Freitag, 3. August 2012

Euro-Krise zwischen Wissenschaft, Politik und Vernunft

Die so genannte Euro-Krise hat uns schon bald zwei Jahre im Griff. Es handelt sich dabei nicht um eine Krise des Euro, – wie man meinen könnte – sondern um eine Krise einiger Volkswirtschaften, die den Euro als Zahlungsmittel verwenden. In einem Beitrag gegen Ende letzten Jahres, der sich auch mit dem Thema beschäftigte, schrieb ich:

Wer im Moment uneingeschränktes Vertrauen genießt, sind die Zentralbanken, also die EZB, die Europäische Zentralbank, und die Fed, die amerikanische Notenbank. …Sie definieren das Geld an sich. Sie erhöhen oder reduzieren die Geldmengen, die im Umlauf sind. Zumindest nimmt man das an. Wird mal erkannt, dass sie das kaum noch tun, ist auch ihr Ruf dahin. …Erst wenn der Glaube an die Macht der EZB erschüttert wird, gerät der Euro wirklich in eine Krise.

Es scheint, als ob jetzt der Ruf der EZB angekratzt werden soll. Gestern stellte EZB-Chef Mario Draghi – zwar noch etwas zögernd – seine Doppelstrategie vor. EZB und ESM wollen demnach den Kauf von Staatsanleihen aus Krisenländern koordinieren, so heißt es. Gleichzeitig ist zu lesen, dass die deutsche Regierung, die FDP und der Bundesverband der Deutschen Industrie strikt dagegen seien. Wirtschaftswissenschaftler werden noch nicht zitiert. Vielleicht melden sich diese in einigen Tagen zu Wort. Wissenschaftler benötigen meist etwas länger als Politiker und Manager, um sich eine Meinung zu bilden. Normalerweise ist diese dann auch besser begründet. Leider ist jedoch von Wissenschaftlern in der augenblicklichen Situation nicht viel Erhellendes zu erwarten. Die Probleme, mit denen man es heute zu tun hat, sind nicht exakt vergleichbar mit denen, die die Wissenschaft bisher analysiert hat. Deshalb sind ihre Vertreter so unsicher.

Da Ben Bernanke, der Chef der Fed, die Wirtschaftskrise der 1930er Jahre gründlich studiert hat, weiß er, was damals falsch gemacht wurde. Bewiesenermaßen falsch war die Sparpolitik, die bei uns mit dem Namen Heinrich Brüning verbunden ist. Das Gegenmittel heißt Keynes, und nochmals Keynes. Etwas anderes kennt man nicht, oder ist nicht wissenschaftlich fundiert. Also muss man die Tore aufmachen, und den Markt mit Geld überfluten. Das machen die Amerikaner seit Jahren. SPD und Gewerkschafter tendieren schon immer in die Richtung, dass nur der Staat in der Lage ist, die Wirtschaft zu lenken.

Brüning konnte Hitler bekanntlich nicht aufhalten. Hitlers Methode, mit der er die Wirtschaftskrise bekämpfte, war ein durchschlagender Erfolg. Es war Planwirtschaft, wie sie im Buche steht. Aber er hat sich durch andere Ansichten und Maßnahmen diskreditiert. Bei uns trauen sich Wirtschaftswissenschaftler weder die Methode Brüning (sturer Konservatismus!) noch die Methode Bernanke (dumme Amerikaner!) gutzuheißen, von Hitlers Methode ganz zu schweigen. Sagen sie etwas, was dazwischen liegt, verlassen sie festen Grund. Sie führen oft waghalsige Seiltänze auf.

Ob man überhaupt noch einem Wissenschaftler zuhört, hängt meist damit zusammen, wo er politisch steht, und was er früher gesagt hat. Nur drei Beispiele. Thomas Straubhaar ist ein liberaler Schweizer und denkt unabhängig. Was er sagt, macht oft Sinn. Hans-Werner Sinn, der IFO-Chef, liebt es, die Kassandra zu spielen. Nach seiner Meinung ging die deutsche Wirtschaft in den letzten 10 Jahren schon dreimal unter. Zuerst verlor sie ihre Substanz (als Basar), dann wurde sie von Bankern (im Casino) ihres Kapitals beraubt, und schließlich von der Regierung zu Tode reguliert. Peter Bofinger vertritt die Gewerkschaften und plädiert für Keynes. Ehe er den Mund aufmacht, weiß man bereits, was kommt, egal, was die Situation ist. Es gibt einige Politiker, die glaubten, dass Wissenschaft etwas mit Wahrheit zu tun hätte. Diese Politiker (und Bürger) sind enttäuscht oder verunsichert. Wenn die Wissenschaftler nur durcheinander reden, dann können wir sie gleich vergessen. War es doch schön  ̶  denken einige  ̶  als auch die Wissenschaft ‚gleichgeschaltet‘ war. Das war der Ausdruck, den man während der Nazizeit benutzte, um mögliche Abweichler von vornherein ins Glied zu holen.

