So oder so ähnlich wird einer der nächsten zehn Buchtitel über die USA
lauten. Das Buch von Josef Braml Der amerikanische Patient,
das dieses Jahr erschien, greift da schon mal vor. Nach mehreren Beiträgen in
diesem Blog über die Eurokrise sollte man die Schieflage der USA nicht außer
Acht lassen. Die USA sind höher verschuldet als alle Euroländer zusammen.
Dennoch ist die Situation eine ganz andere. Ruft der Titel von Braml nur Assoziationen
mit dem Spielfilm Der englische
Patient von 1996 hervor, so greift mein Titel über 120 Jahre zurück. Der
osmanische Sultan galt damals als der ‚Kranke Mann am
Bosporus‘. Er musste um 1890 mit ansehen, wie sein Reich an Einfluss
verlor, und neue Mächte wie England, Deutschland, Frankreich, Österreich und Russland in die dadurch entstandene Lücke
vordrangen. Die historischen Dimensionen des in den USA anstehenden Wandels
erinnern schon eher an den Untergang einer Weltmacht als an den Fieberanfall
eines einzelnen Patienten.
In unserer Generation, also seit dem Zweiten Weltkrieg, nahmen die USA
für die gesamte Welt eine Ordnungsfunktion wahr. Sie boten Sicherheit, offenen
Handel und eine Leitwährung. Dafür erhielten sie Anerkennung, Respekt und –
schon etwas seltener – auch Sympathie. Nach Braml sind die USA gerade dabei diese
Rolle aufzugeben bzw. zu verlieren. Da dies die berühmten Spatzen längst von
allen Dächern pfeifen, fragt man sich, was man an besonderen Einsichten
gewinnt, wenn man dieses Buch liest. Da es weniger als 170 Seiten hat, hält
sich der benötigte Zeitaufwand im Rahmen. Da es, je nach Vorkenntnis, andere
Dinge sind, die einem neu sind, lohnt sich daher die Lektüre. Im Folgenden wird
im Wesentlichen die Sicht Bramls wiedergegeben, hin und wieder ergänzt durch
eigene Beobachtungen.
Primäre Krankheitssymptome
Aus Sicht dieses Arztes sind es mehrere Symptome, die gleichzeitig
auftreten. Es ist daher schwer, wenn nicht unmöglich, eine bestimmte Erkrankung
zu diagnostizieren. Er lässt daher mehrere Möglichkeiten zu. Ganz eindeutig
sind die Stress-Symptome. Sie sind Folge zweier gerade verlorener Kriege, dem im
Irak und dem in Afghanistan. Die Verluste, sowohl in Geld wie im Blutzoll, sind
exorbitant. Die finanziellen Kosten belaufen sich auf über zwei Billionen, also
2000 Milliarden US-Dollar. Die Zahl der Kriegstoten nur auf amerikanischer
Seite betrug etwa 6.000. Ein Vielfaches davon ist körperlich oder mental als
Kriegsverletzter anzusehen.
Die finanzielle Erschöpfung und Atemlosigkeit wird deshalb umso weniger
verkraftbar, weil die Wirtschaft aus dem Tritt geraten ist. Dafür sind
langfristige und kurzfristige Veränderungen des Landes oder des Umfelds schuld.
Nur ein Teil davon ist hausgemacht. Ein Großteil wird von außen verursacht. Die
Wirtschaft ist immer weniger sich selbst genügend, also autark. Ein Kraftprotz
erlebt, dass auch er Grenzen hat. Gelenkschmerzen, ja Schwindelgefühle soll er
haben. Ganz deutlich sind die Anzeichen einer gewissen Depression.
Finanz- und Währungssituation
Die Staatsverschuldung der USA hat einen Umfang erreicht, dass an deren
Tilgung nicht mehr zu denken ist. Das Haushaltsdefizit beträgt 1300 Mrd. US$
allein für den Bund, oder 90% des BIP. Dazu kommt vermutlich der gleiche Betrag
für die Bundesstaaten und die Kommunen.
Anstatt einen Sparkurs einzuschlagen, wie dies einige deutsche und
nordeuropäische Regierungsmitglieder ihren Partnern in der EU raten, verfolgt
die Fed, die amerikanische Notenbank, seit den Zeiten von Alan Greenspan einen
rein expansiven Kurs. Sein Nachfolger Ben Benarke ist bekennender
Keynes-Anhänger. Seine Geldpolitik bekam den Namen 'quantitative easing' (auf
Deutsch: Erleichterung durch mengenmäßige Steuerung). Der Zinssatz der Fed liegt
um oder unter 0,25%. Außerdem kauft sie Schrottpapiere auf, ohne zu zögern.
