Das Buch mit dem Titel ‚Bildung - Alles, was man wissen muß‘ von Dietrich Schwanitz (1940-2004)
gibt es inzwischen in der 16. Auflage. Viele Leute fassten das, was der
ehemalige Anglizist zum Besten gab, als Satire auf. Das tat dem Verkauf des
Buches jedoch keinen Abbruch. Der Physiker und Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer
(*1947) hielt ihm bald darauf entgegen, dass man heute eigentlich mehr als nur
Geschichte, Literatur, Kunst, Musik und Philosophie kennen sollte. Sein Titel ‚Die andere Bildung: Was man von den
Naturwissenschaften wissen sollte‘
kam, was die Verkaufszahlen anbetrifft, nicht an das Schwanitz-Buch heran. Das
Buch wurde unter anderem deshalb kritisiert, weil er schwerpunktmäßig
Astronomie, Biologie und Physik behandelte. Chemie und Mathematik kämen zu
kurz. Die Kosmologie und die Evolution haben halt die schöneren Geschichten.
Mehr als zehn Jahre nach Erscheinen dieser beiden Bücher ist mir kein
populäres Buch bekannt, in dem die dritte der drei von mir postulierten
Kulturen zum Zuge kommt. Die Welt des Homo
faber, also die des Ingenieurs, schläft offensichtlich noch, was die
Diskussion um das Thema Bildung und Erziehung betrifft. Wie in einem früheren
Beitrag dargestellt, sehen manche Autoren in ihm die eigentliche Verkörperung
des modernen Menschen. Bei Schwanitz gibt der Ingenieur nur das Zerrbild eines
Kulturbanausen ab.
Amtliches zum Thema
Bildungsziele
Ich selbst hielt mich mit Aussagen zum Thema Allgemeinbildung immer
zurück, weil ich glaube, dass es ohnehin jede Menge sehr qualifizierter Leute gibt,
die besser als ich sagen können, worauf es ankommt. Wohlgemerkt, es geht hier
nicht um die tertiäre Ausbildung auf meinem Fachgebiet, der Informatik. Es geht
um die sekundäre Bildung, also das, was junge Menschen etwa bis zum 16.
Lebensjahr über sich ergehen lassen (müssen). Erst Diskussionen mit einigen
Fachkollegen bewegten mich dazu, meine Gedanken zu sortieren und zum Ausdruck
zu bringen.
Es ist interessant sich anzusehen, was amtlichen Orts zu der Frage der
Bildungsziele gesagt wird. Das Kultusministerium von Baden-Württemberg hat auf
seiner Homepage einen Text von Hartmut
von Hentig. Er nennt sich Einführung in den Bildungsplan 2004.
Baden-Württemberg war damals noch ein CDU-Land. Neueren Datums und sicher
partei-neutraler ist der Eintrag in Wikipedia unter dem Stichwort Bildung. Das
zeigt sich auch daran, dass er umfänglicher ist. Ich habe beide Aussagen in
einer Tabelle kondensiert. Ich lasse die Unterschiede am liebsten für sich
selbst sprechen.
Auffällig ist, dass der Erwerb von Fähigkeiten und Können nur als
marginales Ziel angesehen wird. In der Wikipedia-Liste beschränkt man sich auf
das Beherrschen ‚elementarer Kulturtechniken‘. Was dazu gehört, bleibt offen.
Immer länger wird die Liste sozialer Ziele, angefangen bei den Bürgerpflichten
bis zu Umwelt und Toleranz. Auch 70 Jahre nach Ende der Nazi-Herrschaft glauben
Bildungspolitiker, dass wir Deutschen hier großen Nachholbedarf haben.
Wo immer noch Bezug auf Wilhelm von Humboldt
genommen wird, habe ich meine Bedenken. Sein Satz: ‚Jeder ist ein guter
Handwerker … wenn er ein aufgeklärter Mensch und Bürger ist‘ erscheint uns
heute recht idealistisch. Auch die Formel, ‚alles was die Leute lernen müssen,
ist zu denken‘ ist nämlich nichts als eine Leerformel. Es gibt kein Denken ohne
Gedanken, ohne Stoff. Genau so wenig kann man spielen ohne ein Spiel. In
früheren Jahrhunderten verstand jeder, welches Wissen für seinen Berufsstand
benötigt wurde. Das wusste der preußische Beamte oder der bayrische Landarzt.
