und Juristen.

Der Autor weist darauf hin, dass die amerikanische Politik wesentlich mehr von den dünnbesiedelten ländlichen Regionen bestimmt wird, als von den dicht besiedelten Ballungszentren. Er sieht dafür zwei Gründe. Aus der Gründerzeit der Union ist der föderale Charakter in der Verfassung sehr ausgeprägt. Die Abgeordneten aus kleinen Staaten haben – genau wie in der EU – ein unverhältnismäßig hohes Gewicht. Andererseits sind die Parteien, die einen stärkeren Gesamtrahmen der Politik festlegen könnten, sehr schwach. Die Legislative verfügt nicht über Parteisoldaten, alle Abgeordneten und Senatoren sind sozusagen Einzelunternehmer. Das Wahlvolk verfolgt ihr Abstimmungsverhalten bei jeder einzelnen Frage. Er muss also dafür Rede und Antwort stehen.

Der Kongress, also Repräsentantenhaus und Senat, steht oft – so auch jetzt zahlenmäßig in Opposition zur Regierung des Präsidenten. Er muss sich in jeder Frage eigene Mehrheiten suchen. Vor allem Konservative und Zentralismus feindliche Abgeordnete können den Präsidenten fast mutwillig blockieren. So hat das Parlament in der aktuellen Wirtschaftskrise fast alle Rettungsmaßnahmen verhindert, nur die Notenbank war handlungsfähig.

Viel wird auch über den Einfluss der Wirtschafts-Lobby spekuliert. Man denkt dabei an die Dankbarkeit für die Unterstützung im Wahlkampf bis zu den Verflechtungen von Wirtschaft und Wissenschaft. Auf einen Sonderfall, die Think Tanks, gehe ich später noch ein. Manchmal kann man den Eindruck gewinnen, dass die amerikanische Politik es besonders schwer hat, auf erkannte Trends zu reagieren. Zwei Beispiele sind die demografische Struktur der Bevölkerung und die Energieversorgung in der Zukunft

Internationales Umfeld

Wegen ihrer verstärkten Abhängigkeit von fremden Rohstoffen, vor allem Öl und Gas, fühlen sich die USA von einer neuen Achse China – Russland - Iran herausgefordert. Es ist kein Geheimnis mehr, dass China sich in allen Weltregionen aktiv engagiert bei der Sicherung von Ressourcen und Transportwegen. Russland kooperiert mit dem Iran, sowohl technisch wie militärisch, China wohl nur technisch. China hat die USA finanziell voll im Griff. Es besitzt 1134 Mrd. $ an amerikanischen Staatsanleihen. Es gewinnt zusehends auch an militärischer Macht.

Kam es in der Vergangenheit zu Spannungen, scheuten die USA nicht vor Alleingängen zurück. Sie taten es jedoch nur da, wo keine Kooperation mit Partnern möglich war. Dies scheiterte entweder an Kapazität oder Interesse. Die Kapazitätsfrage wird klar, wenn man bedenkt, dass außer den USA nur vier andere Länder mehr als 2% des BIP für Rüstung ausgeben. Es sind dies England, Frankreich, Griechenland und Albanien (!). Alle Aufforderungen an andere NATO-Mitglieder sich stärker zu engagieren, verhallten bisher, außer im Falle Afghanistans.

Da sich im Afghanistan-Konflikt das Nachbarland Pakistan als unzuverlässiger Partner erwies, hat die USA ihn abgeschrieben. Sie führt auf seinem Territorium inzwischen einen Drohnenkrieg, dessen Blutzoll nur auf amerikanischer Seite gering ist. Ein möglicher Ersatz könnte Indien sein. Nur Indien wäre in der Lage, Afghanistan nach dem Abzug der Alliierten zu sichern.

Langfristig richten sich die Hoffnungen der USA auf Japan, Südkorea, Indien, Australien und Neuseeland. Ob dies heißt, dass die NATO globalisiert wird, oder eine andere Form der Zusammenarbeit besser ist, ist sekundär. Jedenfalls zeigen die USA inzwischen mehr Interesse an Asien als an Europa. Asien wird nämlich im Jahre 2020 ein größerer Wirtschaftsraum sein als die EU, unabhängig vom Ausgang der Eurokrise.