Im Leben gilt nicht nur die Wissenschaft. Meist gibt es ein Spektrum von Sichten, das unser Handeln bestimmt. Es beginnt manchmal mit Wissenschaft, öfter endet es dort. Manche Leute handeln rein kommerziell. Zahlt sich das, was ich tue, auch aus? Andere Leute denken an die Wirkung ihres Handels. Was hat das, was ich tue, für Folgen für meine Freunde, meine Landsleute oder meine Mitmenschen? Manche denken sogar an Ungeborene, also über unsere Generation hinaus. Wieder andere lassen sich davon leiten, was sie für gerecht, moralisch oder gar gut halten. Da diese Begriffe schwer zu präzisieren sind, können sich auch diese Leute irren.

Die derzeitige Bundesregierung, vertreten durch die Kanzlerin und den Finanzminister, scheint sich von einem Bauchgefühl lenken zu lassen, das näher an Brüning als an Keynes liegt. Das ist sehr gut nachzuvollziehen. Das Bild der ‚schwäbischen Hausfrau‘ kommt in einigen Kreisen immer noch gut an. Dass beide Politiker dabei warnend den Zeigerfinger heben, wird ihnen, vor allem im Ausland, sehr verübelt. ‚Deutsche Politiker wirken oft moralisierend‘ meint ein belgischer Wirtschaftswissenschaftler. Das ist höflich gesagt. Der Pöbel auf griechischen Straßen drückt es anders aus.

Manche Politiker behaupten, dass den deutschen Wähler die 13 Weimarer Jahre (1919-1932) mehr belasten als die 12 Hitlerjahre (1933-1945). Eine Inflation von 2% mache ihnen daher mehr Angst als der Groll aller Griechen, Italiener und Spanier. Diese deutsche Haltung mag schwer verständlich sein. Davon ungeachtet, gibt es Erwartungen, die uns nicht überraschen sollten. Wir erreichen niedrige Zinssätze für unsere Staatsschulden, weil andere Länder weniger sicher sind als wir. Dort kann man sogar sein Geld verlieren. Wenn wir so gut sind, dass wir bald auf Staatsschulden verzichten können, warum regen wir uns auf, wenn die Zinsen für mögliche Schulden anwachsen? Vielleicht glauben wir selbst nicht an die Schuldenbremse, die wir anderen zur Nachahmung empfohlen haben.

Es ist schon recht eindrucksvoll. Fast alle noch aktiven Politiker vereint in dieser Situation ein gewisses Maß an Verantwortungsgefühl. Ob das Verfassungsgericht dies als relevant ansieht, muss sich noch zeigen. Anders sieht es bei einigen ehemaligen Politikern aus. Sie fühlen sich von Skrupeln unbehelligt. Sowohl Hans-Olaf Henkel wie Thilo Sarrazin fühlen sich frei, das zu fordern, was ihnen logisch erscheint. Henkel möchte die Gemeinschaft der Europäer beenden, so wie Leute eine Ehe beenden, wenn die Fortführung unbequem wird. Dabei sagt er gleich dazu, wer die Guten und wer die Bösen sind. Sarrazin beweist, dass die Sache sich nicht rechnet. Wir machten uns zu viel Arbeit für eine Sache, die sich nicht lohnt. Da ich beiden glaube, dass ihre Rechnungen stimmen, habe ich ihre Bücher auch nicht gekauft oder gar gelesen.

Auch die Medien spielen eine etwas seltsame Rolle. Sie scheinen Lust daran zu finden, über den angeblichen Brand des europäischen Hauses zu berichten. Dabei wirken sie als Brandbeschleuniger. Jetzt kommen Berichte aus Sizilien über Zustände, die dort schon seit Jahrzehnten üblich sind. Der SPIEGEL sieht sich die Autobahnen und Flugplätze in Spanien an, die in den letzten 10 Jahren gebaut wurden, und stellt fest, dass da wenig Verkehr ist. In der Bundeshauptstadt Berlin reihte sich in den letzten Jahrzehnten fast ein Skandal an den andern. Allmählich war es für die staatstragenden Medien nicht mehr interessant, darüber zu berichten. Gerade wurde das Flughafenprojekt als neuer Sumpf entdeckt. Kostenüberschreitungen um bis zu 300% hätte man am liebsten verschwiegen. Dass das Startdatum sich um Jahre verschiebt, ließ sich nicht unter den Teppich kehren. Desgleichen kann bisher aus Spanien nicht berichtet werden.

