Donnerstag, 23. August 2012

Kranker Mann am Potomac?

So oder so ähnlich wird einer der nächsten zehn Buchtitel über die USA lauten. Das Buch von Josef Braml Der amerikanische Patient, das dieses Jahr erschien, greift da schon mal vor. Nach mehreren Beiträgen in diesem Blog über die Eurokrise sollte man die Schieflage der USA nicht außer Acht lassen. Die USA sind höher verschuldet als alle Euroländer zusammen. Dennoch ist die Situation eine ganz andere. Ruft der Titel von Braml nur Assoziationen mit dem Spielfilm Der englische Patient von 1996 hervor, so greift mein Titel über 120 Jahre zurück. Der osmanische Sultan galt damals als der ‚Kranke Mann am Bosporus‘. Er musste um 1890 mit ansehen, wie sein Reich an Einfluss verlor, und neue Mächte wie England, Deutschland, Frankreich, Österreich  und Russland in die dadurch entstandene Lücke vordrangen. Die historischen Dimensionen des in den USA anstehenden Wandels erinnern schon eher an den Untergang einer Weltmacht als an den Fieberanfall eines einzelnen Patienten.

In unserer Generation, also seit dem Zweiten Weltkrieg, nahmen die USA für die gesamte Welt eine Ordnungsfunktion wahr. Sie boten Sicherheit, offenen Handel und eine Leitwährung. Dafür erhielten sie Anerkennung, Respekt und – schon etwas seltener – auch Sympathie. Nach Braml sind die USA gerade dabei diese Rolle aufzugeben bzw. zu verlieren. Da dies die berühmten Spatzen längst von allen Dächern pfeifen, fragt man sich, was man an besonderen Einsichten gewinnt, wenn man dieses Buch liest. Da es weniger als 170 Seiten hat, hält sich der benötigte Zeitaufwand im Rahmen. Da es, je nach Vorkenntnis, andere Dinge sind, die einem neu sind, lohnt sich daher die Lektüre. Im Folgenden wird im Wesentlichen die Sicht Bramls wiedergegeben, hin und wieder ergänzt durch eigene Beobachtungen.

Primäre Krankheitssymptome

Aus Sicht dieses Arztes sind es mehrere Symptome, die gleichzeitig auftreten. Es ist daher schwer, wenn nicht unmöglich, eine bestimmte Erkrankung zu diagnostizieren. Er lässt daher mehrere Möglichkeiten zu. Ganz eindeutig sind die Stress-Symptome. Sie sind Folge zweier gerade verlorener Kriege, dem im Irak und dem in Afghanistan. Die Verluste, sowohl in Geld wie im Blutzoll, sind exorbitant. Die finanziellen Kosten belaufen sich auf über zwei Billionen, also 2000 Milliarden US-Dollar. Die Zahl der Kriegstoten nur auf amerikanischer Seite betrug etwa 6.000. Ein Vielfaches davon ist körperlich oder mental als Kriegsverletzter anzusehen.

Die finanzielle Erschöpfung und Atemlosigkeit wird deshalb umso weniger verkraftbar, weil die Wirtschaft aus dem Tritt geraten ist. Dafür sind langfristige und kurzfristige Veränderungen des Landes oder des Umfelds schuld. Nur ein Teil davon ist hausgemacht. Ein Großteil wird von außen verursacht. Die Wirtschaft ist immer weniger sich selbst genügend, also autark. Ein Kraftprotz erlebt, dass auch er Grenzen hat. Gelenkschmerzen, ja Schwindelgefühle soll er haben. Ganz deutlich sind die Anzeichen einer gewissen Depression.

Finanz- und Währungssituation

Die Staatsverschuldung der USA hat einen Umfang erreicht, dass an deren Tilgung nicht mehr zu denken ist. Das Haushaltsdefizit beträgt 1300 Mrd. US$ allein für den Bund, oder 90% des BIP. Dazu kommt vermutlich der gleiche Betrag für die Bundesstaaten und die Kommunen.

Anstatt einen Sparkurs einzuschlagen, wie dies einige deutsche und nordeuropäische Regierungsmitglieder ihren Partnern in der EU raten, verfolgt die Fed, die amerikanische Notenbank, seit den Zeiten von Alan Greenspan einen rein expansiven Kurs. Sein Nachfolger Ben Benarke ist bekennender Keynes-Anhänger. Seine Geldpolitik bekam den Namen 'quantitative easing' (auf Deutsch: Erleichterung durch mengenmäßige Steuerung). Der Zinssatz der Fed liegt um oder unter 0,25%. Außerdem kauft sie Schrottpapiere auf, ohne zu zögern.