Der Arabische Frühling scheint zu einer Enttäuschung zu werden. Anscheinend spült er überall die Muslim-Bruderschaft an die Macht, so in Ägypten und Libyen. In Südamerika denken weder Brasilien noch Venezuela daran, weiterhin im Hinterhof der USA zu verharren. Erstaunlich ist der Wandel Kanadas. Es ist zum Energielieferanten Nummer 1 für die USA geworden.

Zukunftsperspektiven des Landes

Aus dem Wandel der demografischen Struktur ergeben sich die Notwendigkeiten der Bildungsförderung und der staatlichen Altersversorgung. Ebenso groß sind die Herausforderungen, die sich für die Energie-Sicherung der Zukunft stellen. Das Umsteuern vom Öl zu regenerativen Energien (engl. low carbon economy) reduziert die externen Abhängigkeiten. Die Bio-Treibstoffe stellen eine Chance für die US-Landwirtschaft dar.

Da gerade der Wahlkampf der beiden Präsidentschaftskandidaten in vollem Gange ist, werden diese sich bestimmt Gedanken über die Zukunft ihres Landes machen.  Es hätte mich sehr gereizt, etwas mehr darüber zu erfahren. Da der Autor den Patienten nicht zu sehr belasten will, hält er sich zurück. Möge der Patient zunächst einmal genesen.

Politikberatung als Dienstleistung

Seit 1980 gibt es in den USA etwa 300 Think Tanks. Der deutsche Ausdruck ‚Denkfabriken‘ hat keinen sehr positiven Klang. Es geht darum, durch Spezialisierung einen Wissensvorsprung zu schaffen, einen Mehrwert, der sonst nicht entsteht. Wie sich die Wirtschaft von der reinen Fertigung zu Dienstleistungen in der Form von Schulung und Beratung weiterentwickelt, so ist eine Gesellschaft gut dran, wenn sie sich außer der Daseinsfürsorge auch Köpfe leisten kann, die für sie denken.

Da der Autor gerade bei einem Think Tank angestellt ist, meint er spezifische Ratschläge geben zu können. Die von Hause aus schwachen Parteien müssen sich im Falle eines Wahlsieges Verstärkung holen. So kann der Weg statt über Stadt- und Regionalparlamente auch über diesen Weg zu politischen Ämtern führen. Will man zukünftige politische Entscheider kennenlernen, so rät Braml dazu, nicht nur Parteien sondern auch Think Tanks zu infiltrieren.

Mein Genesungswunsch

Manche Amerikaner erscheinen uns zwar als übergewichtig, sie sind dennoch vital. Es ist richtig, dass bei ihnen die alte Wirtschaft zuerst kränkelte. Nirgends auf der Welt entstehen jedes Jahr jedoch so viele neue Firmen und neue Branchen wie in den USA. Von keinem Land sind wir so abhängig, wenn es um neue Produkte und Geschäftsideen geht. Unser Alltag wäre langweiliger, unsere Kontakte zu andern Menschen ärmer und unsere Geschäfte umständlicher.

Manchmal müssen Amerikaner sich selbst daran erinnern, dass sie Dinge sogar im Alleingang schaffen, wo andere als Gemeinschaftsprojekt eines Staatenbundes nicht daran denken können. Die Landung der Raumsonde Curiosity auf dem Mars fällt in diese Kategorie. Wer sonst könnte uns Bilder vom Schwenken der Räder im Mars-Geröll zeigen, so wie gestern früh auf meinem Smartphone geschehen.

