Kaum hat sich die Konjunktur etwas erholt, wird wieder über den so genannten Fachkräftemangel gejammert. Für die Informatik (oder IT) hat diese Diskussion einige Besonderheiten, die man sich ins Gedächtnis rufen sollte. Vorweg sei klargestellt, dass offene Stellen etwas sehr positives sind. Das Gegenteil ist ein Überangebot an Fachkräften, also Arbeitslosigkeit.
Der offiziell von BITKOM ermittelte Bedarf liegt seit Jahrzehnten in der Größenordnung von 30.000 – 50.000 IT-Fachkräften zu einem gegebenen Zeitpunkt. Nur in Zeiten wirtschaftlicher Flaute modifizierte man die Zahlen leicht nach unten, oder ließ sie gar ganz in der Schublade. Wie diese Zahlen ermittelt werden, ist für die meisten von uns ein Geheimnis. Vielleicht wird eine telefonische Umfrage bei 500 der 50.000 in Frage kommenden Firmen durchgeführt und anschließend hochgerechnet. Besonders belastbar sind die Zahlen nicht.
Wie auch immer diese Zahl zustande kam, sie entspricht seit Jahren etwa der Zahl der Studienanfänger pro Jahr. Diese Zahl betrug im Wintersemester 2010 etwa 40.000. Das ist erheblich mehr als in jedem andern technischen Fach. Die Zahl der Absolventen liegt etwa bei 15.000 pro Jahr. Hätte die Informatikausbildung dieselbe Erfolgsquote wie Jura und Medizin (85%), könnten allein die Absolventen eines Jahrgangs (fast) den BITKOM-Bedarf abdecken. Dieses Problem scheint zumindest von einigen Hochschulen erkannt zu sein. Sie kümmern sich daher selbst darum, dass bevorzugt solche Bewerber angenommen werden, die eine realistische Vorstellung von Studium und Beruf haben, und hinreichend motiviert sind.
Immer ist die Rede von einer Diskrepanz zwischen der im Studium erworbenen Qualifikation und der im Markt benötigten. Sollte es nur darum gehen, dass ein Zuviel an Grundlagenwissen einem Zuwenig an aktuellem Berufswissen gegenübersteht, müssten die Arbeitgeber geduldiger sein. Sie überfordern die Hochschulen, wenn sie berufsfertige Absolventen erwarten. Allerdings sollte man den Hochschulen die Auflage machen, dass sie berufsfähige Absolventen innerhalb einer adäquaten Studienzeit (≤ 10 Semester) ausbilden. Dass es ohne inhaltliche Spezialisierung nicht mehr geht, ist ein Zeichen der Breite und Reife des Fachgebiets. Sollten hier Lücken bestehen, sollten die Hochschulen dies erfahren, möglichst bevor die Absolventen auf den Arbeitsmarkt treffen. Das Spiel von Angebot und Nachfrage auf dem Rücken junger Menschen auszutragen, ist nicht besonders sozial.
In der Informatik spricht man immer noch von der geringen Halbwertzeit des Fachwissens. Sie soll nur 5-7 Jahre betragen. Mit andern Worten, die Hälfte von dem, was man im ersten Semester gelernt hat, sei im 10. Semester nichts mehr wert. Hier sind alle Beteiligten aufgefordert, etwas vernünftiger zu argumentieren. Durch ein wenig Überlegung kann man sich klarmachen, dass dem nicht so ist. Natürlich gibt es einen Weiterbildungsbedarf. Er ist nicht größer als bei Ärzten, Autobauern und Chemikern. Es gibt in der Informatik schon lange eine blühende Weiterbildungsindustrie. Auch die GI hat sich vor Jahrzehnten mit der DIA engagiert, woran Günther und Vossen im GI-Präsidiums-Blog erinnern. Aber auch die Hochschulen selbst sollten sich mehr um die Erwachsenenbildung kümmern. Das oberflächliche Gerede, dass Informatikwissen volatil sei und daher nichts tauge, ist für viele Leute abschreckend und sollte unterbleiben.
Zu argumentieren, dass in der Informatik alles anders ist als in andern technischen Fächern, sollten wir uns allmählich abgewöhnen. Die Automobilindustrie feiert zwar ihr 125-jähriges Bestehen. Wenn man – wie Günther und Vossen es mit Recht tun – Konrad Zuse als unsern Gottlieb Daimler ansieht, dann wird die Informatik bald 75 Jahre alt. Der Unterschied ist also nicht mehr so gravierend, wie oft dargestellt, auch wenn es in unserer Branche noch nicht so viele Firmengründungen und Zusammenschlüsse gegeben hat wie in der Autobranche. Mit 75 Jahren darf selbst die Informatik sich als erwachsen ansehen.
