Mittwoch, 24. Juli 2019

Evolutionstheorie im Kreuzfeuer der Kritik – wenn auch etwas verspätet

Die auf Charles Darwin (1809-1882) zurückgehende Evolutionstheorie sorgte im 19. Jahrhundert für gewaltige geistige Turbulenzen. In mancher Hinsicht erschütterte sie das Weltbild der Zeitgenossen. Zweihundert Jahre später könnte man meinen, das sei alles ein alter Hut, das Thema sei gegessen. Dem scheint aber nicht so zu sein. Liest man Stefan Grafs Buch Darwin im Faktenscheck (2013, 380 Seiten) so bekommt man den Eindruck, dass Darwin uns gerade erst verlassen habe und der Meinungsstreit sei soeben voll entbrannt. Stefan Graf (*1961) hat Medizin und  Biologie an der FU Berlin studiert und arbeitet als Wissenschaftsjournalist. Mit etwas Mühe arbeitete ich mich durch den Wälzer. Immerhin gab es einige Punkte, an denen ich stutzte oder dazulernte.

Essenz der Darwinschen Theorie

Bei der biologischen Fortpflanzung kommt es immer wieder zu Veränderungen des Erbguts, fachlich als Mutationen im Genbestand (Genom) bezeichnet. Die Art, die Position und die Verteilung sind im Prinzip zufällig. Ihre Ausprägung und Wirkung im erzeugten Lebewesen, also dem Phänotyp, kann sehr unterschiedlich sein. Außerdem gibt  es Unterschiede aufgrund leichter Variationen desselben Gens, der so genannte Allele.

Welche Mutationen dem Phänotyp zum Vorteil gereichen, hängt von dessen Umwelt ab. Es ist die Umwelt, die selektiert, welche Mutationen sich zahlenmäßig stark oder weniger stark verbreiten, indem die Zahl der Phänotypen wächst oder schrumpft. Diejenigen Mutationen, deren Träger als Phänotyp Nachfolger zeugten, werden Teil des Genotyps nachfolgender Generationen. Änderungen des Genotyps von einer Generation zur andern sind meist minimal. Erst nach einer Reihe von Generationen können sie ins Gewicht fallen. Das Gesamtpaket der Gene, das Genom, und nicht ein einzelnes Gen, bestimmt, welcher Phänotyp für eine gewisse Situation gut oder schlecht vorbereitet ist. Der am besten angepasste hatte die besten Chancen zu obsiegen, d.h. zu überleben (engl,; survival of fittest). Aber auch alle Fehlentwicklungen erhalten eine Bewährungsprobe, oft für Jahrtausende.

Wer angepasst war, ist stets nur im Nachhinein zu beurteilen. Vorhersagen sind nicht möglich. Die Evolution tut nichts Aktives. Sie bewertet lediglich den Erfolg von Mutationen und Rekombinationen bei der Nahrungsbeschaffung, der Partnerwahl und der Fortpflanzung. Als Kernbegriffe der Evolution gelten Zufall, Fitness und Konkurrenz; entscheidend ist der Zeitfaktor.

Historische Leistung Darwins und spätere Erkenntnisse

Es bedurfte vermutlich der Besonderheit viktorianischer Naturforschung, um das Wirken des Zufalls ernst zu nehmen. Die Vorstellung, dass die Umwelt sich ändert, ohne dass wir wissen weshalb, war eben erst ins Bewusstsein der Menschheit gedrungen. Es war auch noch relativ neu, bei der Betrachtung der Erde und des Kosmos in  großen Zeitintervallen zu denken. In der biblischen Genesis lag der Tag Null der Schöpfung keine 10.000 Jahre zurück. Jetzt begann man in Jahrmillionen zu denken. Möglicherweise beeinflusste ihn auch die Sichtweise des Thomas Robert Malthus (1766-1834), der einen Trend zum Überschuss von Nachkommen und dadurch durch Ressourcen begrenzte Populationen konstatierte.

Im Altertum wurde eine in den Ergebnissen mit Darwin vergleichbare Deszendenztheorie von Herodot (480-420 vor Chr.) und Lukrez (94-53 vor Chr.) gelehrt. Die Kirche akzeptierte später nur die Allmacht Gottes als Schöpfer, und zwar nicht nur im einmaligen Akt sondern in laufender Wiederholung.

Darwin standen keinerlei Kenntnisse weder aus der Genetik noch aus der Epigenetik zur Verfügung, durch die viele der von ihm beobachteten Phänomene später erklärt wurden. Heute weiß man, dass jede einzelne Körperzelle eine volle Kopie der DNA besitzt. Entwirrt wäre sie ein Faden von mehr als zwei Metern Länge. Die drei Mrd. Bausteinpaare des Genoms eines höheren Lebewesens entsprechen einem Sprachumfang von 100 Bill. (10 hoch 14) Zeichen. Unterschiede in der Ausprägung ergeben sich durch An- und Abschalten einzelner Gene. Diese Genregulation ist das wahre Geheimnis des Lebens. Was lange als Schrott-DNA bezeichnet wurde, erweitert das Genom zum Epigenom. Aus der Genetik wird die Epigenetik. Mag die DNA des Schimpansen zu 98% identisch sein mit der des Menschen, so ist der Phänotyp dennoch ganz verschieden. Immerhin sind Änderungen an 2% der oben erwähnten 3 Mrd., also an 60 Mio. Positionen möglich.

Gegenargumente der Kreationisten und Sychronisten

Darwins Lehre stellte seinerzeit eine große Provokation dar, für alle jene, die den göttlichen Schöpfer unablässig am Werke sahen. Solange nicht für jede heute existierende Lebensform eine entsprechende Zwischenstufe gefunden ist, glauben die Darwin-Gegner, dass jede Form einen eigenen Akt der Schöpfung darstellt. Es kann in der Tat schwer sein, Fossilien von allen Zwischenschritten zu finden, da längst nicht alles, was existierte, auch in der Form von Fossilien Spuren hinterlassen hat. Andererseits muss man fragen, warum ein Schöpfer so viele ähnliche Schöpfungen wiederverwendet. Warum benutzen eine Kuh und eine Erbse dasselbe Enzym? Das muss eine eigenartige Marotte dieses Schöpfers sein. Wenn ein fertiger Flügel sich als nützlich erweist, um sich damit in die Lüfte zu erheben, so ist unklar, was immer den Anlass dazu ergab, die notwendigen Zwischenschritte zu vollziehen.