Montag, 20. August 2012

Gedanken eines Praktikers zum Turing-Jahr

Die Informatik feiert weltweit Alan Turings 100. Geburtstag. Das Informatik-Spektrum hat Turing im aktuellen Heft (Heft 35,4 (2012)) das Titelbild und mehrere Aufsätze gewidmet. Die Bedeutung Turings für mehrere Teilgebiete der Informatik wird herausgestellt. Turing ist zweifellos wichtig, darüber sind sich Praktiker und Theoretiker einig. Nur sollte er nicht überbewertet werden, oder anders ausgedrückt, er sollte richtig eingeordnet werden. Im Folgenden gebe ich ein paar Gedanken zum Besten, die eventuell dabei helfen können. Als Einstieg will ich zwei Geschichten erzählen. Sie stammen aus meinem eigenen Arbeitsumfeld. Die betroffenen Kollegen sind mir persönlich bekannt.

Episode 1: Ein Kollege von mir hatte auf der Fachhochschule Maschinenbau studiert. Beim Vorstellungsgespräch bei einem Rechnerhersteller im Jahre 1963 erwähnte er, dass er gerade das 1961 erschienene Buch von Hans Hermes über Aufzählbarkeit - Entscheidbarkeit – Berechenbarkeit lesen würde. Da darin die Turing-Maschine vorkam, konnte der Interviewer, ein Mathematiker, nicht umhin zu fragen, ob er auch deren Wesen und Bedeutung für die Informatik erklären könnte. Da er dies offensichtlich konnte, erhielt er ein Angebot für eine Stelle in der Software-Entwicklung. Für beide Seiten, Arbeitgeber und Arbeitnehmer, führte dies zu über 30 Jahren einer zufriedenstellenden Zusammenarbeit. Mein Kollege hat an vielen interessanten und wichtigen Projekten mitgewirkt. Er hat leidenschaftlich gern programmiert und tat es auch nach seiner Pensionierung noch als selbständiger Unternehmer; gebraucht hat er das Wissen über die Turing-Maschine jedoch nie.

Episode 2: In meiner Funktion als Rechenzentrumsleiter wurde ich bereits vor über 50 Jahren mit der Kehrseite der durch (falsch verstandene) Theorie beeinflussten Denkweise konfrontiert. Ich hatte um 1960 einem Mitarbeiter, der seinem Kunden gegenüber erklärte, dass er keine Verantwortung übernehmen könnte für das Terminieren der von ihm geschriebenen Programme. Er war Mathematiker und bezog sich dabei auf Turing. Ich hätte ihn am liebsten auf der Stelle entlassen, wenn dies in Deutschland möglich gewesen wäre. Vielleicht hätte ich es tun sollen. Im Prozess vor dem Arbeitsgericht hätten dann Juristen klären müssen, wie schädlich solche Theorien sein können. Ich ließ es bei einer Ermahnung und Belehrung bewenden. Um die optimale Formulierung dieser Belehrung ringe ich bis heute. Gerne hätte ich Hilfe von der Theoretischen Informatik in Anspruch genommen, nur fand ich bisher keine.

Es folgen jetzt meine eigenen Gedanken zu den aufgeworfenen Fragen. Sie sollten nicht primär als Kritik verstanden werden, sondern eher als Hilferufe. So wie mir, geht es auch einigen andern Kollegen. Ich hoffe meine Ausführungen regen dazu an, bessere Lösungen und Darstellungen zu finden und zur Diskussion zu stellen. Es geht mir nicht darum, die Korrektheit der bisherigen Ergebnisse in Frage zu stellen, noch die Höhe oder die Tiefe – wie immer Sie es sehen wollen - der dahinter stehenden Gedankengänge. Ich möchte vielmehr das Augenmerk auf ihre Relevanz für den Praktiker und ihre Vermittelbarkeit lenken. Wenn etwas wenig Relevanz hat, braucht man sich um die Vermittelbarkeit keine Gedanken zu machen.

Turing-Maschine und Modelle des heutigen Rechnens

Wieso ist ein Papierband mit Strichen, das ich verschieben kann, ein sinnvolles Modell für einen heutigen Computer? So arbeitet doch kein Computer, nicht einmal ein historischer. Das Modell ist weder intuitiv, noch nachvollziehbar. Noch ist es eine Vereinfachung, eine Reduktion auf das Wesentliche. Vor allem, es lässt keinerlei unterschiedliche Abstraktionsstufen zu. Je größer Systeme werden, desto wichtiger sind Abstraktionen.

