Samstag, 30. Juni 2012

Bonn, das universitäre Bundesdorf am Rhein

Im Herbst 1952 begann ich das Studium der Geodäsie in Bonn. Das Fachgebiet war mir vorher als Vermessungstechnik geläufig. So heißt es auch an allen technischen Hochschulen und Fachhochschulen. Hätte ich an der Technischen Hochschule in Aachen begonnen, hätte ich nach dem Vordiplom wechseln müssen. In Bonn ist die Geodäsie in der landwirtschaftlichen Fakultät der Universität angesiedelt. Diese ging aus der ehemaligen Landwirtschaftlichen Hochschule Poppelsdorf hervor. Eine ‚richtige‘ Universität hat auch etwas für sich – so dachte ich. Außerdem ist Bonn ja Bundeshauptstadt.

Mein Trierer Kommilitone und ich fanden unser erstes Zimmer in Endenich. Das war damals ein Dorf südwestlich von Bonn. Man konnte von dort gut zu Fuß die zwei Kilometer nach Poppelsdorf laufen, zur Not gab es ja Fahrräder. Bereits im dritten Semester zogen wir um. Inzwischen kannten wir den Markt besser. Wir bezogen eine Zweizimmerwohnung, nur 100 Meter vom Poppelsdorfer Schloss entfernt. Ich habe nur die allerbesten Erinnerungen an unsere damalige Lebens- und Haushaltsführung. Alles was ich kaufen musste, waren Brot und Getränke. Ich hatte von zuhause den allerbesten Schinken, sowie Gläser und Dosen mit Wurst, Fleisch, Butter und Marmelade. Mittags und manchmal auch abends gingen wir in die Mensa zum Essen. Mein Freund aus Trier brachte weniger Lebensmittel von zuhause mit als ich, dafür aber mehrere Flaschen Zeltinger Himmelreich oder Ürziger Schwarzley. Seine Mutter stammte nämlich aus Zeltingen und besaß eigene Weinstöcke in den allerbesten Lagen. Das Geodätische Institut der Uni Bonn liegt direkt gegenüber vom Poppeldorfer Schloss und war im Stil eines Renaissance-Palastes vor etwa 100 Jahren errichtet worden. Das Vorbild soll der Palazzo Strozzi in Florenz gewesen sein.
 

Geodätisches Institut in Bonn

Das Geodäsie-Studium hatte einen festen Rahmen. Etwa 25 Studenten, die im selben Semester begonnen hatten, trafen sich immer wieder bei denselben Vorlesungen. Die Kernfächer waren Landvermessung, Kartografie und Erdmessung. Zu alle Vorlesungen gab es praktische Übungen. Neben dem Messen waren Rechnen und Zeichnen die Grundtechniken, an denen niemand vorbeikam. Für die Landmessung gab es eigene Gelände, in denen Generationen von Studenten jeden Winkel und jede Strecke x-mal vermessen hatten. Diese Messübungen förderten unter anderem eine gewisse Team-Bildung. Für die Erdmessung kamen neben trigonometrischen Verfahren auch gravimetrische Methoden zum Einsatz. Unser Lehrkörper setzte sich zusammen aus überzeugten Geometern, bei denen man zum Teil ihre preußische Offiziersausbildung noch erahnen konnte, aus Mathematikern und Physikern, und aus Lehrbeauftragten von Landes- und Bundesbehörden. Besondere Beachtung erhielt ein Leitender Ministerialdirektor aus Düsseldorf. Ihm unterstanden alle Vermessungsbeamten in Nordrhein-Westfalen. Er schien auch für das Wohl der geodätischen Institute in Bonn und Aachen verantwortlich gewesen zu sein, weshalb er schon Mal als ‚graue Eminenz‘ tituliert wurde.

Das Studium bis zum Vordiplom entsprach einem typischen Ingenieur-Studiengang. Über alle vier Semester zogen sich die Vorlesungen zur praktischen Mathematik. Diese wurden auch von Physikern und Chemikern besucht. Leute, die von einem humanistischen Gymnasium kamen, taten sich spätestens bei partiellen Differenzgleichungen ziemlich schwer. Meine Leistungen reichten aus, um in den Übungen als ‚Hilfsbremser‘ mitzuwirken, d.h. ich durfte die Arbeiten von Chemikern und Physikern korrigieren. Die Technische Mechanik dagegen zog bei allen die Noten im Vordiplom nach unten. Die Photogrammetrie, also die Luftbildmessung, war ein Spezialfach und technisch anspruchsvoll.

