Sonntag, 28. April 2013

Ist Bildung nur das, was man wissen muss? (mit Kommentaren)

Das Buch mit dem Titel ‚Bildung - Alles, was man wissen muß von Dietrich Schwanitz (1940-2004) gibt es inzwischen in der 16. Auflage. Viele Leute fassten das, was der ehemalige Anglizist zum Besten gab, als Satire auf. Das tat dem Verkauf des Buches jedoch keinen Abbruch. Der Physiker und Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer (*1947) hielt ihm bald darauf entgegen, dass man heute eigentlich mehr als nur Geschichte, Literatur, Kunst, Musik und Philosophie kennen sollte. Sein Titel ‚Die andere Bildung: Was man von den Naturwissenschaften wissen solltekam, was die Verkaufszahlen anbetrifft, nicht an das Schwanitz-Buch heran. Das Buch wurde unter anderem deshalb kritisiert, weil er schwerpunktmäßig Astronomie, Biologie und Physik behandelte. Chemie und Mathematik kämen zu kurz. Die Kosmologie und die Evolution haben halt die schöneren Geschichten.

Mehr als zehn Jahre nach Erscheinen dieser beiden Bücher ist mir kein populäres Buch bekannt, in dem die dritte der drei von mir postulierten Kulturen zum Zuge kommt. Die Welt des Homo faber, also die des Ingenieurs, schläft offensichtlich noch, was die Diskussion um das Thema Bildung und Erziehung betrifft. Wie in einem früheren Beitrag dargestellt, sehen manche Autoren in ihm die eigentliche Verkörperung des modernen Menschen. Bei Schwanitz gibt der Ingenieur nur das Zerrbild eines Kulturbanausen ab.

Amtliches zum Thema Bildungsziele

Ich selbst hielt mich mit Aussagen zum Thema Allgemeinbildung immer zurück, weil ich glaube, dass es ohnehin jede Menge sehr qualifizierter Leute gibt, die besser als ich sagen können, worauf es ankommt. Wohlgemerkt, es geht hier nicht um die tertiäre Ausbildung auf meinem Fachgebiet, der Informatik. Es geht um die sekundäre Bildung, also das, was junge Menschen etwa bis zum 16. Lebensjahr über sich ergehen lassen (müssen). Erst Diskussionen mit einigen Fachkollegen bewegten mich dazu, meine Gedanken zu sortieren und zum Ausdruck zu bringen.

Es ist interessant sich anzusehen, was amtlichen Orts zu der Frage der Bildungsziele gesagt wird. Das Kultusministerium von Baden-Württemberg hat auf seiner Homepage einen Text von Hartmut von Hentig. Er nennt sich Einführung in den Bildungsplan 2004. Baden-Württemberg war damals noch ein CDU-Land. Neueren Datums und sicher partei-neutraler ist der Eintrag in Wikipedia unter dem Stichwort Bildung. Das zeigt sich auch daran, dass er umfänglicher ist. Ich habe beide Aussagen in einer Tabelle kondensiert. Ich lasse die Unterschiede am liebsten für sich selbst sprechen.

Auffällig ist, dass der Erwerb von Fähigkeiten und Können nur als marginales Ziel angesehen wird. In der Wikipedia-Liste beschränkt man sich auf das Beherrschen ‚elementarer Kulturtechniken‘. Was dazu gehört, bleibt offen. Immer länger wird die Liste sozialer Ziele, angefangen bei den Bürgerpflichten bis zu Umwelt und Toleranz. Auch 70 Jahre nach Ende der Nazi-Herrschaft glauben Bildungspolitiker, dass wir Deutschen hier großen Nachholbedarf haben.


Wo immer noch Bezug auf Wilhelm von Humboldt genommen wird, habe ich meine Bedenken. Sein Satz: ‚Jeder ist ein guter Handwerker … wenn er ein aufgeklärter Mensch und Bürger ist‘ erscheint uns heute recht idealistisch. Auch die Formel, ‚alles was die Leute lernen müssen, ist zu denken‘ ist nämlich nichts als eine Leerformel. Es gibt kein Denken ohne Gedanken, ohne Stoff. Genau so wenig kann man spielen ohne ein Spiel. In früheren Jahrhunderten verstand jeder, welches Wissen für seinen Berufsstand benötigt wurde. Das wusste der preußische Beamte oder der bayrische Landarzt. Nichts ändert sich heute so schnell wie Wissen. Betroffen davon sind außer den Naturwissenschaften vor allem Technik, Medizin, Verwaltung und Politik. Gerade weil das Wissen der Menschheit sich laufend ändert, ist es sehr schwer zu sagen, auf welches Wissen es ankommt. Um den Punkt zu wiederholen, weil er so wichtig ist: Bildung, die nur aus Wissen besteht, ist passiv. Es bedarf vielfältiger Fähigkeiten und Fertigkeiten, um im modernen Leben bestehen zu können.

Homo faber als Bildungsträger

Manchmal frage ich mich, welches Menschenbild unsere Gesellschaft derzeit eigentlich verfolgt, wenn Bildungsziele definiert werden. Das Erziehungsziel scheint nicht der Homo faber zu sein, der Mensch, der seinen Geist und seine Kraft einsetzt, um seinen Lebensunterhalt zu sichern und den seiner Mitmenschen. Wenn wir schon per Beiwort den Menschentyp beschreiben, so scheint es eher der Homo ludens zu sein, einer der träumend oder tanzend durchs Leben zieht. Es soll ja heute Jugendliche geben, die  ̶  wohl um den Fragenden zu ärgern  ̶  sagen, ihr Berufsziel sei Hartz IV. Vornehmer ausgedrückt: Manche Menschen versuchen ein stressfreies, hedonistisches Leben (engl. new work-life balance) zu führen, d.h. man verlässt sich darauf, dass jemand anderes für den Lebensunterhalt sorgt.

Wenn Ernst Fischer den Stoff für Allgemeinwissen hauptsächlich in der Kosmologie und der Evolutionstheorie zu finden glaubte, so bin ich davon überzeugt, dass auch einige Werke des Homo faber es verdienen, Teil des Bildungskanons zu werden. Natürlich muss man auswählen. Es gibt zu viele. Errungenschaften wie Dampfmaschinen, Eisenbahnen, Autos, Flugzeuge, Stromerzeuger, Verbrennungs- und Elektromotoren, Kühl- und Heizgeräte, Lampen und Scheinwerfer, Röntgengeräte, Elektronen-Mikroskope und Kernspintomografen, Telefone, Radios, Fernsehen und Computer, sie alle haben Relevanz für unser heutiges Weltverständnis und das Erleben von Gegenwart und Zukunft. Dass Radio, Fernsehen und Computer als Medien angesehen werden, mit deren Hilfe Wissen übertragen und vermittelt werden kann, steht hier nicht zur Diskussion.