Zweifel an Darwins Modell äußerten nicht nur seine Zeitgenossen. Als einer der heutigen Angreifer wird Reinhard Eichelbeck mit seinem Buch Das Darwin-Komplott (1999, 379 Seiten) zitiert. Vor allem wirft man Darwin vor, die Schöpfung des Lebens ohne die Mitwirkung von Gott verkündet zu haben. Dabei hat Darwin zu der auch heute größtenteils unbeantworteten Frage, wie das Leben entstand, überhaupt nichts gesagt. Er versuchte lediglich zu erklären, wie sich die unterschiedlichen Formen des Lebens herausgebildet haben konnten. Ob es Gott gibt, können Darwinisten durchaus mit Ja beantworten. Nur wie er wirkt, da unterscheidet man sich von Kreationisten. Nicht der einzelne Phänotyp erfordert das Eingreifen des Schöpfers. Um den Prozess als Ganzes zu konzipieren und in Betrieb zu setzen, da sei göttliche Hilfe nicht auszuschließen meint der Autor.

Die Synchnonisten bezweifeln die der Evolution zugrunde liegende Zeitskala. So nehmen sie an, dass Menschen und Dinosaurier gemeinsam lebten. Nach dem neuestem Stand der Wissenschaft ist der Mensch (homo habilis) zwischen 1,5 und 2,0  Mio. Jahre alt. Die Dinosaurier starben vor etwa 65 Mio. Jahren aus.

Missdeutung als grausamer Überlebenskampf

Überleben können nicht nur die besseren Angreifer, sondern auch die besseren Verteidiger. Oft wird gesagt, der geile Macho genieße Vorteile. Aber auch er benötigt Kontrolle, Ethik und Sozialverhalten. Die Evolution rechtfertigt weder Terror noch Brutalität.  Menschlichkeit und Empathie tragen meistens weiter. Weder Kannibalismus noch die Kindestötung durch Harems-Herren lässt sich mit Darwin begründen, erst recht nicht das Töten von Juden durch die Nazis.

Der Egoismus ist eine Eigenart des Menschen. Er ist nicht aus Darwins Theorie ableitbar. Nur der Selbsterhaltungstrieb ist es. Die Natur hat es mehrmals geschafft, einer Spezies ein ausgeprägtes Sozialverhalten aufzuwingen. Es ist bei Insekten, also Bienen und Ameisen, unübersehbar. Es gibt es aber auch bei Säugetieren wie etwa den Nacktmullen. Bei dieser afrikanischen Nagetierart werden Staaten gebildet mit einer Königin an der Spitze und Wächtern, die sie bewachen.

Beispiele des Evolutionsprozesses

Außer den von Darwin studierten Galapagos-Finken kennen wir heute mehrere Beispiele, die den Evolutionsprozess eindrucksvoll belegen. Waren es bei den Finken 18 verschiedene Arten, die Darwin untersuchte, so kennt man in Ostafrika über 700 getrennte Arten des Buntbarschs. Infolge des Austrocknen der Seen wurden die Populationen immer wieder getrennt und verändert. Nach Phasen des Steigens des Wassers vermischten sich die Arten wieder. Von einer eigenen biologischen Art spricht man immer nur dann, wenn ihre Mitglieder gemeinsame Nachfahren haben können.

Eine durch eine einelne  Genveränderung entstandene Mutation ist bei Europäern die Laktose-Toleranz. Sie erfolgte vor rund 10.000 Jahren, als die aus Afrika eingewanderten Menschen damit begannen Viehzucht zu betreiben und Milchprodukte zu genießen. Die in Afrika verbliebenen Populationen besitzen diese Mutation nicht. Ähnlich interessant ist die Sichelzellen-Anämie. Nur wenn beide Elternteile diese Genveränderung aufweisen, sind die Nachkommen immun gegen Malaria. Hier lässt sich spekulieren, dass in ganz Afrika diese Genvariante gute Chancen gehabt hätte sich durchzusetzen, wäre kein anderes Malaria-Gegenmittel erfunden worden.

Ist die Evolution ein einmaliger Prozess?

Alles deutet darauf hin, dass die Evolution nur einmal stattgefunden hat. Dasselbe gilt für den Urknall und die Entstehung des Lebens. Das muss aber nicht so sein. Darüber darf spekuliert werden. Klar ist nur, dass jeder zweite Start zu gänzlich andern Ergebnissen führen wird, selbst dann wenn die Startbedingungen identisch sind.

Als Quintessenz lässt sich sagen: Der Mensch – aber auch jedes andere Lebewesen − ist das Ergebnis einer langer Folge von Zufallsmutationen, die selektiert wurden. Das bisherige Ergebnis ist beachtlich. Je nach Standpunkt wünscht man sich, dass die vorhandenen Verbesserungsfähigkeiten ausgenutzt werden.


Nachtrag von Peter Hiemann vom 25.7.2019

Es ist bewundernswert, dass Charles Darwin mit seinen Methoden ohne genetische Kenntnisse den Mut hatte, eine Evolutionstheorie zu formulieren. Heute wissen wir, dass die evolutionären Prozesse Replikation, Variation und Selektion die Vielfalt biologischer Arten bewirkt haben. Der Blog-Eintrag 'Evolutionstheorie im Kreuzfeuer der Kritik' hat mich veranlasst, einige Überlegungen zum Thema 'biologische Evolution' beizusteuern.

