Freitag, 26. August 2011

Zu den Hungersnöten am Horn Afrikas

In der Geschichte der Menschheit, so wie sie z.B. Ian Morris in dem von mir besprochenen Buch dargestellt hat, spielen zwei Weltregionen eine besondere Rolle. Beide haben die Form einer Mondsichel und liegen nur etwa 30 Breitengrade voneinander entfernt. Gemeint ist einerseits der Fruchtbare Halbmond, der sich von Ägypten ausgehend über Syrien, das südliche Anatolien bis nach Mesopotamien (der heutige Irak) und Persien (der heutige Iran) erstreckte. Hier wurden vor etwa 15.000 Jahren Nomaden zu Bauern und gründeten Städte, in denen unterschiedliche Berufe sich arbeitsteilig ergänzten. 

Die Weltregion, mit der ich mich im Folgenden beschäftige, hat vom UN-Sicherheitsrat die Bezeichnung ‚Bogen der Instabilität‘ erhalten. Sie erstreckt sich vom Horn Afrikas, über den Jemen, nach Afghanistan, Bangladesch bis nach Myanmar und Laos. Diese Gegend ist nicht nur zurückgeblieben (oder zurückgefallen), was den Aufstieg von Wirtschaft und Kultur betrifft, sie ist außerdem häufiger von politischen und kriegerischen Auseinandersetzungen betroffen als manche andere Gebiete der Erde. Das Horn Afrikas ist ein Extrembeispiel eines permanenten Krisenherdes.

Zum Horn Afrikas rechnet man folgende Länder: Äthiopien, Dschibuti, Eritrea, Kenia und Somalia. Im Moment ist Somalia mal wieder täglich in den Nachrichten mit Bildern von hungernden Kindern und Spendenaufrufen an die Bewohner reicher Länder. Im Vergleich zu früheren Spendenaktionen für die Tsunami-Opfer in Sumatra, die Erdbebenfolgen in Haiti oder die Überflutungen im Industal, soll das bisherige Spendenaufkommen jedoch zu wünschen übrig lassen. Ruft man sich die letzten 30 Jahre in Erinnerung kann man diese etwas verhaltene Reaktion der Weltgemeinschaft vielleicht sogar verstehen. Billigen sollte man sie nicht. Im Folgenden versuche ich mich der schwierigen Doppelfrage zu nähern, was läuft da eigentlich ab und was lässt sich (noch) tun? 

Sehen wir uns die fünf betroffenen Länder kurz einzeln an. Einige statistische Daten sind in folgender Tabelle angegeben, mit einem Vergleich zu Deutschland.


Äthiopien gilt als einer der ältesten kontinuierlich bestehenden Staaten der Welt. Seine Ursprünge reichen bis ins 9. Jahrhundert v. Chr. zurück. Das Land wurde nie von Europäern kolonisiert, außer einer kurzen Zeitspanne der italienischen Besetzung vor dem zweiten Weltkrieg. Danach herrschte Kaiser Haile Selassie, der in der ganzen Welt herumreiste und dadurch sein Land bekannt machte. Im Jahre 1974 wurde die Monarchie gestürzt. Das darauf folgende kommunistische Regime erwies sich nicht nur als sehr repressiv, es verschuldete auch eine erste große Hungersnot. Es kam zum Bürgerkrieg, der bis 1991 anhielt. An der Stelle der Kommunisten etablierte sich ein föderales System, das auch heute noch besteht. Die Bevölkerung besteht etwa aus 60% Christen, von denen die Mehrheit zur äthiopisch-orthodoxen Kirche gehört, und etwa 40% sunnitischen Muslimen. Im deutsch-sprachigen Raum warb der Schauspieler Karlheinz Böhm seit 1981 sehr stark für Äthiopien. Er sieht die Ursachen für die Armut in Äthiopien vor allem in der sozialen Benachteiligung von Frauen.

