Bereits viermal hat uns (man beachte den Plural) der Euro in diesem
Blog beschäftigt, schon zweimal Thilo Sarrazin. Beides sind Phänomene, jedes etwas
schwer verständlich, jedes auf seine eigene Art interessant.
Sarrazin hat in den letzten zwei Jahren zwei Bücher geschrieben, mit
denen er sich – laut Presseberichten – quasi die Lufthoheit an den Stammtischen
erkämpfte. Da es – vor allem für einen Besitzer eines Flatrate-Abos für
aktuelle E-Bücher – so unendlich viel Interessantes zu lesen gibt, wollte ich mir
den Sarrazin nicht antun. Da ich aber in meinem Bekanntenkreis mehrere Kollegen
habe, die Sarrazin in Sachen Euro in der Tendenz Recht geben, entschloss ich
mich die Zeit zu investieren, um das Wort des Meisters zu lesen. Das Anfang 2012 erschienene Buch hat den Titel: Europa
braucht den Euro nicht. In großer Schrift hat es etwa 450 Seiten.
Sarrazin hatte in seiner fachlichen Laufbahn immer wieder mit
Währungsfragen zu tun. Er war Mitarbeiter des Bundesfinanzministers, als
Gastmitarbeiter beim Internationalen Währungsfond (IWF) und vor allem im
Vorstand der Bundesbank, bevor er durch das Buch über unsere
Immigrationsprobleme nicht mehr tragbar war. Als Finanzminister im Land Rheinland-Pfalz,
im Vorstand der Deutschen Bundesbahn und zuletzt als Finanzsenator des Landes
Berlin war er als Sanierer gefordert und – nach seinen eigenen Worten – nicht
ganz erfolglos.
Man erfährt von ihm, sozusagen aus erster Hand, nochmals die Geschichte
der Währungsunion. Er schildert, welche Mühen aufgewandt wurden, um eine
sichere rechtliche Basis zu schaffen. Die Partnerländer waren bereit, als
Modell die rechtliche Struktur der Deutschen Bundesbank unverändert zu
übernehmen. Es wurden Konvergenzkriterien definiert und eine gegenseitige
Haftung (engl. bail out) ausdrücklich ausgeschlossen. Die Verhandlungen
schlugen sich im Maastricht-Vertrag nieder. Der Vertrag gilt auch aus heutiger
Sicht als sehr solide Basis der gemeinsamen Währung.
Mehrere Probleme führten nach Sarrazins Meinung zu der heutigen Krise.
Das eine waren die hohen Belastungen, die einige Staaten in ihren Haushalten
erlitten als Folge der von den USA ausgehenden Bankenkrise (engl. subprime
crisis). Irrtümlich oder wider besseres Wissen wurde von der gesamten
Finanzwelt angenommen, dass im Euroland eine gemeinsame Haftung für alle
Schulden gelten würde. Deshalb hatten alle Länder, auch die finanziell
schwachen, Zugang zu billigen Darlehen. Anstatt das ‚leichte Geld‘ für notwendige
Umstrukturierungen und Anpassungen zu nutzen, verführte es zu Nichtstun. Als
Folge davon haben sich die Südländer bezüglich Lohnkosten und Produktivität
immer mehr von den Nordländern entfernt. Alle Vertragspartner hatten darauf
vertraut, dass die aufgrund der Konvergenzkriterien gleich startenden Länder,
sich auch gleich entwickeln würden. Plötzlich hat man erkannt, dass das Gegenteil
eingetreten ist. Die Union vergrößerte die Unterschiede.
Über die Gründe für diese Unterschiede zu philosophieren, ist nicht
sehr erhellend. Sarrazin tut es trotzdem. Ist das wärmere Klima schuld, oder sind es
doch die Gene? Die Nordstaaten haben nicht nur eine leistungsfähigere
Wirtschaft, sie haben auch besseres staatliches Personal. Das behauptet er. Die
Situation in den einzelnen Ländern unterscheidet sich bezüglich ihrer Ursachen
und Auswirkungen. Sie werden ausführlich analysiert. Hier nur das Wichtigste:
- Frankreich: Genereller Verfall der Wettbewerbsfähigkeit
- Italien: Leistungsfähiger Norden, aber Notstandsgebiete im Süden
- Spanien: Überreizte Baukonjunktur
- Portugal: Verlust der Konkurrenzfähigkeit gegenüber Osteuropa und Asien
- Griechenland: Vorgetäuschte Konvergenz, völliges Miss-Management
Griechenland scheint bei Sarrazin kein Pardon zu verdienen (wobei
Pardon in einer wirtschaftlichen Welt fehl am Platze ist). Nicht nur hat das
Land falsche Statistiken nach Brüssel geliefert, um seine Konvergenzkriterien
zu schaffen. In den zehn Jahren der gemeinsamen Währung stiegen die Lohnkosten
um 64% (gegenüber 2% in Deutschland). Das Land hat 60% des Bruttoinlandsprodukts
(BIP) als Hilfen von der EU erhalten. Im Vergleich dazu hat die Hilfe aus dem Marshall-Plan
innerhalb von vier Jahren nur 1% des BIP der Bundesrepublik betragen. Nach
Sarrazins Überzeugung erhöhte die gemeinsame Währung weder den Wohlstand noch die
Beschäftigung im Euroraum. Dafür legt er zahlreiche Statistiken als Beweis vor.
