Dienstag, 7. August 2012

Sarrazin, Popper und die Sozialdemokratie (mit Kommentaren)

Korrespondiert man viel mit dem Kollegen Wedekind, könnte man den Eindruck gewinnen, als gäbe es keine Probleme in der Welt außer solchen der Philosophie. Mit anderen Worten: Diese Welt wäre eine bessere, würde mehr auf Philosophen gehört. Ob sie die Welt regieren sollten, dass kommt ihnen selbst etwas zu riskant vor.

Als Gesprächspartner fühlt man sich schnell einer philosophischen Schublade zugeordnet. Glaubt man nur primär an Wissen, das durch empirische Beobachtung erschlossen werden kann, gilt man als Popperianer. Lässt man apriorisches Wissen gelten, ist man Kantianer. In Erlangen waren einmal einige Logik-Professoren (Kamlah, Lorenzen) davon überzeugt, dass nur der Methodische Konstruktivismus zu richtigem Denken und Reden führt. Wedekind war lange in Erlangen, allerdings als Informatiker.

Richtiges Denken kann natürlich nie schaden - vorausgesetzt man ist sich im Klaren, was richtig ist. Ob ebensolches Reden immer opportun ist, da scheiden sich die Geister. Bisherige Versuche, Politiker zum richtigem Denken und/oder Reden zu bekehren, schlugen offensichtlich fehl. Noch sind auch Informatiker nicht in Massen darauf abgefahren.

Lesen Sie lieber selbst, wie Kollege Wedekind das alles in seinem neuen Essay mit dem Titel 'Das Phänomen Sarrazin' erklärt, und, vor allem, was Helmut Schmidt, Peer Steinbrück, der Euro und die deutsche Sozialdemokratie damit zu tun haben. Es ist ein wahres Propädeutikum modernen philosophischen Denkens.
 
Am 7.8.2012, 17:45 Uhr, schrieb Hans Diel aus Sindelfingen:

Der Beitrag von Herrn Wedekind gefällt mir ganz gut. Er kritisiert darin vieles, bei dem ich ihm zustimme. Dabei gefällt mir besonders, dass er, wenn er X kritisiert, klar macht, dass er deswegen mit den Gegnern von X nicht notwendig in Allem übereinstimmt. Auch seine Kritik an der Überbetonung von Popper teile ich (auch wenn ich Popper vielleicht mal gelobt habe). Erst recht kritisiere ich den Positivismus (der laut Herrn Wedekind durch Popper mitbegründet ist). Erinnern möchte ich an meine Kritik der Quantenphysik, wo eine zu positivistische Haltung zur Entschuldigung für das Ignorieren von Unvollständigkeit führt.

Wenn ich jedoch (mit Herrn Wedekind?) die "Popperianer" kritisiere, dann heißt das nicht, dass ich Poppers Falsifizierungsgebot für Quatsch oder überflüssig halte. Ich meine nur, man sollte darauf achten, wo das Gebot Sinn macht und wo nicht. In vielen Wissenschaftsdisziplinen gibt es Theorien, die nach Poppers Kriterium den Namen Theorie zu Recht nicht verdienen. Auf der anderen Seite gibt es viele Gebiete, wo Theorien Sinn machen, auch wenn sie nicht falsifiziert werden können. Herr Wedekind hat die Metaphysik und die Politik in seinem Essay angesprochen. Bei solchen Gebieten (Metaphysik, Weltanschauung, Politik) habe ich eher ein Problem mit den Leuten, die ihren Standpunkt pseudo-wissenschaftlich scheinbar untermauern.

Um auch hier wieder gegenzusteuern: Wenn ich die Überbetonung von Popper und die übertriebene Argumentation mit scheinbar wissenschaftlichen Erkenntnissen kritisiere, dann bedeutet dies nicht, dass ich eine Theorie (z.B. in der Metaphysik) akzeptieren würde, die im Widerspruch zu allgemein akzeptierten wissenschaftlichen Erkenntnissen steht. Schon gar nicht darf etwas im Widerspruch zur Logik stehen.

Das führt mich zu Ihrem Schluss ‚Richtiges Denken kann natürlich nie schaden‘. Mit dem Nachsatz  ‚  ̶  vorausgesetzt man ist sich im Klaren, was richtig ist‘ drücken Sie Zweifel aus, dass dies immer so einfach ist. Das gilt selbst bei den scheinbar so trivialen Gesetzen der Logik. Im Gegensatz zu der Meinung vieler Leute folgt nicht aus den Gesetzen der Logik, dass 

-     jemand, der einige Aussagen von Sarrazin für korrekt hält, auch die Schlussfolgerungen von Sarazin bejaht.
-     jemand, der die Überbetonung von Popper kritisiert, der Meinung ist, dass auf die Verifizierung oder Falsifizierung von Theorien verzichtet werden kann.
-     jemand, der die Verifizierung oder Falsifizierung von Theorien für erstrebenswert hält, Theorien die nicht falsifiziert werden können, für minderwertig hält.
-     u.s.w.

Ich hoffe, ich habe Herrn Wedekinds Essay nicht falsch zitiert, falsch interpretiert, oder überinterpretiert (obwohl die Gefahr relativ groß ist, da es teilweise doch recht schwer zu verstehen ist).