Die Arbeiten von Turings haben sicher dabei geholfen, einige grundlegende Fragen zu klären, z.B. die der Berechenbarkeit und der Natur von Algorithmen. Auch diente der Begriff ‚Turing-vollständig‘ dazu, die Mindestanforderungen an moderne Rechner festzulegen. Wer fragt jedoch heute noch danach, ob die etwa 100.000 von Google eingesetzten Rechner ‚Turing-vollständig‘ sind, oder die 500.000 von der Firma Robert Bosch verbauten Rechner. Die Gefahr, dass zwei Firmen heute noch in ihrer Werbeschlacht die Mächtigkeit von Rechnerarchitekturen unterschiedlich bewerten, also die Church-Turing-These in Frage stellen, ist äußerst gering.

Nachdem diese Klärung als historische Leistung geschafft wurde, sollten wir uns andern Aufgaben zu wenden, etwa der Korrektheit oder Wohlstrukturiertheit tatsächlicher Programme. Ich selbst bevorzuge für derlei Betrachtungen ein anderes, viel einfacheres Modell. Es ist vielleicht sogar zu einfach (für Theoretiker), dafür aber vielfach verwendbar. Viele Programme, die wir schreiben, stellen Abbildungen zwischen Mengen dar, den Eingabewerten und den Ausgabewerten. Am wichtigsten sind diejenigen Abbildungen, die Mathematiker als Funktionen bezeichnen. Formal lässt sich diese Vorstellung etwa wie folgt ausdrücken:

F: X → Y, wobei  x in X, y in Y und [für alle y l y = f(x)]

Das Wesen einer Abbildung lässt sich sehr gut mit Hilfe einer Tabelle veranschaulichen, in der Eingabe-Symbolen Ausgabe-Symbole gegenüberstellt sind. Mein Parade-Beispiel ist die Umrechnung von römischen in arabische Zahlendarstellungen:


Aus Platzgründen sind die beiden Spalten der Tabelle hier horizontal angeordnet. Man kann erklären, dass man die gesamte Funktion rein tabellarisch darstellen könnte. Bereits bei diesem Beispiel ist es sinnvoller eine Kombination von Algorithmus und Tabelle zu wählen.

Tabellen mit n Spalten (n ≥ 2) oder – um einen mathematischen Ausdruck zu verwenden – Tupelmengen sind das A und O der Informatik. Sie sind der Grundpfeiler. Wer in Tupeln denkt, hat einen verbesserten Zugang zu einer Vielzahl von Problemen. Mit Tabellen lässt sich nicht nur einfach rechnen, sondern auch vieles besser erklären. Mit Tupelmengen ist man bereits mitten drin in modernen Datenbanken, den Relationen des Ted Codd. Bei der Zuordnung von Syntax zu Semantik, der Übersetzung von einer natürlichen Sprache in eine andere, immer sind Abbildungen bzw. Tabellen im Spiel.

Für sehr wichtig halte ich einen weiteren Aspekt. Für viele von uns ist es eine tiefe Einsicht, ein Aha-Effekt. Stellt man sich nämlich Programmläufe als Tupeln vor, so kommt man (gedanklich) ganz einfach zu Testfällen. Es ist ein und dasselbe. Wer eine Transformation nur als Tabelle angibt, braucht nämlich nicht zu testen. Er muss nur sicherstellen, dass er die richtigen Tupel einträgt. Bei der Verifikation tut man gleich das, was sonst allzu leicht vergessen wird. Man fragt, ob man die richtigen Werte genommen hat. Vor allem fragt man sich zu denen durch, die es wissen müssten. Wer eine Tabelle durch Testen verifizieren will, benötigt auch keinen Hinweis auf Edsgar Dijkstra. Wer bei einzelnen Tabelleneinträgen Fehler findet, zieht daraus bestenfalls die Schlussfolgerung möglichst viele Einträge zu testen.