Es hat mehrerer Generationen bedurft, bis dass Griechisch und Latein, die früher von jeder Bildungsanstalt als unverzichtbar angesehen wurden, das Feld räumten. Zurzeit konkurrieren Französisch und Chinesisch um den Platz der zweiten Fremdsprache. Gerade im Hinblick darauf, dass sich Kunst in Richtung Spektakel und Kasperei entwickelt – ein kürzlich erschienener Beitrag gab einige Hinweise  ̶  ist es bedenklich, wenn der Kunstunterricht weiterhin die hohe Priorität genießt, die er in der Vergangenheit hatte.

Informatik als Allgemeinbildung

Einige Kollegen machten sich Gedanken darüber, welche Ideen die Informatik enthält, die als Stoff für die Allgemeinbildung in Frage kommen. Die in dieser Hinsicht von der Gesellschaft für Informatik (GI) entwickelten Empfehlungen sind in der folgenden Tabelle zusammengefasst. Da diesem Vorschlag sehr viel Arbeit und ernsthaftes Abwägen zu Grunde liegt, möchte ich ihn kommentieren.


Abgesehen davon, dass hier lediglich Forderungen an das Schulsystem gestellt werden, werden durchweg sozialwissenschaftliche Begriffe benutzt, unter denen ich mir nichts Konkretes vorstellen kann. Was ist z.B. ‚Sozial- oder Selbstkompetenz im Umgang mit Information‘? Welcher Informationsbegriff ist hier gemeint? Was heißt ‚Umgang mit Information‘? Ist ‚googeln‘ gemeint? Oder die Selbstdarstellung mit Fotos bei Facebook? Oder das Kopieren von Youtube-Videos?

Wie lässt sich ein Objektmodell begründen und darstellen, ohne in ein bestimmtes Programm-Paradigma zu verfallen? Was kann der Schüler damit machen? Um die Benutzung, Analyse, Gestaltung, Konstruktion und Bewertung von Anwendungssystemen sinnvoll zu betreiben, wird ein Informatik-Studium benötigt, und zwar ein sehr praxis-orientiertes. Hier scheint den Autoren wild gewordener Text entsprungen zu sein. Dasselbe gilt für die Modellierung von Anwendungssystemen, was als vollkommen losgelöste Tätigkeit empfunden wird.

Das Verbot, eine bestimmte Programmiersprache zu benutzen, entspricht exakt dem Vorschlag, in derselben Altersstufe die Grammatik einer natürlichen Sprache wie Englisch oder Französisch zu studieren, ohne aber die Sprache selbst zu lernen. Solchen Unsinn können sich nicht einmal Philologen ausdenken. Ich kann nur sagen, weniger wäre mehr gewesen. Es hat wenig Sinn, Lehrer und Schüler total zu überfordern.

Erwähnen möchte ich einen Vorschlag der Kollegen Inhetveen, Ortner und Wedekind [1] von 2004, in dem sechs Themen als nützlich für die Allgemeinbildung angesehen wurden: 

  •  Schema und Ausprägung,
  •  Bildung von Elementarsätzen,
  •  Gleichheit und Abstraktion,
  •  Objektsprache/Metasprache,
  •  Namensgebung und Kennzeichnung,
  •  Logik und Geltungssicherung von Behauptungen.

Ich möchte hier nicht die Relevanz dieses Vorschlags diskutieren. Er wurde leider von der Öffentlichkeit ignoriert. Über die Gründe darf spekuliert werden. Mein Eindruck ist, dass wir noch weit davon entfernt sind, realistische Vorschläge zu haben, die nicht auf dem Wunschdenken von Informatikern beruhen, sondern auf verdichteten Erfahrungen von Nicht-Informatikern.

Zusammenfassung

Mit der Frage, was ist als Allgemeinbildung relevant und empfehlenswert, hat sich  bisher jede Generation neu befasst. Warum sollte es jetzt anders sein? Vielleicht verändern wir unsere Meinung mehrmals innerhalb einer Generation. Ob die Informatik einen Beitrag zur Allgemeinbildung leistet, und wenn ja, welchen,  sollten wir Nicht-Informatiker entscheiden lassen. Bei Informatikern sieht es zu leicht nach Verteidigung aus, um nicht zu sagen, Wichtigtuerei. Wenn man die obige Aufzählung technischer Errungenschaften sieht, so gibt es einige darunter, die bereits 150 Jahre alt sind, die noch nicht eine Anerkennung als Basiswissen geschafft haben. Aber Informatik ist mehr als nur Technik, höre ich bereits einige sagen. Diese Diskussion werde ich vielleicht ein anderes Mal führen.

Der Philosoph Robert Spaemann machte sich ein Vergnügen daraus zu definieren, was ein ‚gebildeter Mensch‘ ist. Obwohl vieles von dem, was er sagt, erhellend und witzig ist, gefällt mir der folgende Satz besonders gut: ‚Der gebildete Mensch weiß, dass Bildung nicht das Wichtigste ist‘. Weder durch klassische, noch durch moderne Bildung löst man ein einziges Weltproblem. Sie hat nämlich nur das Individuum im Blick. Viele Probleme können nicht einmal von einzelnen Staaten gelöst werden.

Zusätzliche Referenz: 
  1. Wedekind, H., · Ortner , E., ·Inhetveen, R.: Informatik als Grundbildung, Teil I bis VI. Informatik-Spektrum 27,2 (April 2004) ff.

Am 29.4.2013 schrieb Gerhard Schimpf aus Pforzheim:

Zu dem Blog-Eintrag zur Bildung habe ich eine zusätzliche Information. Seit Anfang 2011 gibt es die gemeinsame Arbeitsgruppe von ACM Europe und Informatics Europe (IE), die sich auf europäischer Ebene dafür einsetzt, Informatik als Unterrichtsfach zu stärken. Die Arbeitsgruppe unter Leitung von Professor Walter Gander von der TH Zürich hat einen ersten Report veröffentlicht.