Schon der Physiker Erwin Schrödinger war überzeugt, dass die wesentliche Eigenschaft des Lebens darin bestehe, Ordnung von Generation zu Generation weiterzugeben. Da die materielle Verkörperung dieser Ordnung offenbar Platz findet in einer einzelnen Zelle, müsse sie in Gestalt eines 'Codes' gespeichert sein. Einige systemische Aspekte sind entscheidend, um das Phänomen der biologischen Evolution zu erfassen:

(1) Physikalische Aspekte

Rund 100 Jahre nach Charles Darwins Theorie “Über die Entstehung der Arten“ gelang dem Molekularbiologen James Watson und dem Biochemiker Francis Crick die epochale Entdeckung, dass die Evolution lebender Strukturen auf einer molekularen Doppelhelix-Struktur (ähnlich zwei sich umwindenden Wendeltreppen) beruht. Diese Struktur wird von quantenphysikalischen Kräften geformt, wie sie der Biochemiker Linus Pauling beschrieben hat. Diese Struktur besitzt die 'intrinsische' (von innen heraus kommende) Eigenschaft, dass sie auf einfache biochemische Weise reproduziert werden kann. Zitat James Watson: „Uns war klar: So wird das Genmaterial kopiert – und genau das war ja das zentrale Problem des Lebens, sowie Schrödinger in seinem berühmten Buch “Was ist Leben?“ definiert hatte.“ Darüber hinaus verfügt das sehr große Molekül, die DNA genannte Substanz, über verschiedene biochemische Mechanismen, die mit Hilfe von Enzymen Schäden beseitigen, die bei der Reproduktion von DNA ständig entstehen. Ohne diese Reparaturmechanismen, wäre eine fehlerfreie Replikation der DNA nicht möglich.

(2) Programmatische Aspekte

Biologische Systeme unterscheiden sich grundlegend von physikalischen Systemen, weil biologische Systeme programmatische Eigenschaften besitzen. Ein biologisches System besitzt die Fähigkeiten, sich zu bilden, sich zu erhalten und sich zu reproduzieren. Nachfolgende Generationen biologischer Systeme enthalten nicht nur Eigenschaften der Vorgängergenerationen sondern auch nicht vorhersehbare (emergente) Eigenschaften. Bei sexueller Reproduktion werden langfristig nur diejenigen individuellen Neukombinationen oder Veränderungen genetischer Information an Folgegenerationen weitergegeben, die sich erfolgreich in einer Population von Individuen bewähren.

(3) Interaktive Aspekte

Molekularbiologen befassen sich mit Wechselwirkungen biologisch aktiver Moleküle. Deren Strukturen bestimmen ihre Funktionen und das Zusammenwirken zwischen unterschiedlichen Molekülen. Zum Beispiel sind Proteine nach einem genetischen 'Code' hergestellte Ketten von Aminosäuren, deren vielfältige Formen und Funktionen durch spezifische Faltungen bestimmt sind. Bei den molekularen Wechselwirkungen handelt es sich nicht um den Austausch von Information im technischen Sinn. Vielmehr erweist sich biologischer 'Sinn' durch das Zusammenwirken vielfältiger Proteine. Lediglich Proteine mit wechselseitig passenden Formen interagieren miteinander. Biologen bezeichnen dieses biologische, kooperative Prinzip als “molekulare Komplementarität“. Es ist besser bekannt als “Schlüssel-Schloss-Prinzip“. Das Resultat interagierender Proteine ergibt 'Sinn' auf der nächsthöheren biologischen Systemebene einer Zelle. Das Resultat interagierender Zellen ergibt 'Sinn' auf der nächsthöheren biologischen Systemebene eines Organs und letztlich eines Organismus.

Darwin war bei seinen Entdeckungen auf die äußeren Merkmale der Organismen angewiesen. Wenn wir heute von biologischer Evolution sprechen, beziehen wir uns auf unterschiedliche organische Systeme wie Sinnessysteme, Herz-Blutkreislauf-Systeme, Stoffwechselsysteme (Zelle, Darm, Blut), Immunsysteme oder Nervensysteme. Alle organischen Systeme interagieren untereinander und mit der Außenwelt. Sie funktionieren auf selbstorganisierte Weise, mit dem Ziel, einen Gesamtorganismus unter allen Umständen zu stabilisieren (Homöostase).  

Biologische Mutationen bewirken Variationen biologischer Programme. Beim Kopieren des DNA-Moleküls entstehen viele Fehler, die aber postwendend in der Zelle entsorgt (recycelt) werden. Eine selektierte Variation eines Gens wirkt sich in den meisten Fällen auf viele Eigenschaften eines Organismus aus. Häufig wird das Wort 'Evolution' für Entwicklungen benutzt, obwohl kein Programm vorliegt, auf das die Prozeduren Reproduktion, Variation, Selektion angewendet werden könnten. Beim wiederholten Kopieren einer physikalischen Struktur entstehen Strukturen mit zunehmend minderer Qualität.

Die Vorstellung, dass biologische Wesen vermittels einmaliger Schöpfungsakte entstanden sind, hat sich nicht bewährt. Dualistische Hypothesen von getrennt agierenden Körpern und Geist, haben sich nicht bewährt. Die Annahme, dass biologische Prozesse und Systeme ausschließlich nach dem Prinzip 'Ursache → Wirkung' funktionieren, hat sich nicht bewährt. Biologische Prozesse einschließlich neurologischer Prozesse im Gehirn, funktionieren als Einheit auf selbstorganisierte Weise (ohne zentrale Steuerung). Wir stehen erste am Anfang, die Rolle des menschlichen ICH-Bewusstseins für die menschliche individuelle Wesen zu verstehen.

Es ist verwunderlich, wenn heute Wissenschaftler (Antidarwinisten wider besseres Wissen?) Darwins Erkenntnisse kritisieren, ohne moderne Evolutionsüberlegungen zu bedenken. Es ist mehr als angebracht, Antidarwinisten zu widersprechen. Stefan Grafs Buch wird vom Verlag so eingeschätzt: „Er geht den Einwänden dieser Antidarwinisten unvoreingenommen, spannend und humorvoll auf den Grund.“ Ob Grafs Aussagen Antidarwinisten überzeugen, kann ich nicht beurteilen. Ich habe nicht vor, mich näher mit Stefan Grafs Überlegungen zu befassen.