In meinen Augen hat das Buch seine Stärken in der Analyse der
Vergangenheit. Darüber zu streiten, wer hier Recht hat, ist wenig zielführend.
Oder anders gesagt: Wo Sarrazin Recht hat, hat er Recht.
Interessant ist, wie er die zurzeit laufenden Diskussionen bewertet. Zunächst sieht er eine seltsame Interessengemeinschaft zwischen angelsächsischen Liberalen und Finanzinteressen und der deutschen Linken. Diese sehen das Hauptübel in der ausgeschlossenen Haftung des Nordens für den Süden. Finanzler suchen sichere Märkte. Der Euro-Markt ist dies nicht, solange es keine Haftung der Starken für die Schwachen gibt. Worum es den deutschen Linken (vertreten durch Peter Bofinger und Sigmar Gabriel) geht, ist ihm als überzeugtem Sozialdemokraten rätselhaft. Dass die Südländer Hilfe haben wollen, ohne Strukturreformen durchführen zu müssen, ist verständlich, aber verderblich.
Der arme Herr Weidmann von der Bundesbank kann nur noch nörgeln, aber
nichts mehr bestimmen. Die Mehrheit der Südländer in den Gremien der EZB hat
längst das Sagen. Bundeskanzlerin Merkel und Finanzminister Schäuble
unterstellt er, dass sie bereit sind, dem politischen Ziel einer stärkeren
Integration das wirtschaftliche Wohl unseres Landes zu opfern. Die Drohformel ‚Scheitert
der Euro, scheitert Europa!‘ sei nicht realistisch. Es sei der Versuch die Währung
zu missbrauchen, um eine bestimmte Politik zu erzwingen.
Leider ist das Buch sehr enttäuschend, wenn man Lösungsvorschläge erwartet.
Sarrazin gesteht zu, dass wir nicht an den Ausgangspunkt zurück können. Wir müssen
da weitermachen, wo wir stehen. Die Kosten des Ausstiegs sind enorm. Wirtschaftsregierung
und Transferunion schwächen den Norden. Ob sie dem Süden helfen, ist fraglich.
Der Euro ist eine Kette geworden, die Nord und Süd zusammenzwingt. Für wen der Euro
zu schwer ist, solle ihn verlassen (dürfen). Deutschland wird durch den
dauernden Bruch der No-Bail-Out-Klausel zur Geisel der Südländer, usw. Wir
können nicht länger sagen, es hätte uns niemand gewarnt.
Einerseits rät Sarrazin zu sensiblem Umgang mit den Schuldenländern.
Man sollte z.B. die Griechen nicht durch Druck ‚infantilisieren‘. Sie müssten
sich selbst helfen. Vermutlich bleibt uns eine Art ‚Mezzagiorno‘ der EU, der auch
im Falle Italiens 130 Jahre nach der Staatsgründung noch Empfänger von Transfers
ist. Andererseits überspitzt er die Kritik an Griechenland, indem er
Forderungen formuliert, die man nur als Beleidigung auffassen kann. Wörtlich
heißt es: Die Griechen können im Euroland bleiben, wenn sie
- Korruption in Politik und Verwaltung abschaffen,
- alle Einkommen um 30% senken,
- die Finanzämter wie deutsche Finanzämter betreiben und
- die Leute steuerehrlich werden.
Sehr gut ist es, dass wir darüber nachdenken, was Europa für uns ist
und sein soll. Ist es eine Gemeinschaft von 740 Millionen Menschen, von 500
oder von 327? Gemeint sind damit das geografische Europa, die EU oder die
Euroländer. In ihm leben heute Christen, Juden, Muslime und Nicht-Religiöse.
Alle schätzen Demokratie und freie Wirtschaft. Es ist eher ein Staatenbund als
ein Bundesstaat, und soll es bleiben. Basken, Schotten, Waliser und Wallonen
streben darin nach Autonomie, nach Verwirklichung ihrer Gemeinschaftsideale.
Gleichzeitig gehen die Ideale einer klassischen Bildung immer mehr verloren.
Neue Erlebnis- und Gemeinschaftsformen drängen vor, z.B. Facebook und
Pop-Konzerte.
Auch versucht er die ganze Diskussion zu relativieren. Der Wunsch nach Frieden,
Demokratie und der Möglichkeit, sein Leben frei zu gestalten, hängen nicht von einer
gemeinsamen Währung ab. Sich selbst bezeichnet er als Außenseiter und tröstet
sich mit dem Satz:
Außenseitertum
ist der Preis dafür, dass man Kollektivirrtümern entgeht.
In Hartmut
Wedekinds Beitrag vor gut einer Woche ging es primär darum, wie sich das
Phänomen Sarrazin in die Wissenschaftstheorie der Moderne einordnen lässt. Sarrazin
hat halt viele Gesichter.
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