Freitag, 22. Juni 2012

Software-Entwickler gesucht – die deutschen Besonderheiten

In diesem Blog habe ich mich bereits mehrere Male mit dem Thema Programmierer-Mangel beschäftigt. Durch Wiederholung erhöhe ich vielleicht die Aufmerksamkeit der Leser, also die pädagogische Wirkung meiner Worte. Es geht hier zwar um ein internationales Problem, das in allen Industrie- und Schwellenländern (z.B. den BRICS-Staaten) besteht. Es gibt aber einige deutsche Besonderheiten. Ich wähle bewusst diesen neutralen Ausdruck. Mit ihm kann man sowohl Stärken wie Schwächen bezeichnen. Auf keinen Fall möchte ich den Eindruck erwecken, dass ich bei uns alles als schlecht ansehe, und dass ich glaube, dass anderswo alles besser ist. Anderswo bedeutet im Falle der Informatik in der Regel die USA. Ihre Überlegenheit bezüglich produktmäßiger Erfolge auf dem Gebiet der Software kann niemand leugnen. Aber einige Weltmarktführer haben wir auch.

In dem Beitrag von August 2011 setzte ich mich mit den Bedarfsschätzungen auseinander, aber auch mit der Frage, was man der Industrie raten kann. So überspitzt, wie ich es mir vorher nicht zugetraut hatte, schrieb ich:

Eine Branche, in der Fachkräftemangel herrscht, wird dazu tendieren, die Aufwendungen für Dienstleistungen auf das Allernötigste zu reduzieren. Manchmal frage ich mich, warum so viele Informatikerinnen und Informatiker in diesem Punkte so uneinsichtig sind. In emotionaler Voreingenommenheit werden Produktentwickler meist verteufelt. Das Heil wird in der durch Personen erbrachten Dienstleistung gesucht, d.h. in der konsumartigen Verschwendung von geistiger Leistung.

Das ist in der Tat die erste der deutschen Besonderheiten, ja, eine große Schwäche unseres Wirtschaftsstandorts. Warum ist dies so? Es ist in erster Linie die Informatik-Industrie – soweit es sie bei uns gibt –, die hier versagt. Sie denkt immer nur kurzfristig. Heute hat sie zu wenige Leute, morgen sind es wieder zu viele. Für die Planung der Produkte und Dienste fühlt man sich zuständig, nicht jedoch für die Planung des Personals. Da beschränkt man sich aufs Fordern. Die Politik möge es richten. Mal bietet die Politik Grüne Karten als die Lösung, mal längere Aufenthalte für ausländische Absolventen, mal die Verlängerung der Lebensarbeitszeit. Als langfristige Maßnahme versucht man die demografische Entwicklung zu beeinflussen.

Hier geht es aber nicht nur um das Kräftespiel zwischen Politik und Wirtschaft, wobei man auch von Spielchen reden könnte. Irgendwo liegt auch ein Mentalitätsproblem. Dafür habe ich zurzeit keine bessere Erklärung, als auf unser Bildungssystem zu verweisen. Als Ingenieur beobachte ich, dass die Ausbildung von Informatikern sich sehr an den Geisteswissenschaften orientiert. Die starke Präsenz von Mathematikern auf Informatik-Lehrstühlen ist ein Indiz dafür. Nicht nur Philosophen sondern auch Künstler sind stolz, wenn sie es schaffen, andere Leute anzuregen, ihnen nachzufolgen, also auch Philosoph oder Künstler zu werden. Eine Firma oder Behörde, die einen Psychologen anstellt, wird die Erfahrung machen, dass sie bald einen Bedarf für mehr Psychologen hat. Geisteswissenschaftler sind gut, wenn sie sich vermehren bzw. ausbreiten. Ingenieure dagegen wollen den Bedarf an Ingenieuren reduzieren, indem sie alle möglichen Dinge automatisieren. Sie möchten sich und ihre Kollegen wegrationalisieren.

Ursache und Wirkung zeigen sich gleichzeitig in der Struktur unseres Informatik-Marktes. Wenn ich mal von SAP absehe, deren Domäne die kaufmännischen Anwendungen sind, frage ich mich manchmal: Warum kauft die ganze alle Welt ihre Werkzeugmaschinen in Deutschland, aber kein einziges Software-Werkzeug? Meine Antwort: Weil wir nicht gelernt haben, Software-Entwicklung als Ingenieurtätigkeit zu betreiben! Wir lernen es nicht, weil es nicht anerkannt wird. Wir schreiben lieber Fachartikel in schlechtem Englisch als Code in Vulgärsprachen. Solche Sprachen sind C++, C#, ABAP und Visual Basic. Außerdem müsste man Programme, die andere Leute nutzen sollen, gründlich testen und pflegen. Man hat dann weniger Zeit, neuen Ideen nachzuhängen. Schön wäre es, man hätte überhaupt Ideen, die zu etwas taugen. Dann würde man sie schützen wollen, also patentieren. Das wird unsern jungen Leuten jedoch als geistige Schwäche verkauft. Ideen schützen, wer tut schon so etwas Perverses? Vielleicht so alte Industrien wie der Maschinenbau und die Pharmazie. Aber bald werden die Piraten auch diesen Rest entrümpelt haben.

