Im Herbst 1952 begann ich das Studium der Geodäsie in Bonn. Das
Fachgebiet war mir vorher als Vermessungstechnik geläufig. So heißt es auch an
allen technischen Hochschulen und Fachhochschulen. Hätte ich an der Technischen
Hochschule in Aachen begonnen, hätte ich nach dem Vordiplom wechseln müssen. In
Bonn ist die Geodäsie in der landwirtschaftlichen Fakultät der Universität
angesiedelt. Diese ging aus der ehemaligen Landwirtschaftlichen Hochschule
Poppelsdorf hervor. Eine ‚richtige‘ Universität hat auch etwas für sich – so
dachte ich. Außerdem ist Bonn ja Bundeshauptstadt.
Mein Trierer Kommilitone und ich fanden unser erstes Zimmer in Endenich.
Das war damals ein Dorf südwestlich von Bonn. Man konnte von dort gut zu Fuß
die zwei Kilometer nach Poppelsdorf laufen, zur Not gab es ja Fahrräder.
Bereits im dritten Semester zogen wir um. Inzwischen kannten wir den Markt
besser. Wir bezogen eine Zweizimmerwohnung, nur 100 Meter vom Poppelsdorfer Schloss
entfernt. Ich habe nur die allerbesten Erinnerungen an unsere damalige Lebens-
und Haushaltsführung. Alles was ich kaufen musste, waren Brot und Getränke. Ich
hatte von zuhause den allerbesten Schinken, sowie Gläser und Dosen mit Wurst,
Fleisch, Butter und Marmelade. Mittags und manchmal auch abends gingen wir in die
Mensa zum Essen. Mein Freund aus Trier brachte weniger Lebensmittel von zuhause
mit als ich, dafür aber mehrere Flaschen Zeltinger Himmelreich oder Ürziger
Schwarzley. Seine Mutter stammte nämlich aus Zeltingen und besaß eigene Weinstöcke
in den allerbesten Lagen. Das Geodätische Institut der Uni Bonn liegt direkt
gegenüber vom Poppeldorfer Schloss und war im Stil eines Renaissance-Palastes
vor etwa 100 Jahren errichtet worden. Das Vorbild soll der Palazzo Strozzi in
Florenz gewesen sein.
Geodätisches Institut in Bonn
Das Geodäsie-Studium hatte einen festen Rahmen. Etwa 25 Studenten, die
im selben Semester begonnen hatten, trafen sich immer wieder bei denselben
Vorlesungen. Die Kernfächer waren Landvermessung, Kartografie und Erdmessung.
Zu alle Vorlesungen gab es praktische Übungen. Neben dem Messen waren Rechnen
und Zeichnen die Grundtechniken, an denen niemand vorbeikam. Für die
Landmessung gab es eigene Gelände, in denen Generationen von Studenten jeden
Winkel und jede Strecke x-mal vermessen hatten. Diese Messübungen förderten unter
anderem eine gewisse Team-Bildung. Für die Erdmessung kamen neben
trigonometrischen Verfahren auch gravimetrische Methoden zum Einsatz. Unser
Lehrkörper setzte sich zusammen aus überzeugten Geometern, bei denen man zum
Teil ihre preußische Offiziersausbildung noch erahnen konnte, aus Mathematikern
und Physikern, und aus Lehrbeauftragten von Landes- und Bundesbehörden.
Besondere Beachtung erhielt ein Leitender Ministerialdirektor aus Düsseldorf.
Ihm unterstanden alle Vermessungsbeamten in Nordrhein-Westfalen. Er schien auch
für das Wohl der geodätischen Institute in Bonn und Aachen verantwortlich gewesen
zu sein, weshalb er schon Mal als ‚graue Eminenz‘ tituliert wurde.
Das Studium bis zum Vordiplom entsprach einem typischen
Ingenieur-Studiengang. Über alle vier Semester zogen sich die Vorlesungen zur
praktischen Mathematik. Diese wurden auch von Physikern und Chemikern besucht.
Leute, die von einem humanistischen Gymnasium kamen, taten sich spätestens bei
partiellen Differenzgleichungen ziemlich schwer. Meine Leistungen reichten aus,
um in den Übungen als ‚Hilfsbremser‘ mitzuwirken, d.h. ich durfte die Arbeiten
von Chemikern und Physikern korrigieren. Die Technische Mechanik dagegen zog
bei allen die Noten im Vordiplom nach unten. Die Photogrammetrie, also die Luftbildmessung,
war ein Spezialfach und technisch anspruchsvoll.
