Mit Interesse habe ich einen Dialog zwischen einem australischen und einem kanadischen Kollegen verfolgt über die Frage, ob Informatiker eine Profession (wenn kursiv geschrieben, bitte englisch aussprechen) ausüben oder nicht. In der von der IEEE herausgegebenen Zeitschrift ‚Computer‘ schrieb zuerst Neville Holmes aus Tasmanien im Juli 2010 einen eher kritischen Artikel. Im Februar 2011 gab es eine Replik bzw. Ergänzung von Robert Fabian aus Toronto. Was geht uns diese Diskussion in anderen Erdteilen an, kann man fragen. Sie zeigt einerseits, dass gewisse Probleme universell sind, andererseits aber, dass sie kulturelle bedingte Nuancen besitzen.
Zuerst muss man erklären, dass Profession im englischen Sprach- und Kulturraum eine andere Bedeutung hat als das Wort Profession in der deutschen Umgangssprache. Der Webster, ein sehr verbreitetes amerikanisches Lexikon, bietet neben mehreren andern Bedeutungen auch diese an:
A vocation or occupation requiring advanced education and training, and involving intellectual skills, as medicine, law, theology, engineering, teaching, etc.
Nicht jeder Job ist ein Beruf, noch ist jeder Beruf eine Profession. Die deutsche Übersetzung, die dem am nächsten kommt, heißt ‚akademischer Beruf‘, ist aber nicht dasselbe. Wenn Soziologen den Ausdruck Profession benutzen, dann meist im englischen Sinne. Die Worte Professionalität und Professionalisierung basieren auf dieser Bedeutung. Vier Kriterien werden als bestimmend angesehen, damit ein Beruf als Profession anerkannt wird:
- Recht des Praktizierens nur aufgrund spezieller, meist akademischer Ausbildung.
- Relative Autonomie in der Ausübungsweise der Tätigkeit, inklusive Selbstkontrolle.
- Beachtung übergeordneter gesellschaftlicher Interessen und ethischer Prinzipien.
- Anerkennung durch Außenstehende.
Holmes meint, dass Informatiker in den letzten Jahrzehnten eher Rückschritte als Fortschritte gemacht hätten. Er meint sogar, dass der Beruf immer vager (engl. unfocussed) und unbedeutender (engl. increasingly irrelevant) würde. Wer Erfolg hat, verlässt den Beruf und wird Manager. Um das Bild als Profession zu verbessern, müsste endlich anerkannt werden, dass Programmieren nur ein Handwerk ist (engl. craft). Leute, die dafür keine Begabung haben, sollte man von dieser Tätigkeit fernhalten. Die akademische Ausbildung sollte sich andern Themen zuwenden, nämlich fortgeschrittenen Entwurfstechniken und neuen Anwendungsmöglichkeiten.
Fabian geht sogar noch einen Schritt weiter. Er meint, dass das Feld zu breit ist für eine einheitliche Profession. Er fragt sich, was die Leute, die Programme für die Steuerung von Atomrektoren schreiben, Web-Plattformen entwickeln und ERP-Systeme installieren, voneinander lernen könnten, oder welche Fachgesellschaft die Interessen aller drei Gruppen vertreten könne. In allen Anwendungsgebieten überwiege das praktische Wissen bei weitem die gemeinsamen theoretischen Grundlagen. Man sei bisher nicht über die Ansammlung von Heuristiken (engl. best practices) hinausgekommen.
Eine ähnliche Diskussion für den deutsch-sprachigen Raum findet man bei Hornecker & Bittner (2003). Auch sie meinen, dass die Informatik „bislang nicht in der Lage ist, die klassischen Professionskriterien zu erfüllen“. Als Gründe werden genannt:
- Die Informatik habe noch keinen stabilen wissenschaftlichen Kern entwickelt.
- Grundlegender Prinzipien und Praktiken sind einem ständigen Wandel unterworfen.
- Ethische Leitlinien gibt es zwar (bei der GI), sie finden jedoch wenig Beachtung
- Es gibt immer noch mehr als 50% Quereinsteiger, die keine formale Informatik-Ausbildung besitzen.
Ich lasse diese Feststellungen unkommentiert stehen und möchte noch eine andere Zahl hinzufügen. Von den etwa 330.000 Personen, die in der Software-Branche in Deutschland beschäftigt sind, sind gerade einmal 7% (d.h. 24.000) in der entsprechenden Fachgesellschaft, der GI, organisiert. Das ist deutlich weniger als die Zahl der Informatik-Studienanfänger eines Jahres (etwa 35.000). Wenigsten daran sollten wir versuchen, etwas zu verändern.
