Dienstag, 9. August 2011

Über Alchwin von York (735-804)

Nachdem die Franken zwischen 270 und 407 dreimal Trier gebrandschatzt hatten, löste sich die römische Präsenz im Rheinland sehr schnell auf. Nach dem Tod des letzten römischen Gouverneurs ging um 470 die politische Autorität für Gallien offiziell an Chlodwig über, den fränkischen König mit Sitz in Soissons. Die von den Römern im Rheinland geschaffene Kultur versank, sei es, dass alle festen Bauwerke in Schutt zerfielen, oder dass Straßen und Märkte verkamen. Die Anzahl der Menschen, die lesen und schreiben konnte, nahm schlagartig ab. Das römische Theater und der Götterkult verschwanden. ebenso wie die seit dem ersten nachchristlichen Jahrhundert bestehenden christlichen Gemeinden. Eine Ausnahme bildete die Stadt Trier, wo auch während der gesamten Völkerwanderungszeit der Bischofssitz besetzt blieb. Dass es später wieder zu einer Re-Christianisierung kam, verdanken wir Missionaren von den britischen Inseln. Bekannte Namen sind Winfried (auch Bonifatius genannt), Willibrord, Kilian, Columban und Gallus.



Alchwin (735-804)

Mit diesem Beitrag möchte ich einen dieser Angelsachsen in Erinnerung rufen, der es sich zum Ziel gesetzt hatte, dafür zu sorgen, dass die Franken etwas von der römischen Kultur erfuhren. Vor allem wollte er ihnen Lesen und Schreiben beibringen. Die Rede ist von Alchwin von York. Der germanische Name bedeutet ‚Freund des Elchs‘. Wie Bonifatius ist er uns besser in der latinisierten Form seines Namens bekannt, nämlich als Alkuin oder Alcuinus, manchmal auch als Albin oder Albinus.
 
Alchwin entstammte einem Adelsgeschlecht aus der ostenglichen Provinz Yorkshire. Er wurde an der Münsterschule in York ausgebildet und zwar in allen klassischen Fächern, angefangen mit  Latein, Griechisch bis zu Rhetorik, Mathematik und Astronomie. Seine Lehrer hießen Egbert und Elbert. Schon sehr früh war er selbst als Lehrer tätig und übernahm 766 die Leitung der Schule. Mit seinem Lehrer Elbert zusammen machte er 781 eine Reise nach Rom, um Bücher für die Münster­bibliothek in York zu besorgen. Auf der Rückreise traf man Karl den Großen in Parma, der Alchwin einlud, zu ihm an die Hofschule nach Aachen zu kommen. Ab 782 übernahm er deren Leitung. In Aachen wurde er zum wichtigsten Berater des Königs. Als Lehrer und Gelehrter wirkte er nicht nur für den Hof, sondern für das ganze Frankenreich. Zu seinen Schülern an der Hofschule gehörten Hrabanus Maurus und Einhard, der Biograf Karls des Großen. 

Von seiner lebhaften Korrespondenz mit der gesamten Elite des Abendlandes sind über 300 Briefe erhalten. Außerdem verfasste er Gedichte, Predigten, historiographische, biographische, theologische Werke sowie Abhandlungen über Rhetorik und Astronomie. Viele der in Latein verfassten Lehrbücher, etwa die über Grammatik, Rhetorik und Dialektik, sind erhalten geblieben. Einige der Lehrbücher sind in Form eines Dialogs zwischen dem König Karl und dem Magister Albin dargestellt. Er gibt darin auch eine Definition für das Wort Philosophie, die uns heutige Leser vielleicht etwas überrascht:

Philosophie ist ein griechisches Wort und bedeutet die "Liebe zur Weisheit". Sie befasst sich mit der Erforschung der Naturgesetze, der Kenntnis von den menschlichen und göttlichen Dingen, soweit sie dem menschlichen Verstand erreichbar sind. Philosophie ist aber auch Rechtschaffenheit im Leben und die Kunst, ein gutes Leben zu führen, die Vorbereitung zum Tode, die Geringschätzung alles Weltlichen.

 

Karl der Große und Alchwin

Der Hof in Aachen war alles andere als ein literarisches oder künstlerisches Idyll. Es herrschten teilweise rohe Sitten und weder Karl noch seine Herzöge konnten Lesen und Schreiben. Ihre wichtigste Kompetenz bestand darin, das Schwert führen zu können, also in kriegerischen Auseinandersetzungen die Oberhand behalten zu können. Die Söhne Karls nahmen am Unterricht teil, von seinen Töchtern wird dergleichen nicht berichtet. Karl selbst hatte nur Interesse daran, sich in Rhetorik ausbilden zu lassen. Für alles andere hatte man ja die Untertanen. Noch im Jahre 812 schrieb Karl in einem Sendschreiben an die Äbte und Bischöfe, also die höchsten Amtsträger im Land, was wie ein Zugeständnis klingt: 

Obschon es besser ist, gut zu handeln als viel zu wissen, muss man dennoch wissen, bevor man handelt.
Alchwin gilt als einer der Begründer des ersten kulturellen Aufschwungs nach der Völkerwanderung (der Karolingischen Renaissance) und ist mitverantwortlich für die Verbreitung der karolingischen Minuskel, einer aus Klein- und Großbuchstaben bestehenden Schrift, die vom 9. bis in das 12. Jahrhundert im Gebrauch war und als Vorbild für die heute verwendeten Kleinbuchstaben gilt.