Bei der Diskussion von Lösungen des Fachkräfteproblems sollte man nicht außer Acht lassen, dass noch immer mehr als die Hälfte der IT-Jobs in der Wirtschaft von Nicht-Informatikern besetzt sind. Deshalb ist als kurzfristig wirkende Maßnahme eine gezielte Umqualifizierung aus anderen technischen Berufen (Ingenieure, Physiker, Mathematiker) immer noch am attraktivsten. Die Anwerbung außereuropäischer IT-Fachkräfte ist für Deutschland bisher nur von mäßigem Erfolg begleitet gewesen. Anders sieht es bei osteuropäischen Fachkräften aus. Auf die Gründe für beides will ich hier nicht eingehen.
Natürlich sollte man auch die beiden langfristig wirkenden Maßnahmen weiter im Auge behalten, nämlich die Erhöhung des Frauenanteils oder die Steigerung der Studierendenzahlen in den MINT-Fächern. Beide Maßnahmen kommen aber frühestens in 10 Jahren zum Tragen, d.h. nach dem nächsten Konjunkturzyklus. Da einem Aufschwung bestimmt ein Abschwung vorausgeht, besteht die Gefahr, dass alle Werbeanstrengungen verpuffen können. Die Presse und die Wirtschaft werden beim geringsten Konjunktureinbruch dafür sorgen, dass möglichst viele Jugendliche davon abgeschreckt werden, in ein technisch anstrengendes Studium zu investieren – zumindest werden sie verunsichert sein.
In einer ähnlichen Situation vor 10 Jahren wies ich in einem Beitrag im Informatik-Spektrum daraufhin, dass es für die Wirtschaft auch andere Lösungen gibt, als immer nur nach mehr Köpfen zu schreien. In unserer Branche zählen ja die Köpfe und nicht die Hände. Wie in dem zitierten Artikel ausgeführt, besteht einerseits die Chance die Standardisierung von Anwendungen zu verbessern. Andererseits sollte man sich überlegen, wie man Arbeitsergebnisse statt in Konsumgüter (Dienstleistungen) in Investitionen (Produkte) verwandelt.
Aus betrieblicher Sicht sind Dienstleistungen nicht-kapitalisierbare Geschäftskosten. Nur Produkte stellen Investitionen dar und haben eine nachhaltige Wirkung. Eine Branche, in der Fachkräftemangel herrscht, wird dazu tendieren, die Aufwendungen für Dienstleistungen auf das Allernötigste zu reduzieren.
Manchmal frage ich mich, warum so viele Informatikerinnen und Informatiker in diesem Punkte so uneinsichtig sind. In emotionaler Voreingenommenheit werden Produktentwickler meist verteufelt. Das Heil wird in der durch Personen erbrachten Dienstleistung gesucht, d.h. in der konsumartigen Verschwendung von geistiger Leistung. Dabei geht das eine nicht ohne das andere. Beide sind nützlich.
Übrigens forderte ich damals die GI auf, sowohl den Studierenden wie den Arbeitgebern eine realistische Beratung anzubieten.
Wir befinden uns, was das Interesse an Informatik betrifft, sicher auf dem Berg einer Wellenbewegung. … Natürlich wird es auch auf der Bedarfsseite Aufwärts- und Abwärtsbewegungen geben. Kein Boom hält über Jahrzehnte an. Damit Enttäuschungen vermieden werden, ist sachliche Aufklärung und zeitgemäße Beratung angebracht. Diese sollten sich an Jugendliche und Bedarfsträger gleichermaßen wenden. Die Frage ist, wer dies am besten tun kann. Einer Fachgesellschaft wie der GI stünde dies sicher gut an.
Das schrieb ich vor zehn Jahren. Dass etwas Wesentliches in dieser Hinsicht passiert ist, kann ich nicht feststellen. Vielleicht hatte ich mal wieder zu viel erhofft.
Nachtrag:
Am 2.8.2011 schrieb Oliver Günther aus Berlin:
Dass der Fachkräftemangel etwas differenzierter analysiert werden muss als dies in der Tagespresse geschieht ist klar. Wegdiskutieren kann man ihn allerdings auch nicht - insbesondere Mittelständler mit wenig klangvollen Firmennamen sehen sich schon heute akut damit konfrontiert..... Etwas ausführlicher habe ich mich dazu kürzlich in einer von AT Kearney organisierten Runde geäußert:
Hierin gefällt mir die Aussage von Oliver Günther, dass von einem Ingenieurmangel erst gesprochen werden sollte, wenn sich dies auch in einer besseren Bezahlung ausdrückt..