Sonntag, 21. Juli 2019

Simone Rehm über die digitale Unterstützung universitärer Prozesse

Simone Rehm (*1959) ist seit Januar 2016 im Rektorat der Universität Stuttgart als hauptamtliche Prorektorin zuständig für die Informationstechnologie und hat das neugeschaffene Amt eines CIO (engl. Chief Information Officer) inne. Simone Rehm hatte Informatik an der Uni Stuttgart studiert und wechselte nach dem Diplom 1986 als wissenschaftliche Mitarbeiterin an das Forschungszentrum Informatik (FZI) in Karlsruhe in die Gruppe von Prof. Gerhard Goos. Nach der Promotion zum Dr. rer. nat. ging Frau Rehm 1992 zunächst in den IT-Bereich der Pharmaindustrie, bevor sie 1995 die IT-Leitung beim Südwestfunk (SWF), später Südwestrundfunk (SWR), in Baden-Baden übernahm. Simone Rehm war von 2001-2015 Leiterin IT + Prozesse (CIO) bei der Firma TRUMPF GmbH + Co. KG in Ditzingen in der Nähe von Stuttgart. Von 2012 bis 2016 war Frau Rehm auch Vizepräsidentin der Gesellschaft für Informatik (GI).

Bertal Dresen (BD): Vor dreieinhalb Jahren gaben Sie dem Kollegen Klaus Küspert ein Interview, in dem Sie Ihr Studium und Ihre Industrietätigkeit Revue passieren ließen. Es freut mich sehr, dass Sie sich bereit erklärt haben, mir einige Fragen zu beantworten, die Ihre derzeitige Tätigkeit betreffen. Gibt es etwas, was Sie vermissen, etwas wo die Industrie eindeutige Stärken hat? Gibt Ihnen die jetzige Stellung Möglichkeiten, die Sie gerne auch früher gehabt hätten?

Simone Rehm (SR): In der Industrie, insbesondere in der produzierenden Industrie wird Prozessorientierung groß geschrieben, d.h. sämtliche betrieblichen Abläufe werden als Kombination einzelner Prozessschritte angesehen, und die Optimierung dieser Prozessschritte steht im Vordergrund. In einer Produktion will man Verschwendung vermeiden, Liegezeiten reduzieren und vor allem den Kunden durch eine hohe Produktqualität zufriedenstellen. Die Produktqualität wiederum korreliert mit der Qualität des Herstellungsprozesses, deshalb wird dieser Prozess kontinuierlich immer wieder unter die Lupe genommen, auf Schwachstellen hin durchleuchtet, in seiner Komplexität reduziert und nach verschiedenen Kriterien optimiert. Diese prozessorientierte Denkweise wurde bei meinem früheren Arbeitgeber auf die administrativen Bereiche ausgedehnt und hat auch dort zu durchschlagenden Erfolgen geführt.

In einer Universität ist Prozessorientierung nicht das leitende Handlungsprinzip. Die administrativen Vorgänge innerhalb einer Universität folgen eher einer funktionsorientierten Arbeitsweise, die für öffentliche Verwaltungen lange Zeit kennzeichnend war und durchaus Vorteile hat. Sie sichert aufgrund ihrer starken Regelgebundenheit z.B. dass gesetzliche Vorgaben eingehalten werden, von denen es ja in einer von öffentlichen Geldern finanzierten Universität viel mehr gibt als in der freien Wirtschaft. Die funktionsorientierte Arbeitsweise hemmt aber die Zusammenarbeit über Abteilungsgrenzen hinweg, schafft eine hohe Zahl von Schnittstellen und ist nicht selten die Ursache für hinderliche Medienbrüche. Sie fördert außerdem bereichsorientiertes Denken und schränkt die Bereitschaft, Verantwortung für den gesamten Prozess und vor allem das Prozessergebnis zu übernehmen, ein. Das ist der wichtigste Unterschied, den ich rückblickend erkennen kann und der sich auch auf mein Arbeitsgebiet unmittelbar auswirkt, denn ein gutes Verständnis für Prozesse ist oft die Voraussetzung für eine gute Prozessunterstützung mittels IT.

Auf der anderen Seite bietet das akademische Umfeld große Freiheitsgrade − gerade im Bereich der Lehre und der Forschung, die ein hohes Maß an Kreativität erlauben und Vielseitigkeit mit sich bringen. Davon profitiere ich auch persönlich, obwohl ich nicht aktiv in Lehre und Forschung eingebunden bin. Ich kann mich trotzdem an interessanten Ausschreibungen beteiligen, bin in einschlägige Begutachtungsprozesse einbezogen und habe oft Gelegenheit, über den Tellerrand zu schauen. Das Umfeld an einer so forschungsstarken Universität wie der Universität Stuttgart ist inspirierend. Erst jüngst hat die Universität Stuttgart im Rahmen der vom BMBF initiierten Exzellenzstrategie zwei Cluster eingeworben und hatte somit sogar die Chance, Exzellenzuniversität zu werden, ein Wunsch, der bei dem engen Feld an Mitbewerbern allerdings am Ende nicht in Erfüllung ging.

BD: In einer Presseverlautbarung aus der Zeit Ihrer Berufung fand ich folgende Aufgabenbeschreibung: ‚Sie soll die strategische und operative Führung der Informationstechnik verantworten und die technischen Innovationen vorantreiben. Sie soll durch einrichtungsübergreifende IT-Strukturen dafür sorgen, dass sich die Disziplinen besser vernetzen, dass Forscher und Studierende bessere Arbeits- beziehungsweise Lernmöglichkeiten bekommen und dass die Abläufe in der Verwaltung effizienter und nicht zuletzt sicherer werden‘. Das sind recht anspruchsvolle Aufgaben und ganz unterschiedliche Zielgruppen. Beginnen wir mit den einrichtungsübergreifenden IT-Strukturen und der besseren Vernetzung. Hatte die Uni Stuttgart hier einen Nachholbedarf, etwa im Vergleich zu anderen Universitäten oder der Industrie? Wie lässt sich hier Ist und Soll zahlenmäßig ausdrücken? Welche Maßnahmen können oder möchten Sie ergreifen?