Niemand muss jedoch die Sorge haben, dass die USA irgendwann ihre
Zahlungsfähigkeit verlieren, also pleitegehen. Der einzige Ausweg für die USA ist
die Inflation. Dazu wird es mit Sicherheit kommen, aber nur sehr langsam. Der
Grund hierfür ist die Tatsache, dass der Dollar als Leitwährung den Wert zu
vieler Vermögen auf der ganzen Welt bestimmt. Alle Ölscheichs und
autokratischen Herrscher dieser Welt würden ärmer, verlöre der US-Dollar an
Wert. Die Kehrseite davon ist: Wer immer Dollar kauft, hilft den Bürgern der
USA weiterhin über ihre Verhältnisse zu leben. Sie bekommen Importe, selbst aus
Entwicklungsländern, zu Vorzugspreisen. Die im Klappentext des Buches gestellte Frage 'Was passiert, wenn Amerika pleitegeht?' ist unsinnig. Sie wird auch im ganzen Buch nirgends adressiert, und zwar mit Recht.
Struktur der Wirtschaft
Der amerikanische Wirtschaftsraum ist im Vergleich zu andern Ländern
enorm groß. Es besteht daher kein Zwang zum Export, etwa wie in Deutschland.
Als Folge davon wird die Wirtschaft primär durch den inländischen Konsum
bestimmt. An der Kasse von Macy’s, einer Einzelhandelskette so wie Aldi, konnte
man feststellen, wie es der Weltwirtschaft geht. Die Kauflust amerikanischer
Hausfrauen war daher das beste Konjunkturbarometer.
Kam es zu Krisen, waren es – laut Braml – immer zwei Branchen, die früher
als Zugpferde halfen, aus der Krise herauszukommen: Automobil und Immobilien.
Allein an Immobilien hänge Dreiviertel der Wirtschaft. In der augenblicklichen
Krise seien beide Branchen, also Automobil und Immobilien, Teil des Problems.
Schon länger ist es besonders uns Deutschen aufgefallen, dass amerikanische
Autos ihre Attraktivität verloren haben. Deshalb bauten Honda, Toyota, BMW und
Mercedes eine Fabrik nach der andern in den USA. Mit schuld am Verschwinden
amerikanischer Autos sind die gestiegenen Benzinpreise.
Da die Abhängigkeit der Wirtschaft und der Haushalte vom Öl in Amerika fast
unverändert hoch ist, ergab sich daraus eine hohe Belastung der Handelsbilanz. Da
die eigenen Vorräte aufgebraucht sind, musste immer mehr Öl importiert werden,
und zwar zu steigenden Preisen. Welchen Einfluss dies auf die Außenpolitik
hatte und hat, werde ich später kurz andeuten. Die inneramerikanische und
gesellschaftliche Auswirkung sei auch nur angedeutet. Teure Benzinpreise reduzieren
die früher sehr starke Mobilität der Amerikaner. Das hat Auswirkungen auf den
Arbeitsmarkt und die Stadtarchitektur.
Das Thema Immobilienmarkt möchte ich ganz überspringen. Generell ist
festzuhalten, dass die USA bereit waren, in großem Umfang die Wertschöpfung
durch Produktion aufzugeben zugunsten von Dienstleistungen. In einem früheren
Beitrag habe ich am Beispiel des mit 625 Mrd. US$ teuersten Unternehmens der
Welt, der Firma
Apple, gezeigt, welche Rolle die USA-Mutter noch spielt. Das ist nur eines
von hunderten von Beispielen.
Für die Wirtschaft der USA ist zwar die Landwirtschaft nur noch von
marginaler Bedeutung. Für die amerikanische Politik ist es jedoch anders – wie
wir gleich sehen werden. Auch für die Welternährung und die
Nahrungsmittelpreise ist sie nicht vernachlässigbar. Deshalb erfährt die
aktuelle Trockenperiode große Aufmerksamkeit, reduzieren sich dadurch nämlich Mais-
und Weizenernten.
Bevölkerungsstruktur
Die USA waren stets attraktiv für unternehmungslustige Individuen auf
der ganzen Welt. In den letzten zehn Jahren stieg die Einwanderung fast kontinuierlich.
Die Herkunft verschob sich immer mehr in Richtung spanischsprechender Mittel-
und Südamerikaner. Der Bildungsgrad nahm ab. Schwarze Amerikaner, die zum
ersten Mal den Präsidenten stellen, sind nur noch die zweitstärkste
Minderheitengruppe.