Nichts ändert sich heute so schnell wie Wissen. Betroffen davon sind außer den
Naturwissenschaften vor allem Technik, Medizin, Verwaltung und Politik. Gerade
weil das Wissen der Menschheit sich laufend ändert, ist es sehr schwer zu
sagen, auf welches Wissen es ankommt. Um den Punkt zu wiederholen, weil er so
wichtig ist: Bildung, die nur aus Wissen besteht, ist passiv. Es bedarf
vielfältiger Fähigkeiten und Fertigkeiten, um im modernen Leben bestehen zu
können.
Homo faber als Bildungsträger
Manchmal frage ich mich, welches Menschenbild unsere Gesellschaft
derzeit eigentlich verfolgt, wenn Bildungsziele definiert werden. Das Erziehungsziel
scheint nicht der Homo faber zu sein,
der Mensch, der seinen Geist und seine Kraft einsetzt, um seinen Lebensunterhalt
zu sichern und den seiner Mitmenschen. Wenn wir schon per Beiwort den
Menschentyp beschreiben, so scheint es eher der Homo ludens zu sein, einer der träumend oder tanzend durchs Leben
zieht. Es soll ja heute Jugendliche geben, die ̶ wohl um den Fragenden zu ärgern ̶ sagen, ihr Berufsziel sei Hartz IV. Vornehmer
ausgedrückt: Manche Menschen versuchen ein stressfreies, hedonistisches Leben (engl.
new work-life balance) zu führen, d.h. man verlässt sich darauf, dass jemand
anderes für den Lebensunterhalt sorgt.
Wenn Ernst Fischer den Stoff für Allgemeinwissen hauptsächlich in der
Kosmologie und der Evolutionstheorie zu finden glaubte, so bin ich davon
überzeugt, dass auch einige Werke des Homo faber es verdienen, Teil des
Bildungskanons zu werden. Natürlich muss man auswählen. Es gibt zu viele. Errungenschaften
wie Dampfmaschinen, Eisenbahnen, Autos, Flugzeuge, Stromerzeuger, Verbrennungs-
und Elektromotoren, Kühl- und Heizgeräte, Lampen und Scheinwerfer, Röntgengeräte,
Elektronen-Mikroskope und Kernspintomografen, Telefone, Radios, Fernsehen und Computer,
sie alle haben Relevanz für unser heutiges Weltverständnis und das Erleben von
Gegenwart und Zukunft. Dass Radio, Fernsehen und Computer als Medien angesehen
werden, mit deren Hilfe Wissen übertragen und vermittelt werden kann, steht
hier nicht zur Diskussion.
Es hat mehrerer Generationen bedurft, bis dass Griechisch und Latein,
die früher von jeder Bildungsanstalt als unverzichtbar angesehen wurden, das
Feld räumten. Zurzeit konkurrieren Französisch und Chinesisch um den Platz der
zweiten Fremdsprache. Gerade im Hinblick darauf, dass sich Kunst in Richtung
Spektakel und Kasperei entwickelt – ein kürzlich
erschienener Beitrag gab einige Hinweise
̶ ist es bedenklich, wenn der Kunstunterricht
weiterhin die hohe Priorität genießt, die er in der Vergangenheit hatte.
Informatik als Allgemeinbildung
Einige Kollegen machten sich Gedanken darüber, welche Ideen die
Informatik enthält, die als Stoff für die Allgemeinbildung in Frage kommen. Die
in dieser Hinsicht von der Gesellschaft für Informatik (GI) entwickelten
Empfehlungen sind in der folgenden Tabelle zusammengefasst. Da diesem Vorschlag
sehr viel Arbeit und ernsthaftes Abwägen zu Grunde liegt, möchte ich ihn
kommentieren.
Abgesehen davon, dass hier lediglich Forderungen an das Schulsystem
gestellt werden, werden durchweg sozialwissenschaftliche Begriffe benutzt,
unter denen ich mir nichts Konkretes vorstellen kann. Was ist z.B. ‚Sozial-
oder Selbstkompetenz im Umgang mit Information‘? Welcher Informationsbegriff
ist hier gemeint? Was heißt ‚Umgang mit Information‘? Ist ‚googeln‘ gemeint?
Oder die Selbstdarstellung mit Fotos bei Facebook? Oder das Kopieren von
Youtube-Videos?