Wie auch immer diese Diskussion sich weiterentwickelt, eines ist klar: Ohne professionelles Verhalten kommen auch Informatikerinnen und Informatiker nicht aus. Erinnern möchte ich daher an die Kriterien für Professionalität, wie sie im Endres/Gunzenhäuser-Buch (2010, S. 108) für Informatiker formuliert wurden:
„Sie müssen berücksichtigen, was für die Nutzer zweckdienlich und zumutbar ist, was für das Unternehmen notwendig und erschwinglich ist, was ohne unvertretbare Nebenwirkungen für Umwelt und Gesellschaft machbar ist, was nach dem Stand der Technik möglich ist, und was mit den zur Verfügung stehenden Fachleuten und Finanzmitteln realisierbar ist.“
Alle Ausbildenden und Lehrenden haben die Verantwortung, beim Nachwuchs das Bewusstsein für Professionalität fest zu verankern. Es beginnt im Elternhaus und endet mit der Pensionierung. Ob es wirklich wichtig ist, dass ein Beruf als Profession von Außenstehenden anerkannt ist, darüber kann man geteilter Meinung sein. Bestimmt erfolgt ein entsprechender Sinneswandel nur sehr langsam, vermutlich nicht innerhalb einer Generation.
Ich würde mich freuen, hierzu einige Kommentare der Leserinnen und Leser zu erhalten.
(ergänzter) Nachtrag vom 14.6.2011:
Hier gebe ich eine E-Mail-Korrespondenz wieder, die sich auf diesen Eintrag bezieht. Als Kommentar zum Blog ist der Text bereits zu lang. Die Grenze liegt bei 4096 Bytes.
Am 30.5.2011 schrieb Manfred Broy aus München:
Den Beitrag zum Thema Profession habe ich mit Interesse gelesen, muss aber sagen, dass ich manches nicht so scharf akzentuiert finde. Das Wort Profession, auch englisch ausgesprochen, hat durchaus keine so scharf abgegrenzte Bedeutung. Ich denke, es hilft deshalb nicht viel, zu sehr an der Frage zu kleben, ob Informatik wirklich eine Profession ist.
Interessanter sind schon die anderen Fragen, die Sie aufwerfen. Als Erstes das Recht des Praktizierens nur auf Grund einer akademischen Ausbildung. Es gibt natürlich für Informatiker keine Zulassung wie für Ärzte oder Rechtsanwälte und es gibt − wie gesagt - viele Quereinsteiger, das ist Fakt. Die relative Autonomie in der Ausführungsweise der Tätigkeit inklusive Selbstkontrolle kann man Informatikern vielleicht zugestehen und selbst die Beachtung übergeordneter gesellschaftlicher Interessen und ethischer Prinzipien. Hier fürchte ich ist es um die Informatiker auch nicht schlechter gestellt als um andere Professionen. Die Anerkennung durch Außenstehende - na ja, ich denke, das ist auch kein Punkt, den man vertiefen muss.
Bestreiten würde ich einige der Aussagen gegen Ende, die Sie zitieren. Ich glaube wohl, dass Informatik bereits einen stabilen wissenschaftlichen Kern entwickelt hat. Man kann natürlich darüber diskutieren, wo dessen Grenzen genau sind und was dazu gehört und was nicht. Aber ganz so negativ sehe ich es nicht. Es stimmt natürlich, dass wir noch als junges Fach einem schnellen Wandel unterworfen sind. Man könnte das aber auch positiv sehen. Das ist immer noch ein sehr innovatives Fach.
Kurz und gut - ich weiß nicht, ob diese Art der Diskussion wirklich sehr viel beiträgt, der Frage näher zu kommen, die ich dann doch für wichtig halte − nämlich, was das Berufsbild des Informatikers ist. Das ist sicher noch sehr vielfältig und unscharf. Gerade daran müssen wir arbeiten, auch um jungen Leuten ein wenig Hinweise zu geben, was es heißt, Informatiker zu sein.
Am 31.5.2011 antwortete Bertal Dresen:
Ich gebe Ihnen Recht, dass die Frage, ob Informatik eine Profession ist, nicht von zentraler Bedeutung ist. Im Beitrag habe ich mich von den Zitaten über die Informatik etwas distanziert, ohne sie zu kommentieren. Ich hatte in der Tat gehofft, dass Leser dies tun würden. Schließlich sind die Aussagen von Hornecker/Bittner, die ich zitierte, nicht ganz neu. Sie gehen im Prinzip auf Britta Schinzels Beitrag im Informatik-Spektrum 2001 (Heft 2, 91-97) zurück.