Vor lauter Unsicherheit darüber, wie die so genannte Euro-Krise zu lösen ist, hilft es auch wenig gleichzeitig noch über die Ursachen zu reden. Die Nachwelt wird ohnehin der Erklärung Glauben schenken, die am überzeugendsten vorgetragen wird. Da die Wissenschaft als Problemlöser offensichtlich versagt, ist es am besten, kleine vorsichtige Schritte zu unternehmen. Dass dies Jahre, ja Jahrzehnte dauern kann, scheint einigen Leuten zu dämmern. Es mag uns sogar missfallen. Daher ist es nicht falsch, auch begleitende Maßnahmen ins Auge zu fassen.

Die Wirtschaftskrise der 1930er Jahre lehrte uns, dass außer viel Vermögen auch sehr schnell viel politische Kultur verloren gehen kann. Dem sollte vorgebeugt werden. Warum überlegen wir uns keine vertrauensbildenden Maßnahmen? Anstatt Abwrackprämien für alte Autos ließen sich Industrie-Praktika bei deutschen Unternehmen fördern für junge Griechen, Portugiesen und Spanier. Natürlich müssten die Empfängerländer ebenso viel investieren wie die Geberländer. Umgekehrt könnte man in Erwägung ziehen, Schulklassen den Besuch von Athen, Florenz oder Madrid statt von Berlin nahezulegen. Es würde dann klarer, dass das vielgerühmte Europäische Erbe nicht allein aus der Sicht Preußens gesehen werden muss.

So wie der Marshall-Plan für das am Boden liegende Europa als Wohltat empfunden wurde, könnten gezielte Hilfen für Länder an der europäischen Peripherie wie Griechenland und Portugal nützlich sein. Es war damals ein Akt der Vernunft oder der politischen Weisheit. Um einem unserer älteren Politiker ein Denkmal zu setzen, schlage ich dafür die Bezeichnung ‚Helmut-Schmidt-‘ oder ‚Hans-Dietrich-Genscher-Plan‘ vor. Die Namen von Westerwelle oder gar Rösler würden schlecht passen.

 
Am 3.8.2012 schrieb Hartmut Wedekind aus Darmstadt:

Man lächelt mittlerweile  ja nur noch milde, wenn man hört, was da passiert und vorgeschlagen wird. Ist das schon Panik-Stimmung? Steht den Euro-Protagonisten qua Amt oder aus politischer, zwangsweise optimistischer Überzeugung das Wasser schon bis zum Hals?

Inflation 2 %? Ich bekomme von meiner Sparkasse z.Z. 1,2% Zinsen. Der übliche Nicht-Krisen-Zinsfuß liegt aber bei 4 % und höher. Ich zahle also jetzt schon rund 4% Solidarbeitrag für Griechenland und andere Krisenverursacher. Das sagt auch Herr Sarrazin. Wenn die vorhergesagten 2% mehr Inflation noch dazu kommen, sind das für den deutschen Sparer und die Rentenkassen 6 % Solidarität. Sagt das mal, auch von der SPD, dem deutschen Arbeiter.

Am besten man verkonsumiert alles als alter Sack. Schöne teure Weine in der Toskana mit der Toskana-Fraktion, das ist doch auch was. Und die Jugend geht vor die Hunde.

 
Ebenfalls am 3.8.2012 schrieb Peter Hiemann aus Grasse:

Mir scheint, dass die Mehrheit der Wirtschaftswissenschaftler nach wie vor davon ausgeht, dass im sogenannten Markt Gesetzmäßigkeiten dafür sorgen, jederzeit ökonomisches Gleichgewicht herzustellen. Dass der sogenannte Markt wellen-artigen Charakter mit mehr oder weniger dramatischen Höhen und Tiefen hat, ist den gleichen Gesetzmäßigkeiten zu „verdanken“.Solange die Höhen und Tiefen des sogenannten Marktes nur als ökonomisches Phänomen an der Börse Beachtung finden, macht sich der Normalsterbliche keine Gedanken, weil er nicht davon betroffen ist.

Die Eurokrise findet offensichtlich mehr Beachtung als ökonomische Krisen der Vergangenheit. Vor allem in Griechenland und Spanien hat die Krise bereits zu Situationen geführt, die der wirtschaftlichen Situation in Deutschland des Jahres 1931 nicht unähnlich sind.