Niemand muss jedoch die Sorge haben, dass die USA irgendwann ihre Zahlungsfähigkeit verlieren, also pleitegehen. Der einzige Ausweg für die USA ist die Inflation. Dazu wird es mit Sicherheit kommen, aber nur sehr langsam. Der Grund hierfür ist die Tatsache, dass der Dollar als Leitwährung den Wert zu vieler Vermögen auf der ganzen Welt bestimmt. Alle Ölscheichs und autokratischen Herrscher dieser Welt würden ärmer, verlöre der US-Dollar an Wert. Die Kehrseite davon ist: Wer immer Dollar kauft, hilft den Bürgern der USA weiterhin über ihre Verhältnisse zu leben. Sie bekommen Importe, selbst aus Entwicklungsländern, zu Vorzugspreisen. Die im Klappentext des Buches gestellte Frage 'Was passiert, wenn Amerika pleitegeht?' ist unsinnig. Sie wird auch im ganzen Buch nirgends adressiert, und zwar mit Recht.

Struktur der Wirtschaft

Der amerikanische Wirtschaftsraum ist im Vergleich zu andern Ländern enorm groß. Es besteht daher kein Zwang zum Export, etwa wie in Deutschland. Als Folge davon wird die Wirtschaft primär durch den inländischen Konsum bestimmt. An der Kasse von Macy’s, einer Einzelhandelskette so wie Aldi, konnte man feststellen, wie es der Weltwirtschaft geht. Die Kauflust amerikanischer Hausfrauen war daher das beste Konjunkturbarometer.

Kam es zu Krisen, waren es – laut Braml – immer zwei Branchen, die früher als Zugpferde halfen, aus der Krise herauszukommen: Automobil und Immobilien. Allein an Immobilien hänge Dreiviertel der Wirtschaft. In der augenblicklichen Krise seien beide Branchen, also Automobil und Immobilien, Teil des Problems. Schon länger ist es besonders uns Deutschen aufgefallen, dass amerikanische Autos ihre Attraktivität verloren haben. Deshalb bauten Honda, Toyota, BMW und Mercedes eine Fabrik nach der andern in den USA. Mit schuld am Verschwinden amerikanischer Autos sind die gestiegenen Benzinpreise.

Da die Abhängigkeit der Wirtschaft und der Haushalte vom Öl in Amerika fast unverändert hoch ist, ergab sich daraus eine hohe Belastung der Handelsbilanz. Da die eigenen Vorräte aufgebraucht sind, musste immer mehr Öl importiert werden, und zwar zu steigenden Preisen. Welchen Einfluss dies auf die Außenpolitik hatte und hat, werde ich später kurz andeuten. Die inneramerikanische und gesellschaftliche Auswirkung sei auch nur angedeutet. Teure Benzinpreise reduzieren die früher sehr starke Mobilität der Amerikaner. Das hat Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt und die Stadtarchitektur.

Das Thema Immobilienmarkt möchte ich ganz überspringen. Generell ist festzuhalten, dass die USA bereit waren, in großem Umfang die Wertschöpfung durch Produktion aufzugeben zugunsten von Dienstleistungen. In einem früheren Beitrag habe ich am Beispiel des mit 625 Mrd. US$ teuersten Unternehmens der Welt, der Firma Apple, gezeigt, welche Rolle die USA-Mutter noch spielt. Das ist nur eines von hunderten von Beispielen.

Für die Wirtschaft der USA ist zwar die Landwirtschaft nur noch von marginaler Bedeutung. Für die amerikanische Politik ist es jedoch anders – wie wir gleich sehen werden. Auch für die Welternährung und die Nahrungsmittelpreise ist sie nicht vernachlässigbar. Deshalb erfährt die aktuelle Trockenperiode große Aufmerksamkeit, reduzieren sich dadurch nämlich Mais- und Weizenernten.

Bevölkerungsstruktur

Die USA waren stets attraktiv für unternehmungslustige Individuen auf der ganzen Welt. In den letzten zehn Jahren stieg die Einwanderung fast kontinuierlich. Die Herkunft verschob sich immer mehr in Richtung spanischsprechender Mittel- und Südamerikaner. Der Bildungsgrad nahm ab. Schwarze Amerikaner, die zum ersten Mal den Präsidenten stellen, sind nur noch die zweitstärkste Minderheitengruppe.