Längst hat man sich daran gewöhnt, dass in Natur- und
Ingenieurwissenschaften fast nur noch Professoren veröffentlichen, die entweder
aus China, Indien, dem Iran oder dem Nahen Osten eingewandert sind.
Infolge der liberalistischen Tradition liegt die USA, was die
gesellschaftliche Ungleichheit betrifft, nur noch vor Chile, Mexiko und der Türkei,
soweit dies in OECD-Ländern gemessen wurde. Ein besonders trauriges Kapitel
sind Delikte und Verbrechen. Die Zahl der Gefängnisinsassen hat sich in den
letzten 10 Jahren auf 2,4 Mio. vervierfacht.
Politik als Mechanismus
Uns Europäer wundert es manchmal, dass Politiker ohne jede
Auslandserfahrungen sich um das Amt des Präsidenten bewerben. Das letzte
Beispiel war Sarah Palin, die ehemalige Gouverneurin von Alaska. Ähnlich schwer
einzuordnen sind die diversen politischen Strömungen, sei es die Tea Party, die
christlichen Konservativen oder die jüdischen Ärzte und Juristen.
Der Autor weist darauf hin, dass die amerikanische Politik wesentlich
mehr von den dünnbesiedelten ländlichen Regionen bestimmt wird, als von den
dicht besiedelten Ballungszentren. Er sieht dafür zwei Gründe. Aus der
Gründerzeit der Union ist der föderale Charakter in der Verfassung sehr
ausgeprägt. Die Abgeordneten aus kleinen Staaten haben – genau wie in der EU – ein
unverhältnismäßig hohes Gewicht. Andererseits sind die Parteien, die einen
stärkeren Gesamtrahmen der Politik festlegen könnten, sehr schwach. Die Legislative
verfügt nicht über Parteisoldaten, alle Abgeordneten und Senatoren sind
sozusagen Einzelunternehmer. Das Wahlvolk verfolgt ihr Abstimmungsverhalten bei
jeder einzelnen Frage. Er muss also dafür Rede und Antwort stehen.
Der Kongress, also Repräsentantenhaus und Senat, steht oft – so auch
jetzt – zahlenmäßig in Opposition zur Regierung des Präsidenten. Er muss sich
in jeder Frage eigene Mehrheiten suchen. Vor allem Konservative und
Zentralismus feindliche Abgeordnete können den Präsidenten fast mutwillig blockieren.
So hat das Parlament in der aktuellen Wirtschaftskrise fast alle Rettungsmaßnahmen
verhindert, nur die Notenbank war handlungsfähig.
Viel wird auch über den Einfluss der Wirtschafts-Lobby spekuliert. Man denkt
dabei an die Dankbarkeit für die Unterstützung im Wahlkampf bis zu den
Verflechtungen von Wirtschaft und Wissenschaft. Auf einen Sonderfall, die Think
Tanks, gehe ich später noch ein. Manchmal kann man den Eindruck gewinnen, dass
die amerikanische Politik es besonders schwer hat, auf erkannte Trends zu
reagieren. Zwei Beispiele sind die demografische Struktur der Bevölkerung und
die Energieversorgung in der Zukunft
Internationales Umfeld
Wegen ihrer verstärkten Abhängigkeit von fremden Rohstoffen, vor allem
Öl und Gas, fühlen sich die USA von einer neuen Achse China – Russland - Iran herausgefordert.
Es ist kein Geheimnis mehr, dass China sich in allen Weltregionen aktiv engagiert
bei der Sicherung von Ressourcen und Transportwegen. Russland kooperiert mit dem
Iran, sowohl technisch wie militärisch, China wohl nur technisch. China hat die
USA finanziell voll im Griff. Es besitzt 1134 Mrd. $ an amerikanischen Staatsanleihen.
Es gewinnt zusehends auch an militärischer Macht.
Kam es in der Vergangenheit zu Spannungen, scheuten die USA nicht vor Alleingängen
zurück. Sie taten es jedoch nur da, wo keine Kooperation mit Partnern möglich
war. Dies scheiterte entweder an Kapazität oder Interesse. Die Kapazitätsfrage
wird klar, wenn man bedenkt, dass außer den USA nur vier andere Länder mehr als
2% des BIP für Rüstung ausgeben. Es sind dies England, Frankreich, Griechenland
und Albanien (!). Alle Aufforderungen an andere NATO-Mitglieder sich stärker zu engagieren, verhallten bisher, außer im Falle Afghanistans.
Da sich im Afghanistan-Konflikt das Nachbarland Pakistan als
unzuverlässiger Partner erwies, hat die USA ihn abgeschrieben. Sie führt auf
seinem Territorium inzwischen einen Drohnenkrieg, dessen Blutzoll nur auf
amerikanischer Seite gering ist. Ein möglicher Ersatz könnte Indien sein. Nur
Indien wäre in der Lage, Afghanistan nach dem Abzug der Alliierten zu sichern.