Dschibuti ist das kleinste der hier beschriebenen Länder und liegt am Südausgang des Roten Meeres (dem Bab el Mandeb). Es war von islamischen Nomaden bevölkert, bis dass Frankreich nach dem Bau des Suezkanals ein Gegenstück zum britischen Militärhafen von Aden suchte. Man kaufte 1862 zuerst das Gebiet von Obock und später das ganze Gebiet des heutigen Staates. Nach der 1917 erfolgten Fertigstellung einer Bahnlinie nach Addis Abeba wurde Dschibuti zum wichtigsten Ausfuhrhafen Äthiopiens. Nach einer schrittweisen Entlassung in die Selbständigkeit sprach sich 1958 die Mehrheit der Bevölkerung für einen Verbleib bei Frankreich aus. Unter dem Druck anderer afrikanischer Staaten und der UN wurde Dschibuti jedoch 1977 ein selbständiger Staat. Ich selbst wurde auf diese Exklave französischen Lebens in der arabischen Welt aufmerksam durch den Schriftsteller Henry de Monfreid [1], den ich 1963 persönlich kennen lernte. Das zitierte Buch beginnt mit dem schön klingenden und pathetischen Satz: 

Mon fils ainé est né là-bas, au sud de la Mer Rouge, et comme un petit sauvage a poussé en liberté sur la plage d’Obock. [Mein ältester Sohn ist da unten geboren, im Süden des Roten Meeres, und wie ein kleiner Wilder wuchs er in Freiheit auf am Strand von Obock]. 

Das war um 1930 herum, als Dschibuti noch französische Kolonie war. Heute sind noch etwa 5% der Einwohner Franzosen.

Eritrea ist der jüngste der fünf Staaten. Nachdem das Land lange Zeit mit Äthiopien vereinigt war, erhielt es 1993 nach einem dreißigjährigem Krieg wieder seine Unabhängigkeit. Fünf Jahre später brach ein Konflikt mit Äthiopien über den Grenzverlauf aus, der 2002 von einer UN-Grenzkommission beigelegt wurde. Die religiöse Struktur der Bevökerung ist ähnlich wie in Äthiopien.

Kenia war seit 1895 englische Kolonie. Ab 1952 wurde das Land von  den Aufständen der berüchtigten Mau-Mau-Rebellen erschüttert, erreichte aber bereits 1963 seine Unabhängigkeit unter Jomo Kenyatta,  dem Anführer der Rebellen. Seither wird das Land von einem Einparteiensystem regiert. Der Tierreichtum seiner Nationalparks lockt Touristen noch stärker an als die Küstenstrände um Mobasa. Im Frühjahr 2006 litt der Nordosten des Landes unter den Folgen einer Dürre und es kam zu einer Verknappung von Nahrungsmitteln. Zurzeit wird Kenia vor allem von der Hungersnot im benachbarten Somalia in Mitleidenschaft gezogen. Etwa 70% der Kenianer sind Christen, 20% Muslime und 10% hängen afrikanischen Naturreligionen an.

Somalia ist das Land, bei dem sich die Probleme des Horns von Afrika kulminieren. Somalia entstand aus dem Zusammenschluss der Kolonialgebiete Britisch- und Italienisch-Somaliland, die 1960 gemeinsam unabhängig wurden. Seit dem Sturz der autoritären Regierung unter Siad Barre im Jahre 1991 befindet sich das Land im Bürgerkrieg. Die international anerkannte Übergangsregierung kontrolliert nur einen kleinen Teil des Staatsgebiets. De facto befindet sich das Land in der Hand lokaler Clans, von Kriegsherren, radikal-islamischen Gruppen und Piraten. Somalia ist heute das Musterbeispiel eines zerfallenen Staates (engl. failed state).

An zwei Ereignisse aus der jüngsten Geschichte muss jeder denken, sobald er den Namen der somalischen Hauptstadt Mogadischu hört:
Beide Ereignisse haben sich dem Weltgedächtnis eingeprägt. Ging es 1977 um ein primär deutsches Ereignis im Zusammenhang mit der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Schleyer, so war es 1993 der Versuch der Weltgemeinschaft die Nahrungsmittelhilfe zu sichern und den Frieden wiederherzustellen. 