Längst hat man sich daran gewöhnt, dass in Natur- und Ingenieurwissenschaften fast nur noch Professoren veröffentlichen, die entweder aus China, Indien, dem Iran oder dem Nahen Osten eingewandert sind.

Infolge der liberalistischen Tradition liegt die USA, was die gesellschaftliche Ungleichheit betrifft, nur noch vor Chile, Mexiko und der Türkei, soweit dies in OECD-Ländern gemessen wurde. Ein besonders trauriges Kapitel sind Delikte und Verbrechen. Die Zahl der Gefängnisinsassen hat sich in den letzten 10 Jahren auf 2,4 Mio. vervierfacht.

Politik als Mechanismus

Uns Europäer wundert es manchmal, dass Politiker ohne jede Auslandserfahrungen sich um das Amt des Präsidenten bewerben. Das letzte Beispiel war Sarah Palin, die ehemalige Gouverneurin von Alaska. Ähnlich schwer einzuordnen sind die diversen politischen Strömungen, sei es die Tea Party, die christlichen Konservativen oder die jüdischen Ärzte und Juristen.

Der Autor weist darauf hin, dass die amerikanische Politik wesentlich mehr von den dünnbesiedelten ländlichen Regionen bestimmt wird, als von den dicht besiedelten Ballungszentren. Er sieht dafür zwei Gründe. Aus der Gründerzeit der Union ist der föderale Charakter in der Verfassung sehr ausgeprägt. Die Abgeordneten aus kleinen Staaten haben – genau wie in der EU – ein unverhältnismäßig hohes Gewicht. Andererseits sind die Parteien, die einen stärkeren Gesamtrahmen der Politik festlegen könnten, sehr schwach. Die Legislative verfügt nicht über Parteisoldaten, alle Abgeordneten und Senatoren sind sozusagen Einzelunternehmer. Das Wahlvolk verfolgt ihr Abstimmungsverhalten bei jeder einzelnen Frage. Er muss also dafür Rede und Antwort stehen.

Der Kongress, also Repräsentantenhaus und Senat, steht oft – so auch jetzt zahlenmäßig in Opposition zur Regierung des Präsidenten. Er muss sich in jeder Frage eigene Mehrheiten suchen. Vor allem Konservative und Zentralismus feindliche Abgeordnete können den Präsidenten fast mutwillig blockieren. So hat das Parlament in der aktuellen Wirtschaftskrise fast alle Rettungsmaßnahmen verhindert, nur die Notenbank war handlungsfähig.

Viel wird auch über den Einfluss der Wirtschafts-Lobby spekuliert. Man denkt dabei an die Dankbarkeit für die Unterstützung im Wahlkampf bis zu den Verflechtungen von Wirtschaft und Wissenschaft. Auf einen Sonderfall, die Think Tanks, gehe ich später noch ein. Manchmal kann man den Eindruck gewinnen, dass die amerikanische Politik es besonders schwer hat, auf erkannte Trends zu reagieren. Zwei Beispiele sind die demografische Struktur der Bevölkerung und die Energieversorgung in der Zukunft

Internationales Umfeld

Wegen ihrer verstärkten Abhängigkeit von fremden Rohstoffen, vor allem Öl und Gas, fühlen sich die USA von einer neuen Achse China – Russland - Iran herausgefordert. Es ist kein Geheimnis mehr, dass China sich in allen Weltregionen aktiv engagiert bei der Sicherung von Ressourcen und Transportwegen. Russland kooperiert mit dem Iran, sowohl technisch wie militärisch, China wohl nur technisch. China hat die USA finanziell voll im Griff. Es besitzt 1134 Mrd. $ an amerikanischen Staatsanleihen. Es gewinnt zusehends auch an militärischer Macht.

Kam es in der Vergangenheit zu Spannungen, scheuten die USA nicht vor Alleingängen zurück. Sie taten es jedoch nur da, wo keine Kooperation mit Partnern möglich war. Dies scheiterte entweder an Kapazität oder Interesse. Die Kapazitätsfrage wird klar, wenn man bedenkt, dass außer den USA nur vier andere Länder mehr als 2% des BIP für Rüstung ausgeben. Es sind dies England, Frankreich, Griechenland und Albanien (!). Alle Aufforderungen an andere NATO-Mitglieder sich stärker zu engagieren, verhallten bisher, außer im Falle Afghanistans.

Da sich im Afghanistan-Konflikt das Nachbarland Pakistan als unzuverlässiger Partner erwies, hat die USA ihn abgeschrieben. Sie führt auf seinem Territorium inzwischen einen Drohnenkrieg, dessen Blutzoll nur auf amerikanischer Seite gering ist. Ein möglicher Ersatz könnte Indien sein. Nur Indien wäre in der Lage, Afghanistan nach dem Abzug der Alliierten zu sichern.