Ähnlich wie im Endres/Gunzenhäuser-Buch versuche ich hier wieder von gewissen Vorurteilen und Clichés auszugehen, um mich mit ihnen auseinanderzusetzen - ein nicht ganz ungefährliches Unterfangen, wovor Sie mich damals bereits warnten. Außerdem sollte man diesen Beitrag als Ergänzung zu dem Vorgänger-Beitrag sehen, in dem ich fragte, ob man in Deutschland noch etwas anders als Systemarchitekten braucht. Die beiden Kommentare dazu stammen übrigens von einem Kollegen in Hoh-Chi-Min-Stadt, der in der Schweiz studiert hatte.
Der Frage, was ist der (wissenschaftliche) Kern der Informatik, würde ich sehr gerne nachgehen. Das möchte ich aber nicht alleine tun, sondern würde dabei gerne ihre Mithilfe in Anspruch nehmen. Als Ausgangspunkt könnte dafür der Beitrag vom Marc Snir in den CACM (2011, Heft 3, 38-41) dienen. Was halten Sie davon?
Am 3.6.2010 schrieb Manfed Broy:
danke für den Hinweis auf den Artikel von Marc Snir, den ich mit etwas gemischten Gefühlen gelesen habe. Das Meiste ist natürlich richtig, aber doch so offensichtlich, dass man darüber nichts schreiben muss. Andererseits geht die Analyse nicht sehr tief.
Ein Thema, mit dem ich mich schon vor vielen Jahren zusammen mit meinem Kollegen Jochen Schmidt auch in einem Informatik-Spektrums-Artikel (1999, Heft 3, 206-209) beschäftigt habe, ist das Spannungsverhältnis zwischen Informatik als Grundlagenwissenschaft, die sich mit den grundlegenden Fragen der Information beschäftigt und Informatik als Ingenieurwissenschaft, die die Gestaltung leistungsfähiger Systeme zur Informationsverarbeitung zur Aufgabe hat. Ich denke dieses Spannungsfeld verdient tatsächlich stärkere Beobachtung.
Wie in dem von Ihnen empfohlenen Artikel dargestellt wird, kommt hinzu, dass heute Informatik eine große Rolle in vielen Anwendungsgebieten spielt. Spannend ist dabei nicht der Umstand, dass Informatik an vielen Stellen als Hilfswissenschaft eingesetzt wird. Ob die Texte, die man in Word oder Power Point schreibt, Texte in der Physik sind oder in den Wirtschaftswissenschaften, macht wirklich keinen großen Unterschied. Interessanter ist es aber, wenn die Informatik grundlegende Beiträge in den entsprechenden Gebieten leistet, wie etwa in der Modellierung, in den Biowissenschaften, in den Genwissenschaften, aber durchaus auch im Engineering durch fortgeschrittene Modelle, Simulation oder das, was man allgemein Virtual Engineering nennt. Ähnliches gilt in der Betriebswirtschaft, wo konsequenter Informatikeinsatz tatsächlich andere Möglichkeiten schafft, Firmen zu managen.
Dass es vor diesem vielfältigen Hintergrund sehr schwer fällt, ein klares Berufsbild für Informatiker zu finden, ist nicht überraschend. Dieses Thema verdient sicher Aufmerksamkeit.
Darauf antwortete Bertal Dresen am 6.6.2011:
wie Sie wissen, habe ich immer dafür plädiert, die Informatik primär als eine Ingenieurwissenschaft (engl. engineering) zu sehen. Ich meine dabei die Informatik als Ganzes, nicht nur System- und/oder Software-Ingenieurwesen. In Ihrem Artikel mit Joachim Schmidt von 1999, den ich damals mit Interesse las, ist klar zu spüren, dass diese Vorstellung nicht nur bei Amerikanern, sondern auch bei deutschen Hochschulangehörigen zu einen Minderwertigkeitsgefühl gegenüber der wertfreien Wissenschaft (engl. science) führt, da angeblich nur diese von der DFG gefördert wird. Das ist in meinen Augen vor allem ein psychologisches Problem, wenn nicht sogar ein Vorurteil, gegen das Leute wie Sie vehement ankämpfen sollten.
Die Medizin, die ich immer gerne als Vergleich zur Informatik heranziehe, hat es nicht nötig sich als Grundlagenwissenschaft (im obigen Sinne) zu positionieren, und erhält trotzdem massive staatliche Förderung. Mediziner (und Ingenieure) dürfen mit dem Argument des Nutzens, also der Notwendigkeit, argumentieren. Dazu sollte die Informatik sich endlich auch bekennen. Die so genannten 'freien' Wissenschaften brauchen dies nicht.
Der Teil der Informatik, den Sie als Grundlagenwissenschaft bezeichnen (Typtheorie, Formale Sprachen, Automatentheorie), lag mir persönlich immer etwas fern. Als Quereinsteiger in eine Industrie-Laufbahn konnte ich mich diesen Themen weitgehend entziehen. Von mir aus kann man diese Themen ruhig wieder zurück in die Mathematik versetzen, wo sie ja auch herstammen.