Es gehört zu den Binsenwahrheiten, die jeder Informatiker lernt, dass man Berechnungen durch gespeicherte Werte vermeiden kann und umgekehrt. Bei jeder Rechnergeneration verschiebt sich die Grenze, wo dies sinnvoll ist. Bei endlichen Tabellen, auch wenn sie mehrere Tausend Einträge umfassen, gibt es kein Halteproblem (Näheres dazu weiter unten). Vielleicht gibt es ein Platzproblem. Das kann (besonders bei alten Rechnern) zu Problemen führen. Man wählte daher mit Vorliebe den algorithmischen Ansatz, d.h. man schrieb nicht die Wertepaare auf, sondern eine Formel, mit der Eingabewerte in Ausgabewerte transformiert werden.

Mit Algorithmen müssen sich Informatiker schon noch auseinandersetzten  ̶  leider. Bei Programmen ohne Schleifen oder Rekursion ist alles noch kinderleicht. Erst wenn wir diese beiden Operationen einführen, droht Gefahr. Dort beginnt der Ernst des Lebens. Ab dort ist Informatik nichts mehr für Kinder. Vor allem das Verifizieren und Validieren  ̶   auch Testen genannt  ̶   von iterativen Programmen ist nicht mehr trivial. Sich damit auch theoretisch zu befassen, ist ein sehr wichtiges, aber sehr vernachlässigtes Thema, wenn man einmal vom Stichwort ‚Model Checking‘ absieht.

So wichtig die Verifizierung und Optimierung von Algorithmen im Bereich der Numerik auch ist, sie sind nur ein Teilaspekt dessen, was ein Informatiker benötigt. Für Informatik-Anwendungen der Zukunft sind gute, selbsterklärende Datenbeschreibungen, Datenorganisationen für optimalen Zugriff oder langfristige Sicherung von Datenmengen im Terabyte-Bereich, Bild- und Spracherkennung, semantisches Suchen, sichere Transaktionskonzepte und wiederverwendbare Systemmodelle mindestens ebenso wichtig. Die Beschäftigung mit der Turing-Maschine kann zu all diesen Fragen wenig oder nichts beitragen.

Halteproblem als Grenze

Turing hat 1930 nachgewiesen, dass es nicht möglich ist für beliebige Programme, die auf einem Universalrechner laufen, zu beweisen, dass sie immer zum Halten kommen. Der Beweis dieser Aussage ist eine gedankliche Meisterleistung, einem Taschenspielertrick nicht unähnlich. Er erfolgt durch Diagonalisierung (im Sinne von Cantor). Man nimmt zunächst an, eine bestimmte Aussage gelte und zeigt dann, dass dies – auf sich selbst angewandt – zu einem Widerspruch führt. Der Kern dieses Ergebnisses ist die Feststellung, dass es eine scharfe Grenze zwischen Aufgaben gibt, die berechenbar sind und solchen, die es nicht sind. Es ist eine fundamentale Erkenntnis, ähnlich der von Kurt Gödel über die Unvollständigkeit der Arithmetik. Beide trugen zur Ernüchterung der mathematischen Himmelsstürmer bei, die hofften, dass die Mathematik zu allem klare Aussagen treffen könnte. Andere Klassen von Problemen werden heute vielfach dadurch erledigt, dass gesagt wird, dass sie mindestens so schwierig sind wie das Halte-Problem. Dazu gehört zum Beispiel die Frage, ob zwei verschiedene Programme dieselbe Funktion berechnen.

Jeder Software-Entwickler sollte wissen, dass die Mathematik ihre eigenen Grenzen hat. Noch wichtiger ist es, die Relevanz mathematischer Aussagen zu erkennen, und gegebenenfalls kritisch zu hinterfragen. Als Turing zu seinem Ergebnis gelangte, gab es weder Programmiersprachen, noch Programme. Man benötigt sie auch nicht. Aus pädagogischer Sicht wäre es jedoch hilfreich, es gäbe Beispiele für konkrete Programme, deren Terminierung nicht entscheidbar ist. Mir sind keine bekannt.