Geradezu erholsam waren die Vorlesungen, die uns betriebswirtschaftliche
und juristische Grundkenntnisse vermitteln sollten. Noch übertroffen wurden sie
von Pflichtvorlesungen in Geografie, genauer in Geomorphologie, und in Städte-
bzw. Landschaftsplanung. Einen relativ hohen Stellenwert hatte damals das Studium
Generale. Unvergesslich sind hier Theodor Litts
philosophische und pädagogische Aperçus
und Heinrich Lützelers
Einführung in die Philosophie des Kölner Humors. Mein Studienverlauf wich von
der Norm erheblich ab, da ich nach dem sechsten Semester in den Genuss eines
Auslandaufenthalts kam. Ehe ich darauf eingehe, möchte ich noch auf den Teil
des Studentenlebens eingehen, der nichts mit dem Vermessungswesen zu tun hat. Dieser Teil spielte auch deshalb eine besondere Rolle, weil ich glaube, dass die
Studienzeit sich nicht allein auf die fachliche Qualifizierung beschränken darf.
Die Stadt
Bonn erstand als römisches Legionslager nach der Varus-Schlacht, also im
ersten Jahrhundert nach Christus. Ab dem 16. Jahrhundert residierte hier der
Kölner Bischof und Kurfürst, da die Kölner Bürger ihn am Betreten Kölns
hinderten. Nach 1815, also nach dem Anschluss der Rheinprovinz an Preußen,
wurde Bonn Garnisonsstadt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Bonn auf Betreiben
Konrad Adenauers provisorische Hauptstadt der Bundesrepublik und blieb es bis
1999. Viele Nicht-Bonner pflegten vom 'Bundesdorf' zu sprechen, weil es im
Gegensatz zu Düsseldorf, Frankfurt und Berlin seinen Charme als Kleinstadt
bewahren konnte. Zum Teil entstand dieser Eindruck auch dadurch, dass sich in
der Innenstadt kaum Regierungsgebäude befanden. Abgesehen von früheren Kasernen
belegte die Regierung ein Neubauviertel am Rheinufer südlich der Stadt. Im
Stadtbild Bonns fielen die Studenten mehr auf als die Staatskarossen. Die Universität
bestand bereits seit 1786, also vor dem Einmarsch der französischen
Revolutionstruppen. Nach den Befreiungskriegen, zu denen der Bonner Ernst Moritz Arndt
einen intellektuellen Beitrag leistete, haben die Preußen sie wiederbelebt. An
den berühmtesten Bürger der Stadt. Ludwig van Beethooven,
erinnert dessen Geburtshaus, mitten in der Bonner Altstadt.
Das Studentenleben Bonns drehte sich um die Mensa. Hier traf man
täglich seine Kommilitonen aus allen Fachrichtungen. Von Poppelsdorf war es ein
halbstündiger Fußmarsch, bei dem man die Bahnstrecke Köln-Koblenz, die die
Innenstadt zweiteilt, an einer Schranke überquerte. Da Bonn geografisch am Ende
der Kölner Bucht liegt, wo sich die vom Atlantik eintreffenden Tiefdruckgebiete
besonders stark bemerkbar machen, wurde Bonn schon mal mit dem despektierlichen
Satz charakterisiert: ‘Entweder es regnet
oder die Schranken sind zu‘. Das Hauptgebäude der Universität, das frühere
Kurfürstliche Schloss, ist das dominierende Gebäude der Stadt. Eine 50 Meter
breite Allee stellt die Blickverbindung her mit dem Poppelsdorfer Schloss, der
Sommerresidenz des Kurfürsten. Obwohl die Generation der Kriegsteilnehmer, zu
erkennen an abgetragenen Militärmänteln, die Universität noch nicht ganz
verlassen hatte, überwogen die jüngeren Semester. In manchen Fachgebieten war
der Frauenanteil sehr gering oder gar gleich Null, wie in der Geodäsie.
Noch etwas schüchtern wagten sich die ersten Korporationsstudenten in
die Öffentlichkeit, zu erkennen an farbigen Brustbändern oder Mützen. Wer
erkannt wurde, lief Gefahr von der Universität verwiesen zu werden. Ich selbst
wurde im zweiten Semester Mitglied einer nicht-farbentragenden, katholischen Verbindung.