SR: Universitäten sind dafür bekannt, stark dezentral organisiert zu sein. Neben der zentral organisierten Verwaltung gibt es an der Universität Stuttgart Hunderte von Instituten, die teilweise recht autonom agieren. Da unterscheidet sich die Universität Stuttgart nicht von anderen. Ja, einige Fortschritte konnten wir erzielen. Wir haben die EMail-Infrastruktur weitgehend zentralisiert und das Informationszentrum der Universität Stuttgart bietet nun mehr und mehr zentrale IT-Services an, die für die Institute wertvoll sind und sie von lokalen Administrationsaufgaben entlasten. Wir haben Rahmenverträge mit Hardwareanbietern abgeschlossen, die es den Instituten ermöglichen, zu guten Bedingungen ihre Hardware einzukaufen, und wir profitieren von dem seit jeher starken IT-Verbund der baden-württembergischen Universitäten, der uns ein leistungsstarkes Datennetz bietet und unseren Wissenschaftlern ermöglicht, auf sog. HPC-Clustern ihre Berechnungen durchzuführen. Da wir aber auch in Konkurrenz zu anderen Universitäten − nicht nur in Baden-Württemberg − stehen, möchte ich mich mit Zahlen hier zurückhalten. Stolz bin ich, dass es uns gelungen ist, für die Universität Stuttgart eine universitätsweite Informationssicherheitsleitlinie zu verabschieden, die die Institute in die Pflicht nimmt, auch im eigenen Umfeld für Informationssicherheit Sorge zu tragen.

Wir haben in einer Fakultät auch damit begonnen, die IT-Betreuung zentral zu organisieren. Ich bin überzeugt davon, dass hier noch sehr viel Potenzial liegt. Denn es ist allemal effizienter die Versorgung mit IT-Standardservices aus einer Hand zu anzubieten statt in allen Fakultäten und Instituten dezentrale Ressourcen hierfür vorzuhalten. Deshalb begleite ich dieses Projekt sehr eng und hoffe, dass wir es zum Erfolg führen können und dann auch andere Fakultäten diesem Beispiel folgen.

BD: Das primäre Versprechen der Digitalisierung sind doch bessere Arbeitsmöglichkeiten für Forscher und bessere Lernmöglichkeiten für Studierende. Wie lassen sich diese Ziele konkretisieren, so dass sie auch erfüllbar sind? Ohne Ziele ist bekanntlich der Fortschritt nicht zu messen. Sind die Ziele zu hoch gegriffen, werden sie nicht ernst genommen. Wer möchte schon in Wolkenkuckucksheim zuhause sein? Sie doch auch nicht?

SR: Für eine Universität gilt genauso wie für ein Industrieunternehmen: die IT-Strategie muss der Geschäftsstrategie folgen. Und Sie haben Recht: Konkrete Ziele sind da hilfreich. Die Universität Stuttgart hat 2017 in einem Strategieentwicklungsprozess sechs strategische Ziele für sich definiert, diese auch operationalisiert und konkrete Maßnahmen daraus abgeleitet. Ein Ziel ist beispielsweise, die Absolventenquote bis 2020 um 10% gegenüber 2017 zu erhöhen. Was kann die IT dazu beitragen? Sie merken, ich bevorzuge immer noch das klassische Wort IT statt den hochtrabenden, und am Ende alles- und ebenso nichtssagenden Digitalisierungsbegriff. Wir haben eine Web-Anwendung entwickelt, die sich Studienwahl-Kompass nennt. Wir wollen damit den Studieninteressierten bessere, konkretere und anschauliche Informationen über die Studiengänge geben, die sie bei uns studieren können. Ergänzend können sie anhand von Fragen selbst bewerten, ob ihre Erwartungen an den Studiengang zur Realität passen. Ansprechende Kurzvideos von Studierenden ergänzen das Informationsangebot. Dies ist nur ein Beispiel, wie wir die Absolventenquote steigern wollen, denn wer im Vorhinein weiß, was ihn im Studium erwartet, wird besser durch das Studium kommen. Wohlgemerkt, es geht uns nicht darum, die Studiendauer zu verkürzen, sondern unser Ziel ist, dass die Studierenden das Studienfach finden, das zu ihren Neigungen und Eignungen am besten passt. Vielfältige digitale Lehrformate, ideal kombiniert mit Präsenzveranstaltungen, kommen ebenso verstärkt zum Einsatz und dienen dazu, den Lernerfolg zu sichern.

BD: Wie Sie vielleicht wissen, war der verstorbene Kollege Rul Gunzenhäuser Ende der 1990er Jahre in Stuttgart verantwortlich für erste Initiativen in Richtung Digitalisierung. Es wurde eine Online-Bibliothek für weltweite Forschungsberichte in Computer Science eingerichtet und Vorlesungen angeboten mit ausführbaren Lehrbeispielen. Diese Art von Anwendungen müsste heute längst als primitiv belächelt werden. Welche herausragenden Anwendungen sehen Sie heute? Ist der Papierverbrauch deutlich geringer geworden?

SR: In diesem Bereich ist viel passiert. Die Universitätsbibliothek pflegt inzwischen eine universitätsweite elektronische Universitätsbibliografie und bietet den Instituten eine Software zur Verwaltung ihrer eigenen Publikationslisten. Wir sind mitten in der Einführung eines Forschungsinformationssystems, das Daten über die Forschungsprojekte vorhält und einen Überblick darüber gibt, welche Forschungsaktivitäten an unserer Universität stattfinden. Es stellt eine wertvolle Datenquelle für das Hochschulmanagement und die öffentliche Hand dar, und hilft auch den Forscherinnen und Forschern, eine höhere Sichtbarkeit zu erlangen. Wir haben außerdem ein Campus Management System, das den kompletten Studierenden-Lifecycle abbildet. Früher mussten sich Studierende mit Papierunterlagen um einen Studienplatz bewerben, heute erfolgt die Bewerbung und die Immatrikulation digital. Auch das papierne Vorlesungsverzeichnis gehört – zumindest für die Studierenden − der Vergangenheit an. Es werden nur noch wenige Exemplare aufgelegt, die den Instituten als praktisches Nachschlagwerk dienen.