Das Halteproblem führt zu einem Dilemma. Dieses ist nicht durch eine falsch verstandene Theorie (wie in Episode 2) verursacht. Es ist grundsätzlicher Art. Für die Masse der Praktiker liegt die tagtägliche Problematik darin, mit einem scheinbaren Konflikt mit der Theorie zu leben. Zumindest ist es ein Graben. Für jedes Programm, das er/sie schreibt, muss er/sie klar sagen, ob es terminiert oder nicht. Einige Programme dürfen nicht terminieren, andere müssen. Etwas anderes als eine klare Verpflichtung ist professionell gesehen unverantwortlich. Man muss sich über Turing hinwegsetzen.

Es ist keine Frage: Jeder Entwickler benötigt Unterstützung, die ihm von Fall zu Fall zeigt, welche Programme terminieren und welche nicht. Mit andern Worten, wir benötigen theoretische Arbeiten, die von unten nach oben fortschreiten, vom einfachen Fall zum Komplexen, von Programmiersprache zu Programmiersprache, von Entwicklungsumgebung zu Entwicklungsumgebung. Dabei lässt die Theorie die Praxis im Stich, und das seit 60 Jahren. Da hilft es auch wenig, wenn Praktikern gesagt wird, dass sie für die Probleme, die sie haben, selbst schuld sind. Es fehle nur die richtige (theoretische) Ausbildung.

Turing-Test als Aufgabe

Es sind vor allem Nicht-Fachleute, die von Turings Beitrag zur KI fasziniert sind. Turing meinte, dass man den Streit darüber, ob Computer denken können, operational beantworten sollte. Er wollte damit den endlosen Debatten, was die beste Definition ist, einen Riegel vorschieben. Deshalb schlug er einen Test vor. Er wird heute Turing-Test genannt. Er sagte nicht, welche Aufgaben zu dem Test gehören. Die Aufgaben sind völlig variabel. Solange ein bestimmtes Ergebnis noch nicht erreicht ist, werden die Aufgaben verändert.

Wenn man schließlich einen Satz von Aufgaben gefunden hat, die jeder Computer genauso gut löst wie jeder Mensch, hört man auf, die Aufgaben zu verändern. Die Aufgaben definieren dann rein operational den Begriff Intelligenz – mehr nicht. Die Philosophie ist voll von Begriffen, wo genaue Definitionen schwer sind. Beispiele sind Bewusstsein, Geist, Leben und Liebe.

Operationale Definitionen gewinnen dadurch, dass sie reduzieren. Wenn ich nicht mehr unterscheiden kann, ob ich es mit einem Menschen oder Computer zu tun habe, folgt daraus noch lange nicht, dass Computer und Mensch das Gleiche sind. Der Computer hat nur einen gewissen Grad an menschlichen Fähigkeiten erreicht.

Theorie ist wichtig

Oft wird die Rolle der Theorie in der Informatik mit der Rolle der Theorie in der Physik gleichgesetzt. Das scheint mir nicht sehr hilfreich zu sein. Ein Vergleich mit der Rolle in den Ingenieurwissenschaften und der Medizin scheint eher angebracht zu sein. Für viele Probleme sind wir Praktiker auf Heuristiken oder Hausmittel angewiesen. Gerne hätten wir gewusst, warum sie funktionieren oder warum andere Dinge nicht funktionieren. Dazu gehört mehr als nur Mathematik.

Für ein Fachgebiet wie die Informatik ist es wichtig, dass Theoretiker nicht ganz in himmlischen Wohnbezirken verbleiben und sich auf grundsätzliche Aussagen in der Art der Mathematik beschränken. Sie müssen herunter kommen und den Praktikern konkrete Hilfe anbieten. Das können Beispiele sein, die zeigen, was geht und was nicht geht, oder Werkzeuge, die helfen, theoretisch schwierige Fragen zu beantworten. Sollte man Theorien entwickeln, die etwas erklären, muss man in Kauf nehmen, dass sie falsifiziert werden können. Natürlich weichen viele Theoretiker deshalb auf Themen aus, die entweder metaphysischen Charakter haben oder reines Notationen-Geplänkel sind. Viele ergötzen sich auch an tollen Spezifikations- oder Programmiersprachen, unbeeindruckt davon, ob je ein Praktiker sie anrührt oder nicht.