Aufmerksam gemacht auf sie (und natürlich geworben) wurde ich durch einen Bonner
Professor für Volkskunde, der aus meinem Heimatdorf stammte. Das Zusammensein
unter Gleichaltrigen und Gleichgesinnten stellte alsbald ein echtes Gegengewicht
dar zu den Fachkollegen in meinem Semester. Man traf dort Agrarwissenschaftler,
Chemiker, Juristen, Mediziner, Philologen und Volkswirte. Sehr interessant war
auch die landsmännische Mischung. Zu dem Kern aus Eiflern und Münsteranern
kamen Bayern, Saarländer und Schwaben. Man lernte ‚Alte Herren‘ kennen, die als
Ärzte, Ingenieure, Juristen, Lehrer oder Pfarrer tätig waren. Nicht vermissen
möchte ich die Feste (Bälle, Karnevalsveranstaltungen, Kommerse) oder die Ausflüge
(Rheinschifffahrten, Siebengebirgswanderungen), die in diesem Kreise
organisiert wurden.
Teilnehmer der Fronleichnamsprozession 1954
Die Stadt Bonn bemühte sich mal ihr Kleinstadt-Flair herauszustellen,
mal sich weltstädtisch zu präsentieren. Auf der barocken Rathaustreppe gaben
sich Marktfrauen und Karnevalsprinzen häufiger den Einstand als ausländische
Staatsgäste. Als ein Diplomat sich einmal nach dem Bonner Nachtleben erkundete,
soll er beschieden worden sein, dass diese Person wochentags in Köln zu erreichen
sei – so kolportierten es böse Studentenzungen. Kirchliche Feiern und das
Bonner Münster standen bei vielen Bürgern im Mittelpunkt des Interesses, so auch
die jährliche Fronleichnamsprozession durch die ganze Stadt. Dabei waren die katholischen Korporationen natürlich vertreten.
Wie bereits angedeutet, nahm mein Studium – und sogar mein ganzes Leben
– ab Sommer 1955 einen nicht vorhersehbaren Verlauf dank eines Auslandsaufenthalts.
Wie es dazu kam, und wie es mein Leben beeinflusst hat, will ich in einem separaten
Beitrag später erzählen. Hier nur so viel: Ich brachte im Oktober 1956 meine
fertige Diplomarbeit aus den USA mit nach Bonn. Ich musste nur noch eine Reihe einzelner
Prüfungen absolvieren und erhielt den Dipl.-Ing.-Titel. Meine Semesterkollegen
hatten alle bereits die zweijährige Referendar-Ausbildung begonnen, da sie sich
alle die Möglichkeit freihalten wollten, in den öffentlichen Dienst zu treten.
Gewählte Berufswege der Semesterkollegen
Auch wenn sie sich später als Öffentlich-bestellter
Vermessungsingenieur selbständig machen wollten, benötigten sie die
Assessorprüfung. Ich ging als einziger direkt nach der Diplomprüfung im
November 1957 in die Industrie. Der Kontakt zu den Studienkollegen riss jedoch
nicht ab. Man traf sich alle paar Jahre, das letzte Mal im Mai 2011 in Cochem
an der Mosel. Einen Hinweis auf dieses Treffen gab es in diesem
Blog.
Erwähnen möchte ich noch, dass ich auch während meiner Berufstätigkeit
laufend Kontakte nach Bonn hatte. In der Zeit von 1972 bis 1975 war ich
Mitglied des Sachverständigenkreises
Informatik des Bundesministers für Forschung und Technologie (BMFT), der
sich um die Einführung der Informatik an deutschen Hochschulen kümmerte. In der
Zeit von 1994 bis 1997 leitete ich ein vom BMBF finanziertes Verbundprojekt (MeDoc), in
dem 30 Hochschulen und 14 Verlage erste Gehversuche mit elektronischen Büchern
und Zeitschriften machten. Schließlich bin ich seit 1970 Mitglied der
Gesellschaft für Informatik (GI), die ihren
Sitz in Bonn hat. Als zeitweises Mitglied ihres Präsidium und diverser
Arbeitskreise zog es mich immer wieder nach Bonn. Die Rheinstrecke von Mainz
nach Bonn ist zu meiner vertrautesten Bahnstrecke geworden.
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