BD: Im dritten Aspekt Ihres Job-Profils heißt es, Sie sollen Abläufe in der Verwaltung effizienter und sicherer machen. Die IT-mäßige Betreuung der Studierenden ist sicher eine Aufgabe, die laufend verbessert werden muss, von der Anmeldung zum Studium bis zur letzten Prüfung. Wie zufrieden sind Sie mit dem erreichten Zustand? Welche konkreten Maßnahmen haben Sie ergriffen oder geplant?

SR: Gemeinsam mit dem Kanzler der Universität Stuttgart haben wir für die Verwaltung ein Programm „Schritt für Schritt zu digitalen Prozessen“ aufgelegt, in dem wir vier Projekte gestartet haben, mit denen insbesondere Prozesse im Finanz- und Personalwesen digitalisiert werden sollen. Wir werden einen digitalen Rechnungs-Workflow einrichten, der es uns erlaubt, Eingangsrechnungen digital zu empfangen und zu verarbeiten. Wir wollen das Reisemanagement digitalisieren und unser ERP-System modernisieren. In all diesen Projekten stehen Verwaltungsprozesse im Mittelpunkt, und wir wollen diese Prozesse „end-to-end“ optimieren, damit auch die Institute davon profitieren. Auf diese Weise wollen wir also Schritt für Schritt ein Umdenken auf die o.g. prozessorientierte Denkweise einleiten.

BD: Lasst uns kurz das Thema Sicherheit streifen. Gibt es oder gab es im IT-Alltag der Uni Stuttgart Ereignisse oder Vorfälle, weshalb die vorhandenen Sicherheitsstrategien in Frage gestellt oder neu justiert werden mussten? Gibt es Konflikte zwischen Geheimhaltung und akademischer Freiheit?

SR: Datenschutz und Informationssicherheit spielen für eine Universität eine sehr wichtige Rolle. Anders als in einem Industrieunternehmen ist eine Universität ja kein „geschlossener Ort“, den man nur mit Firmenausweis betreten kann. Die Gebäude der Universität stehen zumindest tagsüber offen und sind für jedermann zugänglich. Das erfordert besondere Vorkehrungen auf IT-Seite, um das Datennetz zu schützen. Außerdem nehmen wir den Datenschutz sehr ernst, insbesondere seit die DS-GVO im Mai letzten Jahres EU-weit Gültigkeit erlangt hat. Seither gab es einen meldepflichtigen Datenschutzvorfall, der uns sensibilisiert und motiviert hat, noch sorgfältiger mit den personenbezogenen Informationen umzugehen, zu denen ja auch die Bewerberdaten der Studierenden oder Notenlisten gehören. Schutz personenbezogener Daten ist zu unterscheiden vom Schutz von Betriebs- oder Geschäftsgeheimnissen. Ja, hier kann es zu Konflikten kommen. Die Universität Stuttgart wirbt einen hohen Anteil von Drittmitteln ein, ein beträchtlicher Anteil davon stammt aus der Industrie. Hier muss mit dem Geldgeber sorgfältig im Vorfeld besprochen werden, welche Informationen schützenswert sind und wie mit Veröffentlichungen umgegangen wird.

BD: Was waren die positiven Überraschungen Ihrer bisherigen Tätigkeit?

SR: Positiv überrascht bin ich davon, wie offen die Mitarbeiter unserer Universität gegenüber IT-Innovationen sind. Sie erhoffen sich, dass mit Hilfe der IT ihre Arbeitsprozesse vereinfacht und sicherer werden. Sie sehnen sich nach einem digitalen Reisemanagement, mit dem sie ihre Reisen online abrechnen können, und wünschen sich eine elektronische Zeiterfassung. Sie nehmen Datenschutz- und Informationssicherheitsbelange sehr ernst, auch das ist eine positive Überraschung für mich.

BD: Welche unerwarteten Widerstände stellten sich Ihnen in den Weg?

SR: Ich habe nicht damit gerechnet, dass von einer Entscheidung bis zur Umsetzung manchmal so viel Zeit vergehen kann. Oft stehen administrative Hürden im Wege. So sind beim Bauen zum Beispiel mehrere Ministerien zu beteiligen. Alleine um einen Raum in Vaihingen zu einem Rechenzentrum zu ertüchtigen, bemühen wir uns jetzt seit mehr als zwei Jahren um eine Mittelfreigabe seitens des Finanzministeriums. Das lähmt den Fortschritt der Digitalisierung ungemein.

Völlig unterschätzt habe ich auch, wie schwierig es ist, gutes IT-Personal am Markt zu gewinnen zu Konditionen, die der öffentliche Dienst aktuell bieten kann. Das wird nach meiner Einschätzung in den kommenden Jahren den erwarteten und sehnlichst herbei gewünschten Schub an Digitalisierung erheblich bremsen, insbesondere in Zeiten guter Konjunktur.

BD: Zuletzt möchte ich darauf eingehen, dass man von Ihnen erwartete, dass Sie ‚technische Innovationen vorantreiben‘ werden. Abgesehen davon, dass dies nicht die Aufgabe einer einzelnen Person oder Abteilung sein kann, würde es mich interessieren, wie Sie heute den Unterschied zwischen Industrie und Hochschulen sehen. Wie Sie wissen, zählt für den Praktiker vor allem der potentielle Nutzen einer Erfindung oder Innovation. Nach meinem Eindruck messen Hochschulen frühen Veröffentlichungen in Fachzeitschriften einen unverhältnismäßig hohen Stellenwert zu gegenüber den Erfindungen selbst und den dazugehörigen Prototypen, wenn wir einmal von Architekten absehen. Sehen Sie das auch so?