Langfristig richten sich die Hoffnungen der USA auf Japan, Südkorea,
Indien, Australien und Neuseeland. Ob dies heißt, dass die NATO globalisiert
wird, oder eine andere Form der Zusammenarbeit besser ist, ist sekundär.
Jedenfalls zeigen die USA inzwischen mehr Interesse an Asien als an Europa. Asien
wird nämlich im Jahre 2020 ein größerer Wirtschaftsraum sein als die EU,
unabhängig vom Ausgang der Eurokrise.
Der Arabische Frühling scheint zu einer Enttäuschung zu werden.
Anscheinend spült er überall die Muslim-Bruderschaft an die Macht, so in Ägypten
und Libyen. In Südamerika denken weder Brasilien noch Venezuela daran,
weiterhin im Hinterhof der USA zu verharren. Erstaunlich ist der Wandel
Kanadas. Es ist zum Energielieferanten Nummer 1 für die USA geworden.
Zukunftsperspektiven des Landes
Aus dem Wandel der demografischen Struktur ergeben sich die Notwendigkeiten
der Bildungsförderung und der staatlichen Altersversorgung. Ebenso groß sind
die Herausforderungen, die sich für die Energie-Sicherung der Zukunft stellen.
Das Umsteuern vom Öl zu regenerativen Energien (engl. low carbon economy) reduziert
die externen Abhängigkeiten. Die Bio-Treibstoffe stellen eine Chance für die
US-Landwirtschaft dar.
Da gerade der Wahlkampf der beiden Präsidentschaftskandidaten in vollem
Gange ist, werden diese sich bestimmt Gedanken über die Zukunft ihres Landes
machen. Es hätte mich sehr gereizt,
etwas mehr darüber zu erfahren. Da der Autor den Patienten nicht zu sehr
belasten will, hält er sich zurück. Möge der Patient zunächst einmal genesen.
Politikberatung als
Dienstleistung
Seit 1980 gibt es in den USA etwa 300 Think Tanks. Der deutsche
Ausdruck ‚Denkfabriken‘ hat keinen sehr positiven Klang. Es geht darum, durch
Spezialisierung einen Wissensvorsprung zu schaffen, einen Mehrwert, der sonst
nicht entsteht. Wie sich die Wirtschaft von der reinen Fertigung zu
Dienstleistungen in der Form von Schulung und Beratung weiterentwickelt, so ist
eine Gesellschaft gut dran, wenn sie sich außer der Daseinsfürsorge auch Köpfe
leisten kann, die für sie denken.
Da der Autor gerade bei einem Think Tank angestellt ist, meint er spezifische
Ratschläge geben zu können. Die von Hause aus schwachen Parteien müssen sich im
Falle eines Wahlsieges Verstärkung holen. So kann der Weg statt über Stadt- und
Regionalparlamente auch über diesen Weg zu politischen Ämtern führen. Will man
zukünftige politische Entscheider kennenlernen, so rät Braml dazu, nicht nur
Parteien sondern auch Think Tanks zu infiltrieren.
Mein Genesungswunsch
Manche Amerikaner erscheinen uns zwar als übergewichtig, sie sind
dennoch vital. Es ist richtig, dass bei ihnen die alte Wirtschaft zuerst kränkelte.
Nirgends auf der Welt entstehen jedes Jahr jedoch so viele neue Firmen und neue
Branchen wie in den USA. Von keinem Land sind wir so abhängig, wenn es um neue
Produkte und Geschäftsideen geht. Unser Alltag wäre langweiliger, unsere
Kontakte zu andern Menschen ärmer und unsere Geschäfte umständlicher.
Manchmal müssen Amerikaner sich selbst daran erinnern, dass sie Dinge
sogar im Alleingang schaffen, wo andere als Gemeinschaftsprojekt eines Staatenbundes
nicht daran denken können. Die Landung der Raumsonde Curiosity auf dem Mars fällt
in diese Kategorie. Wer sonst könnte uns Bilder
vom Schwenken der Räder im Mars-Geröll zeigen, so wie gestern früh auf meinem Smartphone
geschehen.
Representative Democracy requires sufficient agreement on goals and methods to enable HANDLUNGSFAEHIGKEIT. Not only has that been lacking since at least 2003 in the USA, but the polarization of the parties has increased to the point that even the most simple legislative needs go unaddressed. This is the kind of a moment historically when either more power is ceded to the executive branch (President) or the country falls into pieces of ever reduced significance.
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