Dass das im Studium vermittelte Wissen nach 10 Semestern schon bröckelt, behauptet eigentlich niemand, aber dass man ein paar Jahre später noch einmal überprüfen muss, ob man noch auf dem Stand der Dinge ist, schon. Ein Beispiel aus meinerm eigenen Gebiet (Datenbanken): Wer heute seine Informatik-Abschluss macht, wird in einer typischen DB-Vorlesung noch nichts von NoSQL-Datenbanken gehört haben, was für Internet-Firmen wie Google, Yahoo! oder Facebook aber schon Tagesgeschäft ist. Spätestens dann, wenn das in den Unterricht eingeflossen ist, ist es auch an der Zeit, dies in der Breite zu vermitteln.
Im Übrigens tun die Hochschulen mittlerweile einiges in Sachen Weiterbildung; behindert wird dies oft dadurch, dass man nicht weiss, wie man die benötigte Anschubfinanzierung realisieren soll.
Und last, not least, glaube ich nicht, dass die Informatik mit der Automobilindustrie vergleichbar ist. Dazu gibt es einen netten Vergleich, der es auf den Punkt bringt (ich kann mich an die Quelle leider nicht mehr erinnern): Hätten sich Autos mit ähnlicher Geschwindigkeit entwickelt wie der Computer, hätten wie heute folgendes Bild: Anschaffungskosten: $4,000 Höchstgeschwindigkeit: 60,000 mph Platzangebot: 10,000 Personen Spriteffizienz: 20,000 mpg Zuverlässigkeit: Wartung im Schnitt alle 70 Jahre
Die Aussage, die Gottfied Vossen zitiert, geht im Prinzip auf Bill Gates zurück. Bekanntlich ließ die Autoindustrie diesen schiefen Vergleich nicht unwidersprochen. Auf der Homepage eines gewissen Jan Theofel wird die Diskussion zusammengefasst. Ich glaube unsere Branche wäre gut beraten, wenn wir nicht nur Computer immer billiger machen würden, quasi zum Wegwerfprodukt. Wir sollten auch eine Linie haben, die wenigstens einen Teil der von Jack Welsh gelisteten Probleme vermeidet.
Nachtrag:
Am 2.8.2011 schrieb Oliver Günther aus Berlin:
Dass der Fachkräftemangel etwas differenzierter analysiert werden muss als dies in der Tagespresse geschieht ist klar. Wegdiskutieren kann man ihn allerdings auch nicht - insbesondere Mittelständler mit wenig klangvollen Firmennamen sehen sich schon heute akut damit konfrontiert..... Etwas ausführlicher habe ich mich dazu kürzlich in einer von AT Kearney organisierten Runde geäußert:
Hierin gefällt mir die Aussage von Oliver Günther, dass von einem Ingenieurmangel erst gesprochen werden sollte, wenn sich dies auch in einer besseren Bezahlung ausdrückt..
Am 3.8. 2011 schrieb Gottfried Vossen, zurzeit in Neuseeland:
Dass das im Studium vermittelte Wissen nach 10 Semestern schon bröckelt, behauptet eigentlich niemand, aber dass man ein paar Jahre später noch einmal überprüfen muss, ob man noch auf dem Stand der Dinge ist, schon. Ein Beispiel aus meinerm eigenen Gebiet (Datenbanken): Wer heute seine Informatik-Abschluss macht, wird in einer typischen DB-Vorlesung noch nichts von NoSQL-Datenbanken gehört haben, was für Internet-Firmen wie Google, Yahoo! oder Facebook aber schon Tagesgeschäft ist. Spätestens dann, wenn das in den Unterricht eingeflossen ist, ist es auch an der Zeit, dies in der Breite zu vermitteln.
Im Übrigens tun die Hochschulen mittlerweile einiges in Sachen Weiterbildung; behindert wird dies oft dadurch, dass man nicht weiss, wie man die benötigte Anschubfinanzierung realisieren soll.
Und last, not least, glaube ich nicht, dass die Informatik mit der Automobilindustrie vergleichbar ist. Dazu gibt es einen netten Vergleich, der es auf den Punkt bringt (ich kann mich an die Quelle leider nicht mehr erinnern): Hätten sich Autos mit ähnlicher Geschwindigkeit entwickelt wie der Computer, hätten wie heute folgendes Bild: Anschaffungskosten: $4,000 Höchstgeschwindigkeit: 60,000 mph Platzangebot: 10,000 Personen Spriteffizienz: 20,000 mpg Zuverlässigkeit: Wartung im Schnitt alle 70 Jahre
Die Aussage, die Gottfied Vossen zitiert, geht im Prinzip auf Bill Gates zurück. Bekanntlich ließ die Autoindustrie diesen schiefen Vergleich nicht unwidersprochen. Auf der Homepage eines gewissen Jan Theofel wird die Diskussion zusammengefasst. Ich glaube unsere Branche wäre gut beraten, wenn wir nicht nur Computer immer billiger machen würden, quasi zum Wegwerfprodukt. Wir sollten auch eine Linie haben, die wenigstens einen Teil der von Jack Welsh gelisteten Probleme vermeidet.
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