SR: Mit einer Veröffentlichung legen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Rechenschaft über ihre Arbeit ab. Durch die Überprüfung von unabhängigen Gutachtern erhalten sie ein Siegel für die Qualität und Originalität ihrer Arbeit. Eine Veröffentlichung ermöglicht auch Dritten die Nachprüfung der formulierten Erkenntnisse, was gerade, wenn mit Daten geforscht wurde und diese auch Teil der Veröffentlichung sind, von großer Bedeutung sein kann. So hat erst kürzlich ein Informatiker in Tübingen bemerkt, dass die Thesen eines angesehenen Wissenschaftlers durch die veröffentlichten Messwerte nicht belegbar waren. Eine interne Kommission kam daraufhin zu dem Schluss, dass hier die wissenschaftlichen Standards nicht eingehalten wurden, und alleine die Publikation hat das zu Tage gefördert. Deshalb sind Publikationen unverzichtbar für das, was unter „guter wissenschaftlichen Praxis“ verstanden wird.

An unserer Universität mit einer starken Architektur-Fakultät und einem Schwerpunkt in Ingenieurwissenschaften darf die Anerkennung anwendungsorientierter Forschung und ihrer Praxisrelevanz aber dennoch nicht zu kurz kommen. Deshalb gibt es auch in unserem Rektorat ein eigenes Ressort, das sich dem Wissens- und Technologietransfer widmet. Wer sich übrigens ein Bild z.B. von innovativer Architektur in der Praxis machen möchte, kann zurzeit zwei vielbeachtete Exponate unserer Architekten auf der Bundesgartenschau in Heilbronn entdecken. Sie zeigen, wie digitale Technologien beim Planen und beim Bauen zum Einsatz kommen.

BD: Vielen Dank für den faszinierenden Einblick in Ihr Wirkungsfeld. Ich bin sicher, dass viele Mitarbeiter und Studierende ihrer Universität und auch andere diesen Beitrag mit Interesse lesen werden.

Donnerstag, 18. Juli 2019

Fake News per Telefon – Warnung für Leichtgläubige

Zum zweiten Mal innerhalb der letzten Wochen erhielten wir gestern einen überraschenden Anruf. Es meldeten sich angebliche Polizisten am Telefon, um uns bezüglich unserer Situation zu informieren.

Der gestrige Anrufer teilte uns mit, dass in unserem Stadtteil ein Einbruch in ein Einfamilienhaus stattgefunden habe. Man habe drei junge Männer osteuropäischer Herkunft gefasst. Vermutlich seien es Rumänen. Bei einem von ihnen habe man einen Zettel mit sieben Adressen gefunden. Darunter sei auch unsere. Die Verhöre gingen noch weiter. Auch ließe man unser Viertel noch eine Weile observieren, und zwar von Kollegen in Zivil.

Von mir möchte man wissen, welche Leute uns in den letzten Tagen besucht hätten und ob wir zu allen volles Vertrauen hätten. Ich nannte einige Handwerker und Sozialarbeiter, die wir alle schon seit längerem kennen. Speziell wollte man wissen, ob wir in letzter Zeit Kontakt zu verdächtigen Leuten, besonders aus Osteuropa gehabt hätten. Als ich dies verneinte, gab man mich weiter an einen Hauptkommissar Schneider. Dieser wollte wissen ob wir regelmäßig Geld bei einer Bank abholen. Dort gäbe es nämlich undichte Stellen, auch bei der Bank, bei der wir unser Konto hätten. Ob uns etwas verdächtig vorgekommen sei. Als ich sagte, dass wir nur Online-Banking machen, wollte man wissen, ob sich der Bildschirm schon mal auf ungewöhnliche Art verändert habe.

Auf alle Fragen von mir, etwa wo und wann denn der Einbruch gewesen sei, verweigerte man die Auskunft, und zwar aus Datenschutz-Gründen.

Als ich anschließend bei der nächsten Polizeistation nachfragte, ob man von dem Einbruch in unserem Stadtviertel wüsste, herrschte dort völlige Unkenntnis und Verwunderung. Diese Masche, sich als Polizei auszugeben, um an Information zu gelangen, sei aber im Großraum Stuttgart gerade sehr in Mode. Es bestehe keine Gefahr für uns, sofern wir nichts preisgeben, was für potentielle Einbrecher von Nutzen sei.

Ich entschloss mich dennoch, auf diesem Wege eventuell Betroffene zu warnen.

Dienstag, 16. Juli 2019

Geglückter Neustart für Europa

Spannend war es heute. Die magische Zahl hieß 374. Dieser Anzahl von Ja-Stimmen bedurfte es, damit Ursula von der Leyen Präsidentin der EU-Kommission wurde. Sie hat es geschafft. Es wurden 383. Das sind neun mehr als nötig. Die heutige Rede gab vermutlich den Ausschlag.

Vorgeschichte

Zwei EU-Insider unterhielten lange Zeit das Wahlvolk. Der Allgäuer Manfred Weber, Vorstandsmitglied der CSU, war von der Europäischen Volkspartei (EVP) zum Kandidaten erkoren. Europas Sozialdemokraten standen hinter dem Niederländer Frans Timmermans. Auch andere Gruppierungen ernannten Spitzenkandidaten für die Europa-Wahl im Mai 2019. Diese fielen jedoch kaum auf.

Das Vorschlagsrecht für den EU-Kommissar hat aber nicht das EU-Parlament, sondern der EU-Rat. Dies ist die Runde der 28 Regierungschefs. Zum letzten Mal gehörte das Vereinigte Königreich dazu. Dieses Gremium drückt den föderalen Charakter der EU aus. Vergleichbar zum deutschen Bundesrat sind hier kleine Länder überrepräsentiert. Dass dies im EU-Parlament ebenfalls der Fall ist, ist ein politisches Kuriosum.