 
Am 8.8.2012 erhielt ich folgenden Kommentar, den ich nur auszugsweise und ohne Nennung des Absenders wiedergeben möchte:

da hat also ein Vertreter der hohen Schule des Erlanger Konstruktivismus eine Abhandlung über „Das Phänomen „Sarrazin“ geschrieben. Der Text enthält eine ungewöhnliche Anhäufung polemischer Sätze, die es mir erschweren herauszufinden, worum es Herrn Wedekind eigentlich geht.

Popperianer (auch Angeheuerte wie Herr Steinbrück) sollten den Kant nochmals lesen.“ Will er helfen, Texte aus „a-metaphysischen“ Sicht verstehen zu lernen?

Der Versuch des Professor Paul Lorenzen (ein richtiger Logiker, eine herausragende Erscheinung am internationalen Wissenschaftshimmel), Politikern präzises Reden beizubringen, muss völlig gescheitert sein.“ Will er fortführen, was Lorenzen nicht gelungen ist, nämlich heutigen Popperianern präzises Reden beizubringen?

Von Helmut Schmidt habe ich nichts zu den Büchern (Sarrazins) gehört. Von einem 93-Jährigen darf man das auch nicht mehr erwarten.“ Will er sagen, Sarrazin muss man gelesen haben, um als "intelligent" (oder gar lebensfähig) zu gelten ?

Das ist dialogische Logik, die man unbedingt studieren sollte. Die konnte man aber zu meiner Zeit nur in Erlangen bei Paul Lorenzen (1915-1994) studieren, nicht in Wien oder London.“ Will er behaupten, dass nur Vertreter der Erlanger Schule verstehen, einen sinnvollen Dialog zu führen?

Und so ähnlich könnte ich fortfahren, Wedekinds Text zu kommentieren. Am Ende seines Textes war ich froh, dass er in Erlangen geblieben ist. „Zwischen Wien und Frankfurt liegt Erlangen. Bleiben wir besser dort.“ Er nicht wir!

Am Ende ist es wohl am besten, den Herrn Professor nicht so ernst zu nehmen. Er bewundert schließich eine Tradition der alten Griechen. „Für die Griechen war Logik ein Spiel, ein Wettstreit (Agon) mit Angreifer und Verteidiger, und der Verlierer im Streit musste bezahlen.“ Vermutlich betrachtet auch Wedekind Logik als Spiel, nur muss er sich keine Sorgen ums Bezahlen machen. Ich kann aber nicht erkennen, dass Wedekind seine Argumente nach dem Prinzip „Logik ist im Kern dialogisch, auf Rede und Gegenrede aufgebaut“ vorträgt.
Ich muss gestehen, dass ich nicht die geringste Motivation verspüre, mich mit Wedekind über „Das Phänomen „Sarrazin“ auf der von ihm vorgegebenen Basis „Karl Popper und die Popperianer“ zu unterhalten. Mir ist der Name Karl Popper nicht im Rahmen „Logik der Forschung“ aufgefallen, sondern in einem mir wichtigen Zusammenhang....John Eccles und Karl Popper haben gemeinsam das Buch „Das Ich und sein Gehirn“ veröffentlicht. Teil 1 enthält Poppers Theorien und Weltsicht, in Teil 2 beschreibt Eccles seine neurologischen Erkenntnisse und Weltsicht, Teil 3 enthält Dialoge zwischen beiden Autoren. Die Originalausgabe des Buches erschien übrigens 1977 unter dem Titel „The Self and Its Brain – An Argument for Interactionism“. Das Thema ist heute weiterhin so aktuell wie vor mehr als 30 Jahren.

In dem Eintrag „Modellierung in Biologie und Informatik“ in diesem Blog wurde darauf aufmerksam gemacht, dass das Thema „Biology and Reactivity“ bei Informatikern heftig diskutiert wird. Dem hingewiesenen CACM-Artikel konnte ich entnehmen, dass Informatiker überlegen, wie man von niedrigen Abstraktionsniveaus auf höhere schließen kann und umgekehrt. Wenn ich Wedekind recht verstehe, beschäftigt sich auch die Erlanger Schule mit Abstraktionsvorgängen: „Im Übrigen muss der Abstraktionsvorgang bei abstrakten Begriffen expressis verbis vorgeführt werden, was eine Sprachkritik à la Erlangen verlangt. Abstraktion ist ein sprachlogischer Prozess und kein psychologischer.“ Es wäre interessant zu erfahren, welche Rolle die Erkenntnisse der Erlanger Schule für die Informatiker Jasmin Fisher, David Harel und Thomas A. Henzinger des CACM-Artikels gespielt haben. Bedauernd stellten die Autoren des CACM-Artikels fest, dass „in biology, we have not (yet) been able to identify building blocks from which we can explain metabolic pathways and cell behavior without referring to the underlying biochemical (molecular) mechanisms”. Vielleicht kommen die Erlanger auch eines Tages zu dem Schluss, dass man es in den Gehirnen realer Menschen, auch wenn sie abstrahieren, mit psychologischen Prozessen zu tun hat.

Abschließend behaupte ich, dass ich für das Verständnis des Phänomens „Sarrazin“ die Erkenntnisse der Erlanger Schule nicht in Anspruch nehmen muss.

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