Der Report ist für Politiker und Entscheidungsträger im Bildungsbereich geschrieben. Da es sich um „work in progress“ handelt, bin ich an Kommentaren interessiert. [Bitte an gerhard.schimpf@acm.org adressieren]


Kommentar vom 30.4.2013 zum ACM/IE-Papier

Der von den beiden Organisationen vorgelegte Bericht ist sehr zu begrüßen. Er unterstützt diverse nationale Initiativen auf diesem Gebiet. Er behandelt nicht nur die Rolle der Informatik für die Allgemeinbildung, sondern geht darüber hinaus. Es wird anerkannt und hervorgehoben, dass Europa nicht nur passive Nutzer unserer Technologie benötigt, sondern auch aktive Gestalter. Da ist noch viel zu tun. Es ist sicher gut, schon auf der schulischen Ebene (Sekundarstufe) damit anzufangen. 

Ein permanentes und schwer lösbares Problem besteht darin, entsprechend ausgebildete Lehrer zu gewinnen und zu behalten. Diese stehen nämlich plötzlich vor der Situation, sich entscheiden zu müssen, ob sie im Schuldienst bleiben oder aus ihrer neuen Kompetenz in der freien Wirtschaft Kapital schlagen. Das Problem ist so alt wie unsere Technik, die früher einmal Datenverarbeitung hieß. Das zweite Problem heißt, was kann im Lehrplan gestrichen werden, um für Informatik Platz zu machen. Wie die G8/G9-Diskussion zeigt, ist auch dieses Problem schier unlösbar.

Die in diesem Blog-Eintrag geführte Diskussion ist leichter zu führen, wenn man – wie in dem ACM/IE-Bericht geschehen  ̶  unterscheidet zwischen Informatik als Wissenschaft und Vertrautheit mit digitaler Technik (engl. digital literacy). Letzteres gehört zweifellos zur Allgemeinbildung, ersteres nicht unbedingt. Vielleicht kann man es für gewisse Teilaspekte der Informatik (doch) noch nachweisen bzw. die Informatik entsprechend weiter entwickeln.

Wenn wir ausschließen, dass Europäer dümmer sind als Nordamerikaner, Chinesen und Japaner, kann es nach meiner Ansicht außer am Wirtschaftsklima nur an der falschen Ausbildung liegen, dass wir auf einzelnen Gebieten zurückhängen. Die bessere Ausbildung müsste nicht nur die Technik betreffen, sondern auch das Wirtschaften. An beidem hapert es nach meiner Meinung. Technik vorwiegend nach wissenschaftlichen Kriterien zu bewerten, halte ich für falsch. Zum Wirtschaften gehört mehr als auf Konjunkturzyklen zu starren. Auf beides habe ich in den letzten 20 Jahren immer wieder hingewiesen. Das betrifft Informatik wie Wirtschaftsinformatik gleichermaßen. Wieso jetzt mehr von demselben  - also noch mehr Wissenschaftlichkeit - helfen soll, entgeht mir.

Fazit: Wenn es das Ziel ist, die europäische Wirtschaft zu stärken, dann kann eine frühe Hinführung von jungen Menschen zu Technik und Wirtschaft nur helfen. Dass das nur auf Kosten bisheriger Interessen wie Kunst, Sport und abstrakte Wissenschaft geht, ist auch klar. Die Begründungen sollten ehrlich und überzeugend sein.


Am 9.5.2013 schrieb Hartmut Wedekind aus Darmstadt:

Erinnern Sie sich an meine Ausführungen zum Thema Engineering, von mir geschrieben ziemlich genau vor einem Jahr?

Es geht doch eigentlich darum, dass Ingenieurwesen nicht ideologisch verstanden werden darf. Man muss immer sagen was Sache ist. Ideologen sind nach einem Wort von Ernst Bloch Mitglieder eines Verschönerungsvereins. Alle „Two Culture Typen“ sind von diesem Format. Sie verschönern  ihre Welt, in die man sich eingerichtet hat.

Nachbemerkung (Bertal Dresen):

Hartmut Wedekinds Einwurf bezüglich Engineering hatte ich am 27.4.2012, also am Tag des Eintreffens, bereits veröffentlicht. Damals ging es mir zwar nur um Software-Engineering. Wedekind hatte das Thema sofort  verallgemeinert.

Freitag, 26. April 2013

Interferenz in der Quantentheorie

Hin und wieder werde ich in die Diskussion physikalischer Probleme hineingezogen. Der Anstoß geht meistens von zweien meiner Kollegen aus: Karl Ganzhorn oder Hans Diel. Diesmal geht es wieder um Quantenphysik, das Spezialgebiet meines Freundes und Hobby-Physikers Hans Diel. Es geht um die Interferenz beim Doppelspalt-Experiment, ein Phänomen, das die Wellennatur der Materie belegt.

Am 22.4.2013 schrieb Hans Diel aus Sindelfingen:

Mein Problem betrifft ein zentrales Prinzip der Quantenphysik. Für eine genauere Beschreibung kopiere ich hier einen englischen Text, den ich so oder ähnlich schon öfter verwendet habe (da die Formeln \Phi u.s.w. irrelevant sind, sollten Sie die fehlerhafte Notation übersehen):

============
An example from quantum theory where I found this rule violated is the basic principle on the interference of wave functions. R.Feynman in his famous Lectures on Physics, Volume 3, states the principle as follows:

(begin of citation)
"When an event can occur in several alternative ways, the probability amplitude for the event is the sum of the probability amplitudes for each way considered separately. There is interference:
\Phi = \Phi_{1} + \Phi_{2}
P = | \Phi_{1} + \Phi_{2} | ^{2}
If an experiment is performed which is capable of determining whether one or another alternative is taken, the probability of the event is the sum of the probabilities for each alternative. The interference is lost.
P = P_{1} + P_{2}
(end of citation)
==============

Das Problem, das ich in dem derart formulierten Prinzip sehe, lässt sich in der Frage ausdrücken: Wie (wieso, seit wann) kann das Kriterium dafür,wie sich die Physik in einem ganz entscheidenden Punkt verhält, davon abhängen, was der Mensch fähig ist festzustellen?

Sofortiger Einwand eines Physikers: Niemand spricht hier von der Fähigkeit des Menschen, sondern es geht darum „ob ES möglich ist festzustellen, welchen Pfad das Elektron genommen hat“. Meine Antwort: „ob es möglich ist festzustellen“  („is capable of determining“) ist wunderbar abstrakt, für mich jedoch unzulässig abstrakt. Es wäre nach meiner Meinung nur dann eine zulässige Formulierung (für ein physikalisches Prinzip), wenn es in der Physik eine saubere Definition von „Feststellbarkeit“ gäbe, ähnlich dem Begriff der „Berechenbarkeit“ in der Mathematik.

Eine weitere Erläuterung meines Problems wird vielleicht deutlich, wenn wir über mögliche andere Fassungen des von mir kritisierten Prinzips nachdenken. In einem meiner Papers schlage ich als ersten Schritt folgende Variante vor: „Die Interferenz bricht zusammen, wenn es möglich ist durch eine „measurement-like“-Wechselwirkung festzustellen, welchen Pfad das Elektron genommen hat“.