Im EU-Rat bekam keiner der so genannten Spitzenkandidaten eine Mehrheit. Nach wochenlangem Ringen einigte man sich schließlich auf von der Leyen. Als deutsche Verteidigungsministerin war sie offensichtlich den Regierenden bekannter als die beiden Parlamentarier. Sie wussten, dass sie Dinge energisch durchsetzen konnte und dass sie dennoch stets sehr höflich und verbindlich blieb. Sie hatte den drei baltischen Staaten den Rücken gestärkt gegen Russland und sie hatte mit Frankreich und Spanien den Vertrag ausgehandelt, um ein gemeinsames Kampfflugzeug zu entwickeln.

Von der Leyens Einsatz und das Wahlergebnis

Ab dem Tage ihrer Ernennung zur Kandidatin wirbelte von der Leyen durch ganz Europa. Ihr standen zwei Wochen zur Verfügung. Sie verhandelte mit allen Parteien im EU-Parlament. Sie machte ihnen Zugeständnisse für den Fall ihrer Wahl. Diese betrafen den Klimaschutz, den Mindestlohn, die Migration und die Rechtsstaatlichkeit. Auch machte sie Hoffnungen in Personalsachen. Sie hat mit Leidenschaft gekämpft, scheute auch nicht das Klinkenputzen. Einen Tag vor der Wahl kündigte sie an, dass sie in jedem Falle ihr bisheriges Amt als Verteidigungsministerin abgeben würde.

Noch ist nicht klar, woher von der Leyen ihre Ja-Stimmen bekam. Die Stimmen der EVP und der Liberalen waren von Anfang an sicher. Die 16 deutschen Sozialdemokraten im EU-Parlament waren bei den Ja-Stimmen wohl nicht darunter. Die Rechtsradikalen (AfD) vermutlich auch nicht. Vielleicht hat sie einige Grüne aufgeweicht mit ihrer Bewerbungsrede am Morgen.

Regierungsbildung

Der Prozess, der zur Bildung der Kommission, also der Regierung, führt, ist skurril, ja haarsträubend. Sie muss je einen Vertreter oder eine Vertreterin jedes der 27 Länder nehmen, den oder die sie möglicherweise persönlich gar nicht kennt. Sie kann ihnen nur Aufgaben zuteilen, von denen das sendende Land meint, dass sie wichtig genug sind. Dann muss sie die Kommission vom Parlament absegnen lassen. Das Parlament kann einzelne Kommissare oder die Kommission als Ganzes ablehnen. Das kann Zeit und Ärger kosten.

Politische Konsequenzen

Mit von der Leyen übernimmt jemand das Amt des Kommissars, der nicht nur sehr qualifiziert, sondern auch sehr engagiert ist. Sie ist alles andere als eine Oma, die ihr Leben ausklingen lässt.

Sie will dem Bummelzug mit Namen Europa neuen Dampf verleihen. Deshalb ist mal wieder eine große Konferenz mit Bürgern im Jahre 2020 geplant. Europa soll stärker und einiger werden. Es soll an Einfluss gewinnen und Verantwortung übernehmen. Solche Absichtserklärungen gab es in der Vergangenheit viele. Von der Leyen ist zuzutrauen, dass sie es ernst meint.

Die Konzessionen, die sie in ihren Reden an das Parlament machte, waren in erster Linie Honigkuchen. Ob sie das Initiativrecht durchsetzen kann, ist zu bezweifeln. Das vom Parlament so geliebte Modell der Spitzenkandidaten ist im Grunde realitätsfern. Es ist der Versuch, den EU-Vertrag zu umgehen. Dass sie auch an die Stellung der Frauen denkt, bewies sie in ihrer Rede durch den Hinweis auf Simone Veil, die erste Präsidentin des EU-Parlaments.

Nachtrag vom 18.7.2019

Frau von der Leyens Erklärungen zu ihrer Kommisiionspräsidentschaft sind im Netz verfügbar.

Montag, 15. Juli 2019

Ziele und Methoden globaler Politik (Essay von Peter Hiemann)

Die Diskussion, die sich an Peter Hiemanns letztes Essay anschloss, war sehr lebhaft und intensiv. Es ist deshalb kaum verwunderlich, dass dies zu einem neuen Essay veranlasste. Es beginnt mit dem vitruvianischen Menschenbild, führt aus, welche Aufgaben die EU-Kommission hat oder haben könnte, verweilt anschließend auf der ‚Neuen Seidenstraße‘ und endet mit einer Abwägung über die Grenzen der KI. Konfuzius hat – wie so oft − zu allem etwas zu sagen.

Ich werde Kommentare, die im neuen Essay teils verbatim verarbeitet wurden, aus dem Blog-Archiv entfernen.

Hiemanns Stoff zum unterhaltsamen Lesen finden Sie, indem Sie hier klicken.

Mittwoch, 3. Juli 2019

Meinungsbildung und Orientierung in Europas Gesellschaften (Essay von Peter Hiemann)

Diese Woche demonstrierten die europäischen Regierungschefs, wie desolat das Verhältnis zwischen ihnen ist. Sie haben auch bewiesen, dass für sie die Existenz des EU-Parlaments für die Besetzung der EU-Spitzenjobs keine wesentliche Rolle spielt. Nach zähen Verhandlungen einigte man sich auf ein Paket, dem schließlich alle 28 zugestimmt haben. Das Vereinigte Königreich stimmte ja noch ein letztes Mal mit. Auch unter den verbleibenden 27 sind die Unstimmigkeiten keineswegs ausgeräumt. Die Regierungen Ungarns, Polens und Italiens haben anscheinend nicht (mehr) das Ziel einer erfolgreichen EU. Das destruktive Paar Bannon und Salvini arbeitet energisch auf verschiedenen Ebenen weiter.

Peter Hiemann hat in den vergangenen Wochen einige Überlegungen zu den Themen Meinungshoheit und Orientierung angestellt. Es geht dabei um gesellschaftliche Navigation in der derzeitigen komplexen Welt. Die Assoziation mit einem Navi-System liegt zwar nahe, ist aber fern jeder Realisierbarkeit. Hiemann ist gerne bereit, sich der Diskussion zu stellen.

Klicken Sie bitte hier, um an den Essay zu gelangen.