Nach langwierigen Verhandlungen konnte zwar 2004 eine Übergangsregierung (unter Präsident  Abdullahi Yusuf Ahmed) gebildet werden. Sie konnte sich aus Sicherheitsgründen jedoch nicht in Mogadischu niederlassen. Mitte 2006 eroberte die Union islamischer Gerichte Mogadischu und führte die islamische Rechtsordnung der Scharia ein. Das veranlasste Äthiopien dazu einzugreifen, was drei Jahre lang zu heftigen Kämpfen und vielen Flüchtlingen führte. Da Somalia an einer der für den Welthandel wichtigsten Schifffahrtsrouten liegt, wurde die Piraterie zu einem profitablen Geschäft. Über Hundert Schiffe wurden bisher mit Ladung und Besatzung in Geiselhaft genommen, um Millionenbeträge als Lösegeld zu erpressen. Allein im Jahre 2010 gab es über 200 Zwischenfälle und 47 gekaperte Schiffe. Erst in diesem Jahr konnte die Regierung Ahmed wieder in Mogadischu Fuß fassen. Deshalb können humanitäre Organisationen wieder Hilfsmittel über den Flughafen von Mogadischu einführen, falls sie dies möchten.

Nicht nur bezüglich des Einkommens, sondern auch in Bezug auf Kindersterblichkeit und Schulbildung ist Somalia eines der rückständigsten Länder der Welt. Die Sterblichkeit von Kindern unter fünf Jahren liegt in Somalia mit 225 von 1000 auf Rang 6 in der Welt. Bei der Müttersterblichkeit liegt das Land auf Platz 3. Etwa 13 % der Jungen und 7 % der Mädchen besuchen eine Schule. Dabei handelt es sich meist um private Koranschulen. Mangelernährung und Infektionskrankheiten sind verbreitet. Rund 70 % der Bevölkerung haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser und medizinischer Versorgung. Die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau liegt bei über 6, im Vergleich zu 1,39 in Deutschland. 

Soviel zu den einzelnen Ländern. In der Zusammenfassung muss man sagen, dass es sich hier um eine Weltregion handelt, die klimatisch sehr benachteiligt ist. Als Folge davon fand – außer in Äthiopien – der Übergang vom Nomadenleben zum sesshaften Bauernleben nie statt. Gleichzeitig wuchs die Bevölkerung in einem Maße, dass die nomadenhafte Nutzungsweise der kargen Böden sie gar nicht ernähren konnte. Im Vergleich zu den Ländern auf der andern Seite des Roten Meeres gab es keine Erdöl- oder Erdgasvorkommen, die sich ausbeuten ließen. Außer in Dschibuti hat sich ein Gesellschaftssystem etabliert, teils auf christlicher, teils auf muslimischer Basis, in dem weder die Schulbildung der Kinder noch die Gleichberechtigung der Frauen gefördert werden. Mehr und mehr wurde man von externer Hilfe abhängig. Die jeweiligen politischen Machthaber versäumten es, diese gerecht zu verteilen, ja sie weigerten sich teilweise sogar, diese überhaupt ins Land zu lassen.

Der oft von afrikanischen Politikern benutzte Vorwurf, dass ihre heutigen Probleme als Spätfolgen der Kolonisierung anzusehen seien, trifft nur teilweise zu. Die Milliarden, die der Westen bisher als Entwicklungshilfe investiert hat, sind offensichtlich verpufft. Sie führten nicht zum Aufbau eigener agrarischer oder wirtschaftlicher Strukturen. Die derzeit von China in großem Maße getätigten Investitionen dienen anscheinend mehr der Versorgung der chinesischen Wirtschaft mit Rohstoffen, als der Hilfe zur Selbsthilfe.

Im Moment strömen Tausende von hungerleidenden Flüchtlingen von Somalia nach Kenia. Natürlich müssen wir sie ernähren. Ebenso wichtig ist es, in ihren Herkunfts­ländern eine Strukturpolitik anzustoßen, die dafür sorgt, dass die Menschen in ihrer angestammten Heimat ein menschenwürdiges Auskommen finden. Es müssen also die Landstriche, die sich für eine agrarische Nutzung eignen, auch tatsächlich genutzt werden. Das Allerwichtigste ist, dass die betroffenen Länder sich selbst eine gute, verantwortungsvolle Regierung geben. Nur dieser können ausländische Geldgeber helfen. Ohne Regierung oder an der Regierung vorbei, geht es nicht.

Zusätzliche Referenz:
  1.  De Monfreid, H.: Mon aventure á l’île des forbans. Paris 1958

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