Demgegenüber wäre es sehr hilfreich, wenn sich Informatiker darauf besinnen würden, welche Grundlagen ihr Fach liefert, auf denen andere Fächer aufbauen können. Die zwei Beispiele, die Sie nennen, finde ich allerdings nicht besonders gut. Die Frage, was Information ist, scheint nämlich kaum einen Informatiker zu interessieren, sonst würde man nicht Shannons 63 Jahre alte Definition noch im Informatik-Duden verwenden. Geometrische, algebraische oder prozedurale Modelle für physikalische, chemische, biologische oder soziale Abläufe können auch von Mathematikern (oder mathematischen Physikern) stammen.
Mir würden eher Gleitkommazahlen, RSA-Verschlüsselungen; B-Bäume oder MP3-Kodierung als grundlegende Errungenschaften der Informatik einfallen − also sehr handfeste Dinge. Darauf wären Mathematiker, die ja Beschränkungen am liebsten ignorieren, nicht gekommen. Schließlich stehen diese Dinge jetzt allen Computer-Anwendern zur Verfügung.
Darauf antwortete Manfred Broy am 10.6.2011
Klar ist die Informatik – auch – eine Ingenieurwissenschaft. Ob sie das primär ist, ist ein interessanter Diskussionspunkt. Wirtschaftlich gesehen natürlich, ist sie das vielleicht auch ausschließlich, aber die überaus große wirtschaftliche und gesellschaftliche Bedeutung der Informatik sollte nicht den Blick darauf verstellen, dass es auch eine grundlegende Seite der Informatik gibt. Das hat nichts mit unterstellten Minderwertigkeitsgefühlen deutscher Hochschulangehöriger zu tun, ganz davon abgesehen, dass das eine etwas unglückliche Art der Diskussionsführung ist.
Es geht ja nicht darum, ob man es nötig hat, sich als Grundlagenwissenschaft zu positionieren und es geht auch nicht um staatliche Förderung. Die Diskussion um den wissenschaftlichen Gehalt eines Faches – sowohl in Hinblick auf seine praktische Anwendbarkeit und die Herausforderung für das ingenieurmäßige Vorgehen wie gleichermaßen auf die Frage, welche grundlegenden Erkenntnisse ein Fach mit sich bringt – ist schon aus Fragen des wissenschaftlichen Selbstverständnisses unverzichtbar.
Ich denke, man sollte vorsichtig sein, über die übermächtige Rolle, die heute die Wissenschaft für die Wirtschaft spielt, die Seite der Wissenschaft nicht zu vergessen, die schlicht mit Erkenntnis zu tun hat. Das darf uns den Blick, gerade in der Informatik, nicht verstellen, grundlegende Fragen in Hinblick auf Information, Informationsverarbeitung und die Rolle der Informationsverarbeitungen in den unterschiedlichen Disziplinen zu verfolgen.
Zwar mag das Argument, dass das Sache der Anwendungsdisziplinen wäre, im ersten Augenblick zutreffen zu scheinen, aber ich glaube, dass das Thema Information, Informationsverarbeitung und die Rolle der Information für Vorgänge in unserer Welt von so grundsätzlicher Bedeutung ist, dass es unerlässlich ist, dass ein Fach wie die Informatik hier Gemeinsamkeiten findet, einheitliche Muster aufdeckt und auf die Art und Weise eine grundlegendere Sicht auf die Weltentwicklung. Beispielsweise habe ich mich gerade die Forschungen in den USA unter dem Stichwort "Cyber-Physical Systems" etwas genauer auseinander gesetzt. Auch wenn hier nur mühsam Fortschritte erreicht werden, diese grundsätzliche Vorstellung, diskrete Modelle für eine ganze Reihe von Aspekten der physikalischen Welt aufzustellen und den Zusammenhang zwischen den kontinuierlichen Modellen, die in der Physik ja sehr viel stärker verbreitet sind, und den diskreten Modellen herauszufinden, halte ich für faszinierend und ein gutes Beispiel für das Thema, um das es mir geht.
Ich denke, aus einer wissenschaftstheoretischen Sicht muss man sich völlig frei von Emotionen intensiv damit auseinander setzen, welchen wissenschaftlichen Stellenwert die Informatik hat und wie sich die Informatik zu anderen Disziplinen positioniert. Dies hat weder mit Standesbewusstsein noch mit Fragen der Förderpolitik zu tun. Es ist schlicht und ergreifend ein Muss für das Selbstverständnis einer Wissenschaft.
Nachtrag im Januar 2017
Ich bin selbst überrascht, das ich das Thema Professionalität erst in sechs Jahren wieder aufgreifen werde. Rainer Janßen brachte mich dazu.