Geradezu erholsam waren die Vorlesungen, die uns betriebswirtschaftliche und juristische Grundkenntnisse vermitteln sollten. Noch übertroffen wurden sie von Pflichtvorlesungen in Geografie, genauer in Geomorphologie, und in Städte- bzw. Landschaftsplanung. Einen relativ hohen Stellenwert hatte damals das Studium Generale. Unvergesslich sind hier Theodor Litts philosophische und pädagogische Aperçus und Heinrich Lützelers Einführung in die Philosophie des Kölner Humors. Mein Studienverlauf wich von der Norm erheblich ab, da ich nach dem sechsten Semester in den Genuss eines Auslandaufenthalts kam. Ehe ich darauf eingehe, möchte ich noch auf den Teil des Studentenlebens eingehen, der nichts mit dem Vermessungswesen zu tun hat. Dieser Teil spielte auch deshalb eine besondere Rolle, weil ich glaube, dass die Studienzeit sich nicht allein auf die fachliche Qualifizierung beschränken darf.

Die Stadt Bonn erstand als römisches Legionslager nach der Varus-Schlacht, also im ersten Jahrhundert nach Christus. Ab dem 16. Jahrhundert residierte hier der Kölner Bischof und Kurfürst, da die Kölner Bürger ihn am Betreten Kölns hinderten. Nach 1815, also nach dem Anschluss der Rheinprovinz an Preußen, wurde Bonn Garnisonsstadt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Bonn auf Betreiben Konrad Adenauers provisorische Hauptstadt der Bundesrepublik und blieb es bis 1999. Viele Nicht-Bonner pflegten vom 'Bundesdorf' zu sprechen, weil es im Gegensatz zu Düsseldorf, Frankfurt und Berlin seinen Charme als Kleinstadt bewahren konnte. Zum Teil entstand dieser Eindruck auch dadurch, dass sich in der Innenstadt kaum Regierungsgebäude befanden. Abgesehen von früheren Kasernen belegte die Regierung ein Neubauviertel am Rheinufer südlich der Stadt. Im Stadtbild Bonns fielen die Studenten mehr auf als die Staatskarossen. Die Universität bestand bereits seit 1786, also vor dem Einmarsch der französischen Revolutionstruppen. Nach den Befreiungskriegen, zu denen der Bonner Ernst Moritz Arndt einen intellektuellen Beitrag leistete, haben die Preußen sie wiederbelebt. An den berühmtesten Bürger der Stadt. Ludwig van Beethooven, erinnert dessen Geburtshaus, mitten in der Bonner Altstadt.

Das Studentenleben Bonns drehte sich um die Mensa. Hier traf man täglich seine Kommilitonen aus allen Fachrichtungen. Von Poppelsdorf war es ein halbstündiger Fußmarsch, bei dem man die Bahnstrecke Köln-Koblenz, die die Innenstadt zweiteilt, an einer Schranke überquerte. Da Bonn geografisch am Ende der Kölner Bucht liegt, wo sich die vom Atlantik eintreffenden Tiefdruckgebiete besonders stark bemerkbar machen, wurde Bonn schon mal mit dem despektierlichen Satz charakterisiert: ‘Entweder es regnet oder die Schranken sind zu‘. Das Hauptgebäude der Universität, das frühere Kurfürstliche Schloss, ist das dominierende Gebäude der Stadt. Eine 50 Meter breite Allee stellt die Blickverbindung her mit dem Poppelsdorfer Schloss, der Sommerresidenz des Kurfürsten. Obwohl die Generation der Kriegsteilnehmer, zu erkennen an abgetragenen Militärmänteln, die Universität noch nicht ganz verlassen hatte, überwogen die jüngeren Semester. In manchen Fachgebieten war der Frauenanteil sehr gering oder gar gleich Null, wie in der Geodäsie.