Möglicher Einwand des Diskussionspartners: Wieso kann das Hinzufügen des Begriffs Wechselwirkung das Problem lösen? Meine Antwort: (1) Durch das Hinzufügen des Begriffs ‚Wechselwirkung‘ wird die Formulierung von der (unzulässig) abstrakten Ebene zurückgeholt auf die physikalische Ebene. (2) Den für mich problematischen Teil („capable of determining“) könnte man tatsächlich jetzt ganz verschwinden lassen und einfach sagen: „Die Interferenz bricht zusammen, wenn in einem der Pfade eine „measurement-like“-Wechselwirkung STATTFINDET.

Möglicher Frage des Diskussionspartners: Wenn das ihr Problem löst, wieso hat Feynman dann nicht das Prinzip so formuliert? (Feynman hat doch die Quantentheorie der Wechselwirkung erfunden.) Meine Antwort: (1) Feynman hat in seiner Formulierung nichts Problematisches gesehen, obwohl er die Quantenphysik insgesamt als (bedenklich) unverständlich angesehen hat. (2. und wichtiger) Wenn Feynman sich auf die Wechselwirkung bezogen hätte, wäre sofort die Frage gekommen, welche Art von Wechselwirkung hat den Zusammenbruch der Interferenz zur Folge (d.h. was ist eine „measurement-like“-Wechselwirkung). Der Zusammenbruch der Interferenz tritt nämlich nicht bei jeder Art von Wechselwirkung auf. Diese Frage hätte Feynman nicht beantworten können. Die kann auch heute noch kein Physiker beantworten. Die Beantwortung der Frage „welche Art der Wechselwirkung verursacht den Zusammenbruch der Interferenz?“ ist eng verknüpft mit dem ungelösten so genannten „Messproblem der Quantenphysik“.

Als Schlussfolgerung von dem, was ich oben geschrieben habe, wünsche ich mir deswegen nicht eine bessere Formulierung des „Interferenz-Prinzips“ à la Feynman, auch nicht eine Ersetzung durch ein logisch und physikalisch sauberes Prinzips (z.B. basierend auf der Wechselwirkung von Teilchen), sondern nur das Eingeständnis, dass die Formulierung, wie sie von Feynman und fast allen Quantenphysikern, mangels fehlender besserer Alternative benutzt wird, unbefriedigend und damit nur vorläufig ist.

Die von mir zitierte Formulierung von Feynman ist ungefähr 40 Jahre alt. Aber auch in Lehrbüchern, die 2012 erschienen sind, wird das Prinzip noch so ähnlich formuliert.  Einen groben Vorschlag zur Definition von „measurement-like“-Wechselwirkung enthält mein Paper [1]. Mich würde interessieren ob es mir gelungen ist mein Problem verständlich darzulegen. Ob Sie meiner Ansicht zustimmen, ist dabei zweitrangig.

Am 23.4.2013 schrieb Peter Hiemann aus Grasse:

ich habe schon verstanden, worum es Ihnen geht. Was ich nicht verstehe aber verstehen möchte, ist die Art der Wechselwirkungen zwischen den Elementarteilchen.

Nach D. Hofstadter entsprechen Feynman-Diagramme mathematischen Ausdrücken zur Berechnung von möglichen Teilchenbahnen. Feynman postuliert sogar Ausdrücke für virtuelle Teilchen, damit er reale Bahnen berechnen kann. „Was aber die Dinge gehörig kompliziert, ist die Tatsache, dass ein Photon (real oder virtuell) für einen kurzen Moment in ein Paar von einem Elektron und einem Positron zerfallen kann. Dann annihilieren sich diese beiden gegenseitig, und wie durch Magie erscheint wieder das ursprüngliche Photon.“ (Gödel, Escher, Bach, Seite 156).

Nach meiner Vorstellung müsste die Beschreibung von Wechselwirkungen darstellen, unter welchen Zustandsbedingungen eines Systems von Elementarteilchen welche Elementarteilchen wie mit anderen interagieren. Und was die Konsequenz der Interaktion ist. Nach dieser Vorstellung könnte es sich bei „measurement-like“ um Zustandsbedingungen handeln.

Übrigens gibt Hofstadter auch einen Hinweis in Richtung ‚Feststellbarkeit‘ von Zuständen: „Die Wissenschaft kennt keine Methode für die Zusammenführung all der unendlich vielen möglichen Diagramme, mit der sich ein Ausdruck für das Verhalten eines vollständig re-normalisierten physikalischen Elektrons gewinnen ließe.“ Ist meine Vorstellung (die den Wechselwirkungen biologischer Moleküle entspricht) für die Quantenphysik irrelevant?

Am 25.4.2013 schrieb Hans Diel:

Ein einzelnes Feynman-Diagramm beschreibt eine Alternative wie die Eingangsteilchen wechselwirken können, um in einer bestimmten Ausgangskonfiguration zu resultieren. Das Gesamtbild erhält man durch die Überlagerung (Interferenz) der verschiedenen möglichen Diagramme. Dabei ist zu beachten, dass dieses "Gesamtbild" nur Wahrscheinlichkeiten liefert. Dass "measurement-like" in Zustandsbedingungen übersetzt werden muss, ist auch meine Überzeugung. Zu der Art dieser Zustandsbedingungen habe ich nur grobe Ideen. Mir scheint, dass Hofstadter KEINEN Hinweis gibt, sondern das Unvermögen der Wissenschaft beschreibt, eine Methode "für die Zusammenführung all der unendlich vielen möglichen Diagramme, mit der sich ein Ausdruck für das Verhalten eines vollständig renormalisierten physikalischen Elektrons" zu liefern.

Am 26.4.2013 schrieb Peter Hiemann:

die Aussage Hofstadters, dass Teilchenphysiker mit der Komplexität „virtueller Teilchenwolken“ nicht fertig werden, finden Sie auf den Seiten 157 und 158 von „Gödel, Escher, Bach“. Ich habe Hofstadters Aussagen dahingehend interpretiert, dass Teilchenphysiker an Grenzen stoßen, um Zustände von Teilchenkonfigurationen zu berechnen. Das meinte ich mit Hinweis auf „Feststellbarkeit von Zuständen“. Ob die Teilchenphysiker die Ansicht vertreten, dass es sich bei den Grenzen der Berechenbarkeit nur um das Unvermögen handelt, noch nicht die richtige Methode gefunden zu haben, kann ich nicht beurteilen.