Langfristig richten sich die Hoffnungen der USA auf Japan, Südkorea, Indien, Australien und Neuseeland. Ob dies heißt, dass die NATO globalisiert wird, oder eine andere Form der Zusammenarbeit besser ist, ist sekundär. Jedenfalls zeigen die USA inzwischen mehr Interesse an Asien als an Europa. Asien wird nämlich im Jahre 2020 ein größerer Wirtschaftsraum sein als die EU, unabhängig vom Ausgang der Eurokrise.

Der Arabische Frühling scheint zu einer Enttäuschung zu werden. Anscheinend spült er überall die Muslim-Bruderschaft an die Macht, so in Ägypten und Libyen. In Südamerika denken weder Brasilien noch Venezuela daran, weiterhin im Hinterhof der USA zu verharren. Erstaunlich ist der Wandel Kanadas. Es ist zum Energielieferanten Nummer 1 für die USA geworden.

Zukunftsperspektiven des Landes

Aus dem Wandel der demografischen Struktur ergeben sich die Notwendigkeiten der Bildungsförderung und der staatlichen Altersversorgung. Ebenso groß sind die Herausforderungen, die sich für die Energie-Sicherung der Zukunft stellen. Das Umsteuern vom Öl zu regenerativen Energien (engl. low carbon economy) reduziert die externen Abhängigkeiten. Die Bio-Treibstoffe stellen eine Chance für die US-Landwirtschaft dar.

Da gerade der Wahlkampf der beiden Präsidentschaftskandidaten in vollem Gange ist, werden diese sich bestimmt Gedanken über die Zukunft ihres Landes machen.  Es hätte mich sehr gereizt, etwas mehr darüber zu erfahren. Da der Autor den Patienten nicht zu sehr belasten will, hält er sich zurück. Möge der Patient zunächst einmal genesen.

Politikberatung als Dienstleistung

Seit 1980 gibt es in den USA etwa 300 Think Tanks. Der deutsche Ausdruck ‚Denkfabriken‘ hat keinen sehr positiven Klang. Es geht darum, durch Spezialisierung einen Wissensvorsprung zu schaffen, einen Mehrwert, der sonst nicht entsteht. Wie sich die Wirtschaft von der reinen Fertigung zu Dienstleistungen in der Form von Schulung und Beratung weiterentwickelt, so ist eine Gesellschaft gut dran, wenn sie sich außer der Daseinsfürsorge auch Köpfe leisten kann, die für sie denken.

Da der Autor gerade bei einem Think Tank angestellt ist, meint er spezifische Ratschläge geben zu können. Die von Hause aus schwachen Parteien müssen sich im Falle eines Wahlsieges Verstärkung holen. So kann der Weg statt über Stadt- und Regionalparlamente auch über diesen Weg zu politischen Ämtern führen. Will man zukünftige politische Entscheider kennenlernen, so rät Braml dazu, nicht nur Parteien sondern auch Think Tanks zu infiltrieren.

Mein Genesungswunsch

Manche Amerikaner erscheinen uns zwar als übergewichtig, sie sind dennoch vital. Es ist richtig, dass bei ihnen die alte Wirtschaft zuerst kränkelte. Nirgends auf der Welt entstehen jedes Jahr jedoch so viele neue Firmen und neue Branchen wie in den USA. Von keinem Land sind wir so abhängig, wenn es um neue Produkte und Geschäftsideen geht. Unser Alltag wäre langweiliger, unsere Kontakte zu andern Menschen ärmer und unsere Geschäfte umständlicher.

Manchmal müssen Amerikaner sich selbst daran erinnern, dass sie Dinge sogar im Alleingang schaffen, wo andere als Gemeinschaftsprojekt eines Staatenbundes nicht daran denken können. Die Landung der Raumsonde Curiosity auf dem Mars fällt in diese Kategorie. Wer sonst könnte uns Bilder vom Schwenken der Räder im Mars-Geröll zeigen, so wie gestern früh auf meinem Smartphone geschehen.

1 Kommentar:

  1. Representative Democracy requires sufficient agreement on goals and methods to enable HANDLUNGSFAEHIGKEIT. Not only has that been lacking since at least 2003 in the USA, but the polarization of the parties has increased to the point that even the most simple legislative needs go unaddressed. This is the kind of a moment historically when either more power is ceded to the executive branch (President) or the country falls into pieces of ever reduced significance.

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