Wie lässt sich ein Objektmodell begründen und darstellen, ohne in ein
bestimmtes Programm-Paradigma zu verfallen? Was kann der Schüler damit machen? Um
die Benutzung, Analyse, Gestaltung, Konstruktion und Bewertung von
Anwendungssystemen sinnvoll zu betreiben, wird ein Informatik-Studium benötigt,
und zwar ein sehr praxis-orientiertes. Hier scheint den Autoren wild gewordener
Text entsprungen zu sein. Dasselbe gilt für die Modellierung von
Anwendungssystemen, was als vollkommen losgelöste Tätigkeit empfunden wird.
Das Verbot, eine bestimmte Programmiersprache zu benutzen, entspricht
exakt dem Vorschlag, in derselben Altersstufe die Grammatik einer natürlichen
Sprache wie Englisch oder Französisch zu studieren, ohne aber die Sprache
selbst zu lernen. Solchen Unsinn können sich nicht einmal Philologen ausdenken.
Ich kann nur sagen, weniger wäre mehr gewesen. Es hat wenig Sinn, Lehrer und
Schüler total zu überfordern.
Erwähnen möchte ich einen Vorschlag der Kollegen
Inhetveen, Ortner und Wedekind [1] von 2004, in dem sechs Themen als nützlich
für die Allgemeinbildung angesehen wurden:
- Schema und Ausprägung,
- Bildung von Elementarsätzen,
- Gleichheit und Abstraktion,
- Objektsprache/Metasprache,
- Namensgebung und Kennzeichnung,
- Logik und Geltungssicherung von Behauptungen.
Ich möchte hier nicht die Relevanz dieses Vorschlags diskutieren. Er wurde leider von der Öffentlichkeit ignoriert. Über die Gründe darf spekuliert werden. Mein Eindruck ist, dass wir noch weit davon entfernt sind, realistische Vorschläge zu haben, die nicht auf dem Wunschdenken von Informatikern beruhen, sondern auf verdichteten Erfahrungen von Nicht-Informatikern.
Zusammenfassung
Mit der Frage, was ist als Allgemeinbildung relevant
und empfehlenswert, hat sich bisher jede
Generation neu befasst. Warum sollte es jetzt anders sein? Vielleicht verändern
wir unsere Meinung mehrmals innerhalb einer Generation. Ob die Informatik einen
Beitrag zur Allgemeinbildung leistet, und wenn ja, welchen, sollten wir Nicht-Informatiker entscheiden
lassen. Bei Informatikern sieht es zu leicht nach Verteidigung aus, um nicht zu
sagen, Wichtigtuerei. Wenn man die obige Aufzählung technischer
Errungenschaften sieht, so gibt es einige darunter, die bereits 150 Jahre alt
sind, die noch nicht eine Anerkennung als Basiswissen geschafft haben. Aber
Informatik ist mehr als nur Technik, höre ich bereits einige sagen. Diese
Diskussion werde ich vielleicht ein anderes Mal führen.
Der Philosoph Robert Spaemann machte sich ein Vergnügen
daraus zu definieren, was ein ‚gebildeter Mensch‘ ist. Obwohl vieles von dem,
was er sagt, erhellend und witzig ist, gefällt mir der folgende Satz besonders
gut: ‚Der gebildete Mensch weiß, dass
Bildung nicht das Wichtigste ist‘. Weder durch klassische, noch durch
moderne Bildung löst man ein einziges Weltproblem. Sie hat nämlich nur das
Individuum im Blick. Viele Probleme können nicht einmal von einzelnen Staaten
gelöst werden.
Zusätzliche
Referenz:
- Wedekind, H., · Ortner , E., ·Inhetveen, R.: Informatik als Grundbildung, Teil I bis VI. Informatik-Spektrum 27,2 (April 2004) ff.
Am 29.4.2013 schrieb Gerhard Schimpf aus Pforzheim:
Zu dem Blog-Eintrag zur Bildung habe ich eine zusätzliche Information. Seit Anfang 2011 gibt es die gemeinsame Arbeitsgruppe von ACM Europe und Informatics Europe (IE), die sich auf europäischer Ebene dafür einsetzt, Informatik als Unterrichtsfach zu stärken. Die Arbeitsgruppe unter Leitung von Professor Walter Gander von der TH Zürich hat einen ersten Report veröffentlicht.