Noch etwas schüchtern wagten sich die ersten Korporationsstudenten in die Öffentlichkeit, zu erkennen an farbigen Brustbändern oder Mützen. Wer erkannt wurde, lief Gefahr von der Universität verwiesen zu werden. Ich selbst wurde im zweiten Semester Mitglied einer nicht-farbentragenden, katholischen Verbindung. Aufmerksam gemacht auf sie (und natürlich geworben) wurde ich durch einen Bonner Professor für Volkskunde, der aus meinem Heimatdorf stammte. Das Zusammensein unter Gleichaltrigen und Gleichgesinnten stellte alsbald ein echtes Gegengewicht dar zu den Fachkollegen in meinem Semester. Man traf dort Agrarwissenschaftler, Chemiker, Juristen, Mediziner, Philologen und Volkswirte. Sehr interessant war auch die landsmännische Mischung. Zu dem Kern aus Eiflern und Münsteranern kamen Bayern, Saarländer und Schwaben. Man lernte ‚Alte Herren‘ kennen, die als Ärzte, Ingenieure, Juristen, Lehrer oder Pfarrer tätig waren. Nicht vermissen möchte ich die Feste (Bälle, Karnevalsveranstaltungen, Kommerse) oder die Ausflüge (Rheinschifffahrten, Siebengebirgswanderungen), die in diesem Kreise organisiert wurden.

Teilnehmer der Fronleichnamsprozession 1954

Die Stadt Bonn bemühte sich mal ihr Kleinstadt-Flair herauszustellen, mal sich weltstädtisch zu präsentieren. Auf der barocken Rathaustreppe gaben sich Marktfrauen und Karnevalsprinzen häufiger den Einstand als ausländische Staatsgäste. Als ein Diplomat sich einmal nach dem Bonner Nachtleben erkundete, soll er beschieden worden sein, dass diese Person wochentags in Köln zu erreichen sei – so kolportierten es böse Studentenzungen. Kirchliche Feiern und das Bonner Münster standen bei vielen Bürgern im Mittelpunkt des Interesses, so auch die jährliche Fronleichnamsprozession durch die ganze Stadt. Dabei waren die katholischen Korporationen natürlich vertreten.

Wie bereits angedeutet, nahm mein Studium – und sogar mein ganzes Leben – ab Sommer 1955 einen nicht vorhersehbaren Verlauf dank eines Auslandsaufenthalts. Wie es dazu kam, und wie es mein Leben beeinflusst hat, will ich in einem separaten Beitrag später erzählen. Hier nur so viel: Ich brachte im Oktober 1956 meine fertige Diplomarbeit aus den USA mit nach Bonn. Ich musste nur noch eine Reihe einzelner Prüfungen absolvieren und erhielt den Dipl.-Ing.-Titel. Meine Semesterkollegen hatten alle bereits die zweijährige Referendar-Ausbildung begonnen, da sie sich alle die Möglichkeit freihalten wollten, in den öffentlichen Dienst zu treten.


Gewählte Berufswege der Semesterkollegen

Auch wenn sie sich später als Öffentlich-bestellter Vermessungsingenieur selbständig machen wollten, benötigten sie die Assessorprüfung. Ich ging als einziger direkt nach der Diplomprüfung im November 1957 in die Industrie. Der Kontakt zu den Studienkollegen riss jedoch nicht ab. Man traf sich alle paar Jahre, das letzte Mal im Mai 2011 in Cochem an der Mosel. Einen Hinweis auf dieses Treffen gab es in diesem Blog.

Erwähnen möchte ich noch, dass ich auch während meiner Berufstätigkeit laufend Kontakte nach Bonn hatte. In der Zeit von 1972 bis 1975 war ich Mitglied des Sachverständigenkreises Informatik des Bundesministers für Forschung und Technologie (BMFT), der sich um die Einführung der Informatik an deutschen Hochschulen kümmerte. In der Zeit von 1994 bis 1997 leitete ich ein vom BMBF finanziertes Verbundprojekt (MeDoc), in dem 30 Hochschulen und 14 Verlage erste Gehversuche mit elektronischen Büchern und Zeitschriften machten. Schließlich bin ich seit 1970 Mitglied der Gesellschaft für Informatik (GI), die ihren Sitz in Bonn hat. Als zeitweises Mitglied ihres Präsidium und diverser Arbeitskreise zog es mich immer wieder nach Bonn. Die Rheinstrecke von Mainz nach Bonn ist zu meiner vertrautesten Bahnstrecke geworden.

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