Hofstadter gibt auf Seite 157 übrigens einen anderen interessanten Hinweis: Er könnte sich vorstellen, eine Anzahl von RTNs (Rekursive Transition-Netzwerke) auszuarbeiten, welche die „Grammatik“ elektromagnetischer Wechselwirkungen definieren. Vielleicht lohnt es, sich mit Hofstadters RTNs vertraut zu machen. Vielleicht auch für mich, da ich sicher bin, dass auch bei molekularbiologischen und neuronalen interaktiven Prozessen Rekursion (Nicht-Linearität) eine Rolle spielt.

Zusätzliche Referenz
  1. Diel, H.: A Functional Interpretation of Quantum Theory, ICCQMNP Barcelona, 2013; Eine Kopie davon gibt es hier.

Montag, 22. April 2013

Kultur – gibt es die noch? Wenn ja, wie viele?

Immer dann, wenn von der Entwicklung des Menschen und der seiner geistigen Fähigkeiten die Rede ist, taucht der Begriff der Kultur auf. Es besteht offensichtlich eine Wechselbeziehung. Kultur kann sich nicht ohne Menschen entwickeln und Menschen nur schlecht ohne Kultur. In der allgemeinsten Form ist Kultur alles, was nicht Natur ist. Nur im Deutschen wird von der Kultur die Zivilisation abgegrenzt. Manche Sprachen machen keinen Unterschied zwischen beidem.

An sich ist das Wort Kultur völlig verbraucht. Es gibt keine Tätigkeit des Menschen, die nicht als Kultur bezeichnet wird, angefangen von der Ess- und Trinkkultur bis zur Wohn- und Gartenkultur. In den meisten der genannten Fälle handelt es sich um Ausdrucksformen der Alltagskultur. Im Folgenden verwende ich das Wort Kultur in einer sehr einschränkenden Bedeutung, die wir am ehesten mit dem Begriff  Hochkultur belegen würden. Wie ich schon wiederholt sagte, kommt man am Differenzieren nirgends vorbei. Immanuel Kant, von dem sich einige Kollegen immer noch oft leiten lassen, würde statt differenzieren ‚attendieren‘ sagen. Wir müssen den Konkreta unsere Aufmerksamkeit widmen, obwohl die Versuchung immer groß ist, in die Welt des Unkonkreten und Unrealen zu abstrahieren.

Philippika eines Weltbürgers

Mario Vargas Llosa (*1936 in Peru) gilt als führender lateinamerikanischer Schriftsteller. Er erhielt im Jahre 2010 den Literatur-Nobelpreis. Sein neuestes Buch trägt den Titel "Alles Boulevard" (2013, 231 Seiten). Das spanische Original hieß übersetzt ‚Zivilisation des Spektakels` (span. La civilización del espectáculo). Das bringt uns dem Inhalt erheblich näher.

Das Buch stellt eine zweiteilige Frage und wiederholt sie immer wieder: Was meinen wir, wenn wir heute von Kultur reden, und wie stellt sie sich dar? Bei der Beantwortung der ersten Teilfrage beginnt Llosa im Jahre 1948 mit T.S.Eliot (1888-1965). Seine Antwort erscheint uns bereits antiquiert: Kultur verlange Elite. Massenkultur sei keine Kultur. Kultur werde durch Familie und Kirche vermittelt, nicht durch die Schule. Diese mag Kulturwissen vermitteln. Sie sagt (im Allgemeinen) nichts dazu, was das Leben lebenswert macht. Nach der französischen Revolution habe in Europa in kultureller Hinsicht eine große Langeweile (frz. grand ennui) eingesetzt. Sie führte zu dem großen Gemetzel der Weltkriege und des Holocaust.  

Eine modernere Antwort findet der Autor bei dem französischen Philosophen Gilles Lipovetsky (*1944): Kultur muss alle Kontinente und Religionen einbeziehen. Sie darf nicht länger elitär, gelehrt und exklusiv sein. Die Demokratisierung  ̶  was immer das heißt  ̶  ist ein Muss. Demzufolge kann es nur eine Massenkultur sein. Sie hat ihren Charakter verändert. Die Masse fühlt sich nur angezogen von Etwas, das Neues und Abwechslung bietet. Kultur degeneriert zu Unterhaltung und Flucht. Es dominieren Bilder (Film) und Töne (Musik). Das Internet wirbelt schließlich alle Medien durcheinander, die für Kultur relevant sind. Die früher sehr wichtige Buchkultur wird marginalisiert.

Als Kulturschaffende gelten nach wie vor Künstler (Bildhauer, Maler, Komponisten) und Literaten (Autoren). Hinzugekommen sind die Filmemacher. Die Konsumenten treten oft als Touristen auf. Selbst der einfache Bürger verhalte sich wie ein Snob. Bei einem Besuch in Paris hakt er Sehenswürdigkeiten, Kunst und Gourmet-Essen (Eifelturm, Louvre und Escargots) geradezu ab.

Heute sehe man als Mainstream einer Kultur die Gebiete Film, Fernsehen und Pop-Musik an. Bücher, Malerei und Bildhauerei gehören nicht mehr dazu. Nicht-Pop-Musik, Gesang, Theater, Ballett und Tanz sind ebenfalls zu Randgebieten geworden. Es werden kaum noch Werke geschaffen, die den Tod des Autors überdauern sollen. Alles ist für den Konsum durch Heutige gedacht. Als Wert gelte der Preis. Den bestimmt der Markt, nicht der Experte. [Die Entwertung des Begriffs Künstler ist kaum noch zu überbieten, seit die Definition gilt, Künstler ist, wer sich für einen Künstler hält]

Wir haben eine Kultur des Spektakels. Die Medien bedienen vorwiegend den Eskapismus. Nur Spaß zählt. Angeblich sollen nach der Lehman-Pleite Fernseh-Teams darauf gewartet haben, dass ein Börsenmakler von einem Hochhaus springt  ̶ vermutlich nur ein Gerücht, aber ein bezeichnendes. Kunst-Kritiker kämen sich vor, als ob sie versuchen aus einem Urwald eine hierarchische Ordnung zu machen. In der Öffentlichkeit werden Köche und Modemacher stärker wahrgenommen als die Literatur-Kritiker. Der Sport dient primär dazu, moderne Hordenbildung (z.B. in Fußballstadien) zu fördern, statt den Geist zu bilden nach dem klassischen Ideal des ‚Mens sana in corpore sano‘. Oft zähle Kasperei als Kunst. Man fühle sich von manchen modernen Künstlern auf den Arm genommen. [Vargas Llosa kennt ein Pariser Pissoir, das als Kunstwerk verehrt wird. Ich habe bereits bei manchen Werken von Beuys den Eindruck, dass mich jemand veräppeln will]. Frivolitäten und sexuelle Perversionen dienen als lohnendes Sujet. Der Journalismus versteht sich als Unterhaltung. Skandale, Korruption und Katastrophen bekommen die größte Aufmerksamkeit. Dass dies zur Politik-Verdrossenheit führt, sei kein Wunder.