Da Alchwin Karls Sachsenpolitik nicht guthieß, wurde er im Jahre 796 ‚entsorgt‘ – um einen modernen Ausdruck zu gebrauchen. Obwohl er nur die Weihe eines Diakons besaß, bot ihm Karl eine der berühmtesten und reichsten Abteien des Frankenreiches als Pfründe an, nämlich die Abtei des Hl. Martin in Tours. Nur widerwillig akzeptierte er. In einem Brief an Karl von Tours aus kommt dies zum Ausdruck:

Eurem Willen und Wunsch entsprechend arbeite ich jetzt unter dem Dach des heiligen Martin daran, die einen mit dem Honig der Heiligen Schrift zu laben und die anderen mit dem klaren, alten Wein der Wissenschaft des Altertums zu tränken; manche nähre ich mit den Früchten grammatikalischer Feinheiten, und wieder andere unterweise ich in der Wissenschaft von den Sternen, die wir vom Dach irgendeines Gebäudes aus beobachten... Im Morgen meines Lebens, in den blühenden Jahren des Lebens säte ich in Britannien. Und jetzt, an meinem Lebensabend, wo das Blut in meinen Adern abkühlt, höre ich nicht auf, im Frankenreich zu säen ... Mein Wunsch geht dahin, dass beide Saaten aufgehen.

Alchwin starb in Tours im Jahre 804. Zuvor legte er noch eine zweite Schaffens­periode ein, die eine große Breitenwirkung im Reich hatte. Dazu gehört die systematische Erstellung von Bibeln, die auf einem revidierten Text der Hieronymus-Bibel (Vulgata) beruhten und reich illustriert waren. Auch war seine Meinung weiterhin gefragt, so in allen kirchenrechtlichen Fragen. So machte sich Karl die Position Alchwins zu eigen, als er sich im Streit zwischen Leo III. und der Stadt Rom auf die Seite des Papstes schlug. Eine Konsequenz daraus war die im Jahre 800 erfolgte Kaiserkrönung Karls in Rom.

Alchwin hatte auch mehrere Heiligen-Viten verfasst. Eine davon lag lange Zeit in der Württembergischen Landesbibliothek in Stuttgart, nämlich die Lebensgeschichte des Hl. Willibrord. Willibrord (658-739) wirkte primär im niederländischen Raum und gründete das Kloster Echternach, wo er auch begraben liegt. Nur zur Erklärung: Der Hof meiner Vorfahren in der Südeifel war Jahrhunderte lang dem Kloster Echternach tributpflichtig. Deshalb ließ ich es mir nicht nehmen, vor etwa 10 Jahren bei einem meiner vielen Besuche in der Landesbibliothek mir den Tresorschatz vorzulegen zu lassen. Ein Anruf genügte. Meine Frau und ich wurden in einen separaten Raum geführt und das Dokument wurde vor uns ausgebreitet. Ich durfte es in Händen halten und unter Aufsicht studieren, ja sogar fotografieren. Die beigefügte Abbildung zeigt die ersten beiden Seiten. In einer späteren Veröffentlichung [1] beschrieb ich das Werk wie folgt:

 
Alchwins Vita S. Willibrordi (erste beiden Seiten)

Das Buch besteht aus 41 Seiten auf Pergament im Quart-Format (vier Blätter mit acht Seiten je Druckbogen). Es ist sowohl vorne wie hinten gekennzeichnet als ‚Alchwins De Vita S. Willibrordi‘. Der Text ist in lateinischer Sprache verfasst und enthält keinerlei spätere Eintragungen. Auffallend sind einige Seiten mit Löchern oder Brandflecken. Bei der Schrift handelt es sich – wie zu erwarten – um karolingische Minuskeln. Eine Besonderheit sind die Verzierungen der Anfangsbuchstaben (Initialen) der einzelnen Kapitel. Entsprechend englischen oder irischen Vorbildern enden die Buchstaben meist in Tierköpfen. Der Kodex ist in elf Kapitel gegliedert, in denen einzelne Abschnitte aus dem Leben des Heiligen behandelt werden. Inhaltlich enthält die Handschrift keine Informationen über Willibrord, die nicht auch aus anderen Quellen bekannt sind. ...

Das genaue Jahresdatum der Entstehung ist nicht bekannt. Der Kodex, der in Stuttgart liegt, ist bereits eine Abschrift und soll im frühen neunten Jahrhundert in Echternach oder in Trier (St. Maximin) entstanden sein. Der Einband soll aus Konstanz stammen, wo sich der Kodex im Jahre 1343 im Bestand der Dombibliothek befand. Er kam später in das Kloster Weingarten. König Friedrich I. von Württemberg überführte den Kodex 1812 nach Stuttgart, nachdem das Kloster Weingarten im Gefolge der Säkularisation in württembergischen Landesbesitz übergangen war. Über die Hofbibliothek kam er schließlich in den Bestand der Landesbibliothek. 

Die Stuttgarter Landesbibliothek trat ihre Kopie inzwischen an die Universitätsbibliothek Freiburg ab. Zum Schluss kann ich nicht umhin, einen bekannten lateinischen Spruch zu zitieren: Habent sua fata libelli! Auf Deutsch: Auch Bücher haben ihre Schicksale, vor allem alte Bücher. Dieses ist nämlich nicht die einzige mittelalterliche Handschrift, die mich faszinierte, aber die mit dem stärksten Bezug zu meiner Heimat.

Zusätzliche Referenz:
  1. Endres, A.: Berühmte Schriftdokumente aus dem frühmittelalterlichen Bidgau. In: Heimatkalender des Landkreises Bitburg-Prüm 2006, 106-113

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