Über die Versuche, Software-Ingenieurwesen als Studienrichtung zu etablieren, ging es im Interview mit Jochen Ludewig im Oktober 2011. Trotz seines großen persönlichen Engagements hat das Stuttgarter Modell keine Nachahmer gefunden. Ich persönlich bin 100% für Ludewigs Ausbildungsinhalte, nur halte ich wenig davon, die Informatik in immer kleinere Herzogtümer (sprich Studiengänge) aufzuteilen. Ich nannte das Balkanisierung. Die Profilierung eines Lehrstuhls führt sehr leicht dazu, dass alle andern Kollegen in Opposition gehen und auf Gegenaktionen sinnen. Wenn Lehrstuhl A seine Spezialität zum Studienfach hochjubeln kann, warum nicht auch Lehrstuhl B. So entstehen aus einem Fach, das man gut abdecken konnte, leicht fünf Fächer, die man nur noch mühsam abdecken kann. Leidtragende sind die Studenten und deren spätere Arbeitgeber. Mir wurde gesagt, dass Stuttgart als Reaktion auf Ludewigs Initiative jetzt weitere Studiengänge anbieten will. Dafür fordert man natürlich zusätzliche Professorenstellen. Schon heißt es wieder: Die Politik soll es richten! Ich hoffe, dass unsere Landespolitiker nicht so dumm sind, wie man glaubt, und dass sie das Spiel durchschauen.

Auf eine weitere Besonderheit verwies ich in einem Beitrag im April 2012. Darin wurden  zunächst Positionen von zwei prominenten Kollegen, Dave Parnas und Manfred Broy, wiedergegeben und kommentiert. Ich wies darauf hin, dass trotz der kritischen Haltung von Parnas und anderen, der US-Arbeitsmarkt den Software-Ingenieur voll akzeptiert hat. In einem Nachtrag zu demselben Beitrag zitierte ich die Stellenangebote einer einzelnen deutschen Jobbörse (StellenMarkt.de). Von etwa 7400 offenen Stellen waren rund 2300 für Software-Entwickler und über 1400 für SAP-Spezialisten, Insgesamt wurden jedoch nur 400 Informatiker und 40 Software-Ingenieure gesucht. Interessant ist, dass in 95% der Angebote Kenntnisse in Informatik gewünscht sind.

Die Kollegen, die heute für die Ausbildung von Software-Entwicklern verantwortlich sind, haben alle Hände voll zu tun. Früher wirkten hier ausschließlich private Firmen. Längst hat sich das öffentlich finanzierte Bildungssystem dieses Massengeschäfts angenommen. Für die so genannten Kunden, d.h. junge Menschen, gibt es in vielen Bundesländern die Berufsausbildung in Informatik sogar umsonst. Bei etwas, das es umsonst gibt, fragt man nicht, ob es so gut ist, wie es sein sollte oder sein könnte. Außerdem ist es nicht Sache der Studierenden ihre Qualifikationsanforderungen zu bestimmen, sondern die Abnehmer (die wahren Kunden) und ihre Fachverbände sollten sich darum kümmern.

Es ist mein Eindruck, dass die von mir festgestellten deutschen Besonderheiten kaum jemanden interessieren. Zumindest scheint dies für die vom Staat festangestellten Ausbilder zu gelten. Für sie sind das doch nur Nebensächlichkeiten. Die Maßstäbe, mit denen sie gemessen werden, sind andere. Einerseits ist man nur dann exzellent, wenn man viel Geld für Forschung einwirbt. Andererseits kann die deutsche Informatikausbildung nicht anders als gut sein. Da wo so viele Studenten sind, kann doch nichts schlecht sein. Ich wette, die Studentenzahlen wären nicht ein Deut geringer, würde man heute noch 100% der Ausbildung in Algol 60 oder Pascal machen. Und Studentinnen soll man auch noch am Stoff interessieren. Das geht wirklich zu weit.

Leider sind es nicht die deutschen Professoren, die darunter zu leiden haben, wenn etwas in der Ausbildung schief läuft, sondern alle diejenigen Absolventen, die nicht eine Hochschul-Karriere machen wollen. Diese sind (zum Glück) noch in der Mehrzahl. Aber wer redet schon von denen oder mit denen. Die GI kann es und will es nicht. BITKOM ist zwar besser, aber oft überfordert. Man ist Teil der Wirtschaft und handelt oft wie diese (siehe oben).

Während ich mich zunächst darum bemühe, unsere Situation zu verstehen und zu erklären, erlaube ich es mir hin und wieder etwas aufzurütteln. Wer das als Provokation empfindet, mag sich fragen, ob die trügerische Ruhe wirklich das kleinere Übel ist. Meinen Blog muss man ja nicht lesen. Erst recht nicht als GI-Mitglied.

2 Kommentare:

  1. An der fehlenden Planung für Personal kann's nicht liegen, dass D. Schwierigkeiten hat, mit USA aufzuschließen. Dort ist das bekannte Heuern und Feuern viele stärker ausgeprägt. Und wenn die Wirtschaft, wie gerade jetzt, keine Ersatz-Arbeitsplätze bietet, dann muss es auch der Staat richten (während die Rechte die Leute einfach ihrem Schicksal überlassen will). Da ist die Kurzarbeit in D. ein anerkannt besserer Weg, wie sich gezeigt hat.

    Walter Tichy

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  2. Vielen Dank für den Kommentar. Nur scheint mir Kurzarbeit für kreative, nicht beamtete Software-Entwickler eine etwas gewöhnungsbedürftige Idee.
    Bei dem Wort Planung dachte ich nicht nur an saisonale Schwankungen.

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