Einige Ursachen für die Entwertung der Kultur

Die Verwässerung des Begriffs Kultur erfolgte in edelster Absicht. Schuld waren die Ethnologen, die primitive Völker besuchten und beschrieben. Sie verwanden für das Gesamtbild von Mythen, Sitten und Gebräuchen den Begriff Kultur. Eine Volkskultur, in der nicht alles gleich ist wie in unserer Kultur, hat ein Recht so zu sein, allein weil es sie gibt.

In Diktaturen, wie es sie leider überall auf der Welt gibt, wird die Kultur korrumpiert, indem sie in den Dienst des Regimes gestellt wird. Viel schlimmer ist, dass in vielen Demokratien die Situation sich umgekehrt darstellt. Das, was dort heute als Kultur gilt, ist auf dem besten Wege die Grundlagen der Demokratie zu zerstören. Vargas Llosa sieht den Ausgangspunkt für viele Probleme im Mai 1968. Es wurden nicht nur alle bisherigen Autoritäten in Frage gestellt, auch das staatliche Schulwesen wurde ausgehöhlt. Namhafte französische Philosophen wie Baudrillard, Derrida und Foucault hätten dazu beigetragen, das Vertrauen in die Kraft der Gesellschaft, ja in die Realität zu erschüttern. Es fand eine weitgreifende Sinnentwertung statt. Kultur sei zu einem ungreifbaren Phantom geworden. Sie sei nur noch Vorwand für den Kommerz, genauso wie das Überleben als einzige Rechtfertigung des Lebens gehalten wird. Die seither eingetretene sexuelle Befreiung habe zwar zu mehr Selbstbestimmung im Umgang der Geschlechter geführt, sie habe jedoch die Literatur des Themas Erotik beraubt.

Was Kultur leisten sollte

Vargas Llosa hält sich keineswegs zurück bei der Frage, was Kultur leisten sollte. Eine Kultur müsste Antworten geben auf die ‚Rätsel, Fragen und Konflikte, die die Existenz des Menschen umfangen‘.  Die Antworten müssen ernsthaft sein, verantwortlich und verständlich, nicht bloß spielerischer Natur. Sie müssten den Dialog ermöglichen zwischen Vergangenheit und Zukunft. Im Sinne einer Hochkultur müssen die Kunstwerke, die als Meisterleistungen anerkannt werden, anspruchsvolle Werke sein, die nicht ohne Anstrengung oder Begabung hergestellt werden können. Sie sollten Kompetenz zum Ausdruck bringen. Sie sollten ein Gegengewicht darstellen gegen Frivolität, Ignoranz und Oberflächlichkeit. Schließlich sollte Kultur zur Erziehung junger Menschen beitragen.

Sehr beschäftigt den Autor die Beziehung zwischen Kultur und Religion. Vielleicht ist das für einen Lateinamerikaner, der aus einer katholischen Tradition stammt, naheliegend. Menschen aller Epochen und Regionen haben einen Gottglauben. Sie erwarten ein Leben nach dem Tode. Es widerstrebt ihnen, den Menschen nur als kosmischen Unfall anzusehen, so wie dies Albert Camus (1913-1960) ausdrückte. Wir brauchen einen Glauben an Gerechtigkeit, und haben Angst vor der Einsamkeit. Wissenschaft und Technik konnten bisher die Religionen nicht auslöschen oder ersetzen. Inzwischen sei es als Irrglaube erkannt, dass Vernunft, Wissenschaft und Kultur den Menschen auf die Dauer vom Aberglauben befreien könnten. Religionen bedienen ein allgemeines Bedürfnis nach Spiritualität und Transzendenz.

Er plädiert für eine strikte Trennung von Kirche und Staat. Wo dies nicht geschieht, hat es eine freie, demokratische Gesellschaft schwer, sich zu entwickeln. In fast allen Ländern ist die Säkularisierung geglückt außer in Saudi-Arabien und Iran. Das Beispiel eines ehemals islamischen Landes ist die Türkei. Die Demokratie profitiere von der Religiösität ihrer Bürger. Die ursprüngliche Botschaft des Christentums (Verzeihung, Brüderlichkeit) ziele in diese Richtung. Schlimm ist jede Form der Repression, insbesondere wenn sie von Kirchen ausgeübt wird, die sich dazu der Macht eines Staates bedienen. Auch Gewalt zwischen Sekten ist schlimm, egal ob es sich um christliche oder islamische Glaubensstreitigkeiten handelt. Auch wenn die großen Glaubensgemeinschaften einen Schwund der Mitgliederzahl verzeichnen, der Anteil religiös sensibler Menschen gehe nicht zurück. Das beweisen unter anderem die rund 1600 neureligiösen Gruppen. Der Staat muss entweder alle verbieten, oder alle akzeptieren. Die zweite Alternative sei die einzig vernünftige.

Versuch einer Ergänzung

Manchmal komme ich mir etwas arrogant vor, wenn ich mich traue, der Aussage eines weltbekannten Autors meine eigene Meinung gegenüberzustellen. Dann sage ich mir stets, dass ich alt und unabhängig genug bin, um mich blamieren zu dürfen.

Nach meiner Meinung kommen wir nicht umhin zu unterscheiden zwischen  d e r  Kultur und den Kulturen. Es ist nicht nur ambitiös, sondern illusorisch von einer einheitlichen Weltkultur zu sprechen. Andererseits ist die Zeit vorbei, als nur nationale oder ethnische Kulturen wert waren betrachtet zu werden. Heute muss man differenzieren nach Lebensbereichen. Das ist bei dem Wort Zivilisation einfacher. Sie stellt primär eine regionale oder zeitliche Entwicklungsstufe dar. Deutsche und französische Kultur sind klar unterscheidbar. Bei dem Wort Zivilisation hingegen widerstrebt es, überhaupt die Mehrzahl zu bilden.