Der Report ist für Politiker und Entscheidungsträger im Bildungsbereich geschrieben. Da es sich um „work in progress“ handelt, bin ich an Kommentaren interessiert. [Bitte an gerhard.schimpf@acm.org adressieren]
Kommentar vom
30.4.2013 zum ACM/IE-Papier
Der von den beiden Organisationen vorgelegte Bericht ist sehr zu begrüßen.
Er unterstützt diverse nationale Initiativen auf diesem Gebiet. Er behandelt
nicht nur die Rolle der Informatik für die Allgemeinbildung, sondern geht darüber
hinaus. Es wird anerkannt und hervorgehoben, dass Europa nicht nur passive
Nutzer unserer Technologie benötigt, sondern auch aktive Gestalter. Da ist
noch viel zu tun. Es ist sicher gut, schon auf der schulischen Ebene (Sekundarstufe) damit anzufangen.
Ein permanentes und schwer lösbares Problem besteht darin, entsprechend ausgebildete Lehrer zu gewinnen und zu behalten.
Diese stehen nämlich plötzlich vor der Situation, sich entscheiden zu müssen,
ob sie im Schuldienst bleiben oder aus ihrer neuen Kompetenz in der freien
Wirtschaft Kapital schlagen. Das Problem ist so alt wie unsere Technik, die früher
einmal Datenverarbeitung hieß. Das zweite Problem heißt, was kann im Lehrplan gestrichen werden, um für Informatik Platz zu machen. Wie die G8/G9-Diskussion zeigt, ist auch dieses Problem schier unlösbar.
Die in diesem Blog-Eintrag geführte Diskussion ist leichter zu führen,
wenn man – wie in dem ACM/IE-Bericht geschehen ̶
unterscheidet zwischen Informatik als Wissenschaft und Vertrautheit mit
digitaler Technik (engl. digital literacy). Letzteres gehört zweifellos zur
Allgemeinbildung, ersteres nicht unbedingt. Vielleicht kann man es für gewisse
Teilaspekte der Informatik (doch) noch nachweisen bzw. die Informatik
entsprechend weiter entwickeln.
Wenn wir ausschließen, dass Europäer dümmer sind als Nordamerikaner,
Chinesen und Japaner, kann es nach meiner Ansicht außer am Wirtschaftsklima nur an der falschen
Ausbildung liegen, dass wir auf einzelnen Gebieten zurückhängen. Die bessere Ausbildung müsste nicht nur die Technik
betreffen, sondern auch das Wirtschaften. An beidem hapert es nach meiner
Meinung. Technik vorwiegend nach wissenschaftlichen Kriterien zu bewerten, halte
ich für falsch. Zum Wirtschaften gehört mehr als auf Konjunkturzyklen zu
starren. Auf beides habe ich in den letzten 20 Jahren immer wieder hingewiesen.
Das betrifft Informatik wie Wirtschaftsinformatik gleichermaßen. Wieso jetzt mehr von demselben - also noch mehr Wissenschaftlichkeit - helfen soll, entgeht mir.
Fazit: Wenn es das Ziel ist, die europäische Wirtschaft zu stärken,
dann kann eine frühe Hinführung von jungen Menschen zu Technik und Wirtschaft
nur helfen. Dass das nur auf Kosten bisheriger Interessen wie Kunst, Sport und abstrakte Wissenschaft geht, ist auch klar. Die Begründungen sollten ehrlich und überzeugend
sein.
Am 9.5.2013 schrieb Hartmut Wedekind aus Darmstadt:
Erinnern Sie
sich an meine Ausführungen zum Thema Engineering, von mir geschrieben ziemlich
genau vor einem Jahr?
Es geht doch
eigentlich darum, dass Ingenieurwesen nicht ideologisch verstanden werden darf.
Man muss immer sagen was Sache ist. Ideologen sind nach einem Wort von Ernst
Bloch Mitglieder eines Verschönerungsvereins. Alle „Two Culture Typen“ sind von
diesem Format. Sie verschönern ihre
Welt, in die man sich eingerichtet hat.
Nachbemerkung (Bertal Dresen):
Hartmut Wedekinds
Einwurf bezüglich Engineering hatte ich am 27.4.2012, also am Tag des
Eintreffens, bereits veröffentlicht. Damals ging es mir zwar nur um
Software-Engineering. Wedekind hatte das Thema sofort verallgemeinert.