„Die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland schien sich bis 1930 nicht von den Jahren zuvor zu unterscheiden. Die Zahl der Arbeitslosen lag 1927 bei etwa 1 Million; Ende September 1929 gab es 1,4 Millionen Arbeitslose, im Februar 1930 waren es 3,5 Millionen, was auf jahreszeitliche Schwankungen zurückgeführt wurde. Als diese Zahl wider Erwarten im Frühjahr 1930 nicht zurückging, hofften Reichsregierung und die Reichsbank noch lange auf eine Selbstheilung der Wirtschaft, obwohl die Arbeitslosenzahl schon Ende des Jahres mit 5 Millionen Arbeitslosen im weltweiten Vergleich auf höchstem Niveau stand. Erst als sich der geringe Rückgang Mitte 1931 nicht fortsetzte, wurde man sich der extremen Entwicklung der Krise vollends bewusst. Zu dieser Zeit lief Brünings Sparprogramm bereits auf vollen Touren. Die öffentlichen Gehälter wurden um 25 % vermindert und die Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe wurden stark gekürzt. Im Februar 1932 erreichte die Krise auf dem Arbeitsmarkt ihren Höhepunkt: Es standen 6.120.000 Arbeitslosen, also 16,3 % der Gesamtbevölkerung, nur 12 Mio. Beschäftigte gegenüber. Zu den Arbeitslosen könnte man auch noch die große Masse der schlecht bezahlten Kurzarbeiter und Angestellten zählen, aber auch die kurz vor dem Ruin stehenden Kleinunternehmer.“

Diesen Absatz habe ich Wikipedia entnommen. Die Information über die wirtschaftliche Entwicklung vor 1931 finde ich zusätzlich interessant, weil viele Leute in Deutschland in 2012 denken, sie werden schon von der globalen Eurokrise verschont bleiben.Ich möchte aber auch auf zwei grundsätzliche Unterschiede zwischen der Eurokrise und wirtschaftlichen Krisen der Vergangenheit hinweisen.

1. Der Eurokrise kann mit nationalen Währungsmodifikationen (Auf- und Abwertungen) nicht entgegengesteuert werden.

2. In der Eurokrise werden die Auswirkungen eines internationalen Finanzsystems sichtbar, das sich vom sogenannten „realen“ Wirtschaftssystem der Entwicklung, Produktion, Handel und Konsum von Gütern und Dienstleistungen komplett abgekoppelt hat. Es wird geschätzt, dass die umlaufende globale Kapitalmenge den Wert der tatsächlichen existierenden Werte des „realen“ Wirtschaftssystems um das Zehnfache übersteigt.

Historische Wirtschaftskrisen waren die Folge des „Platzens“ von „Spekulationsblasen“. Die Eurokrise ist eine Überschuldungskrise von Staaten. Auch die USA steckt in einer Überschuldungskrise. Die Überschuldungskrisen wurden 2008 nicht ausgelöst durch das Platzen der Subprime-Immobilienkredite in den USA. Es wurde in 2008 nur sichtbar, was die Finanzindustrie mit der leichtfertigen Handhabung von Schuldverschreibungen (und Spekulationen damit) angerichtet hatte, natürlich mit Hilfe immer verfügbarer Kreditnehmer.

Anmerkung (Bertal):  Ich wäre vorsichtiger. Ich vermute, es gibt viele Ursachen. In 30 Jahren werden die Ökonomen noch etwa 10 davon als signifikant ansehen. Könnte man wenigstens eine effektive Lösung benennen, wäre das ein enormer Erfolg der Theorie. Ohne Theorie hilft nur Probieren.

1 Kommentar:

  1. Am 4.8.2012 schrieb Otto Buchegger aus Tübingen:

    Meiner Meinung ist der Grundkonflikt nicht zwischen den Wirtschaftstheoretikern (ich vermeide den Begriff Wissenschaft, er passt schlecht) und Politikern, sondern zwischen Hartwährungs- und Weichwährungsländern. Diese beiden in ein gemeinsames Währungssystem zu pressen, war schlicht dumm und verantwortungslos, genauso wie die Aktivität von Herrn Verheugen auf Biegen und Brechen die Union zu vergrößern, ohne vorher eine Verfassung zu haben.

    Antwort (Bertal): Natürlich ist das, was Sie benennen, eine der Hauptursachen. Ich wollte den Blick primär auf die Therapien lenken. Da ist die Wissenschaft oder - wenn Sie so wollen - die Theorie gefragt. Da reden die Doktoren etwas durcheinander.

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