Wie ich in einem früheren Beitrag ausgeführt habe, sind C. P. Snows berühmte zwei Kulturen in Wirklichkeit drei Kulturen. Bei dieser Betrachtung liegt die Betonung auf der Haltung des Menschen gegenüber der Natur. Durch die Differenzierung werden bewusst Unterschiede deutlich gemacht, die von gewisser Seite am liebsten unterschlagen werden. Es ist vor allem die ältere Gruppe, die gerne leugnet, dass sich etwas Neues ergeben hat. Es wird Tausende von Gemeinschaften geben, in denen sich weltweit verstreute Sprachgemeinschaften, Denkschulen, Fachinteressenten und Hobbyisten zusammenfinden. Virtuelle Gemeinschaften hießen sie 1994 bei Howard Rheingold. Diese Entwicklung ist nicht neu. Sie wird jedoch enorm beschleunigt und erleichtert.

Wie viele Intellektuelle vor ihm so neigt auch Vargas Llosa zu einer Glorifizierung der Vergangenheit. Im vorangehenden Blog-Eintrag wurde dargestellt, dass die Illusion der Gültigkeit und das Konstruieren kohärenter und kausaler Geschichten über die Vergangenheit zu den kognitiven Verzerrungen zählt, denen alle Menschen unterliegen. Nicht ganz so negativ wie der Autor sehe ich das befürchtete Absinken des intellektuellen Niveaus der öffentlichen Kommunikation. Ich kenne außer mir noch viele, die ohne Pop oder Rap auskommen, sogar ohne Heidi Klum, Dieter Bohlen und die Bildzeitung. Einige von ihnen haben sogar Einfluss auf die Jugend.

Nebenthema: Verunsicherung durch neue Medien

Bei den vorangegangenen Bemerkungen deckten sich meine Auffassungen weitgehend mit denen des Autors. Das ändert sich bei einem Nebenthema. Die neuen Medien, allen voran das Internet, bewirken, dass die Welt einerseits zum Dorf wird, sich aber andererseits immer mehr Gruppen absondern. Google, Twitter und Facebook verändern das geistige Leben, so wie es der Buchdruck einst tat  ̶  da sind wir der gleichen Meinung. Die Frage, die Kinder stellen, ist berechtigt: Warum muss ich mir merken, was ich nachschlagen (d.h. googeln) kann?

Wer die Qualität der Inhalte bedauert,  ̶  wie dies der Autor tut  ̶  verrät nur sein Unwissen. Das Internet überträgt das Programm von über 4000 Radiosendern. Man kann die Kunstwerke des Pariser Louvre und der Eremitage in St. Petersburg betrachten und sämtliche Werke Shakespeares auf dem Handy lesen. An Hermann Höcherls berühmten Ausspruch denkend, trage ich das Grundgesetz der Bundesrepublik mit mir herum, außerdem die Bilder aller Bundestagsabgeordneten. Natürlich kann man auch viel Schwachsinn im Netz finden. Früher  ̶  so sagte ein anderer kluger Zeitgenosse  ̶  musste man meist nur einen Dorftrottel ertragen, jetzt ist jeder Trottel auf der ganzen Welt vernehmbar. Man muss lernen zu selektieren und zu filtern. Die einfachste Form heißt wegschalten oder löschen.

Es gibt natürlich Nebenwirkungen. Im Vergleich mit der Umweltverschmutzung, die durch die chemische Industrie verursacht wird, oder der Zahl der durch den Autoverkehr täglich zu Tode gekommenen Menschen, sind sie geradezu marginal. Man muss sich dennoch um sie kümmern. Auf andere Technologien zu verweisen, hilft nicht.

Die  Revolution der Information ist  ̶  wie der Autor bemerkt  ̶  längst noch nicht abgeschlossen. Dass sie zur ‚Roboterisierung der Menschheit‘ führt, bezweifele ich jedoch. Es gibt hier ebenso Happenings wie anderswo, die nur der Befriedigung von Neugierde dienen (z.B. Wikileaks). Dass der Autor Angst vor E-Books empfindet, kann ich überhaupt nicht nachvollziehen [Ich las seinen jüngsten Text als E-Book]. Dass Leser mit papiernen Büchern gewisse sinnliche (d.h. haptische) Erfahrungen verbinden, ist nichts Überraschendes. Schließlich verbinden wir mit dem Kutschenfahren andere Gefühle als mit dem Autofahren. Reiten ist etwas anderes als Fahrradfahren. Die meisten Menschen konnten sich über diese Gefühle hinwegsetzen.

Montag, 15. April 2013

Zur Psychologie des Denkens

Wenn Sie dieser Titel etwas verwirrt, dann ist dies Absicht. Bei dem Versuch, das menschliche Denkvermögen zu erklären, gibt es verschiedene Ansätze. Einen mir bisher wenig vertrauter Ansatz liefert die moderne Psychologie. Er wird von Daniel Kahneman beschrieben, dem Autor des Bestsellers Schnelles Denken – Langsames Denken. Das Buch erschien im Jahre 2012 und umfasst 568 Druckseiten.

Der Nobelpreisträger Kahneman (*1934, nicht zu verwechseln mit Daniel Kehlmann) ist von Hause aus Psychologe, arbeitet aber ausgesprochen analytisch und wirtschaftsbezogen. Er hat mit seinen empirischen Untersuchen viel zur ökonomischen Entscheidungstheorie beigetragen. Man nennt diesen Zweig heute auch Verhaltens- und Neuroökonomie. Kahnemans Arbeit ist für mich in vieler Hinsicht eine Ergänzung zu Damasio, Edelman, Luhmann und Metzinger, auf die in diesem Blog teilweise in eigenen Beiträgen verwiesen wurde.

Bei jedem Fortschritt der Wissenschaft tragen Überlegungen wie die von Kahneman dazu bei, dass mit Illusionen oder Fehleinschätzungen aufgeräumt wird. In diesem Falle stechen drei besonders hervor:

(1) Es gibt nicht nur optische Täuschungen, sondern auch kognitive Fehlleistungen, die mindestens so wichtig sind. Sie werden hier als kognitive Verzerrungen bezeichnet. Das ist die Übersetzung des englischen Ausdrucks ‚cognitive bias‘. Die andern deutschen Übersetzungen, die bei ‚bias‘ mit anklingen, gehen bei dem Wort ‚Verzerrung‘ leider verloren, nämlich Vorurteil, Voreingenommenheit und Befangenheit.

(2) Der homo oeconomicus (hier als ‚econ‘ abgekürzt), der immer rational und selbstsüchtig handelt, ist eine unzulässige Vereinfachung durch die Wissenschaft. Er erklärt nur einen (geringen) Teil dessen, was die Wirtschaft über den Menschen (die ‚humans‘) wissen muss. Da ich diese Ansicht bereits bei mehreren Autoren (z.B. Stiglitz, Nida-Rümelin) ausführlich dargestellt habe, will ich dies hier nicht weiter vertiefen.

(3) Sehr interessant ist die Vorstellung, dass Menschen zwischen dem erlebenden und erinnernden Selbst gespalten sind. Das von der Erinnerung erzeugte Selbstbild weicht sehr von dem Selbstbild ab, das wir im Moment des Erlebens haben. Für Dauer und Zeit des Erlebten sind wir weniger sensibel als für seine Intensität und den Schlusseindruck.

Titel und Text des Buches konzentrieren sich auf Thema (1). Da diese Betrachtungen die genannten früheren Beiträge ergänzen, will ich vor allem auf sie eingehen. Kahnemans Modell des Denkens differenziert zunächst in Denken-1 und Denken-2. Genau genommen spricht er von System-1 und System-2, also nicht von unterschiedlichen Tätigkeiten, sondern von unterschiedlichen Komplexen. Er sieht zwei eindeutig verschiedene Charaktere oder zwei Ausprägungsformen des Denkens. Ob diese durch zwei getrennte Mechanismen oder Organismen realisiert sind, lässt er offen. Die Betrachtung ist hier rein logisch und phänomenologisch. Über die physikalische Realisierung muss nämlich bei Menschen die Medizin und bei Tieren die Biologie eine Klärung herbeiführen. Wie in anderem Zusammenhang erwähnt, ist Differenzierung ein wichtiger erster Schritt, um unsere Erkenntnis voranzubringen. Ich selbst spreche lieber von Denken-1 und Denken-2 als von System-1 und System-2, weil ich als Informatiker mit dem Begriff System bereits eine bestimmte Form der Realisierung verbinde. Ein einzelnes Informatik-System kann durchaus zwei oder mehr Arten von Output produzieren oder gleichzeitig mehrere Verhaltensmuster nachahmen.

Denken-1 ist schnell, intuitiv und assoziativ. Es ist voreilig, aber vielseitig. Denken-2 ist langsam, logisch und bewusst. Es kostet viel Anstrengung und will sich am liebsten nicht beteiligen. Es scheint zurückhaltend, ja faul zu sein. Soweit das Modell. Die als kognitive Verzerrung identifizierten Fehlleistungen gehen in der Regel zu Lasten von Denken-1. Als Beispiele kognitiver Verzerrungen benennt Kahneman die folgenden:
  • Ersetzung: Ist eine Frage nicht oder nur schwer zu beantworten, ersetzen wir sie unbewusst durch eine leichtere und beantworten diese. (Klassisches Beispiel: Obwohl nach der Qualität eines ihrer Produkte gefragt ist, entscheiden wir uns danach, ob die Firma des Herstellers uns sympathisch ist)
  • Halo-Effekt: Wenn uns schon mal ein Aspekt eines Objekts gefällt, gefällt uns auch meist der Rest. Der erste Eindruck wirkt nach, es sei denn man kann die Eindrücke ‚dekorrelieren‘. Es folgt daraus, dass die Reihenfolge, in der Fragen gestellt werden, die Antworten beeinflusst.
  • Verfügbarkeit: Intuitive Aussagen werden von der Verfügbarkeit von Informationen geprägt. Man benutzt am liebsten nur die Information, die schon da ist, obwohl zusätzliche Information dringend erforderlich wäre, um statistisch relevante Aussagen zu erhalten (Dominanz des Faktischen – so nannte dies ein früherer Kollege von mir).
  • Optimismus-Verzerrung: Auch wenn die Statistik dem widerspricht, glaubt man stets an gute Chancen. Es ist oft der Grund für jede Form von Risikobereitschaft. Es ist die Basis des Kapitalismus. Obwohl die Überlebenswahrscheinlichkeit von Firmenneugründungen in den USA nur 35% beträgt, glaubt dies niemand. Fast 90% aller Autofahrer glauben besser als der Durchschnitt zu fahren. Optimisten sind nicht nur glücklicher, sie haben auch die höhere Lebenserwartung.
  • Narrative Verzerrung: Wir versuchen immer aus der Vergangenheit eine kohärente und kausale Geschichte zu machen. Wir überschätzen unser Wissen über die Welt. Wir bemühen uns die Vergangenheit zu verstehen und weigern uns, Zufall als dominierend anzuerkennen. Wir erliegen leicht der Illusion der Gültigkeit. Die Kohärenz einer Geschichte verdrängt die Dürftigkeit von Daten. Das menschliche Gehirn ist ein sinnstiftendes Organ. Als Beispiel: Die Geschichte der Firma Google klingt überzeugend, obwohl sie so nicht vorhersagbar war.
Über kognitive Fehler Bescheid zu wissen, ist deshalb wichtig, weil es sich um systematische Fehler handelt. Unser Intellekt sucht nach Kausalität und Kohärenz und kommt mit Statistik schlecht zurecht. Wir haben kein intuitives Gefühl für statistische Wahrscheinlichkeiten. Wir neigen dazu die Ähnlichkeit mit einem Stereotyp höher zu bewerten (Beispiel: Wir halten jeden, den wir auf unserem Campus sehen und dem Stereotyp eines Nerds entspricht, für einen Informatik-Studenten, obwohl diese an einer bestimmten Hochschule sehr rar sein mögen).

Statistisch fundierte Aussagen müssen immer von der Basisrate ausgehen, d.h. von der a priori gegebenen Merkmalsverteilung in einer Population oder einer Gruppe. Zusätzlich hinzukommende Information kann nach der Bayes'sche Regel angewendet werden. Immer wenn Korrelationen zwischen Merkmalspaaren nicht perfekt sind, gibt es eine Regression zu Mittelwert bzw. zur Mittelmäßigkeit (so die statistische Theorie, die ich hier nicht erkläre!).

Unter Ökonomen herrschte lange die Annahme vor (und tut es teilweise heute noch), dass jeder Mensch rational und logisch denkt. War das nicht der Fall, dann nahm man an, dass Emotionen im Spiel seien. Maynard Keynes erklärte die Wirtschaftskrise der 1930er Jahre bereits teilweise auf diese Art. Er machte Angst und Panik mit verantwortlich. Neu im Denken der Ökonomen ist, dass es nicht allein die Emotionen sind, die im wirtschaftlichen Verhalten des Menschen eine Rolle spielen, sondern dass wir laufend systematische Fehler machen. Die Finanzkrise von 2008 gab diesem Denken neuen Auftrieb.

Die Art, wie sich menschliches Denken heute darstellt, lässt sich natürlich aus der Evolution begründen. Das Denken-1 enthält ein Modell der persönlichen Welt. Wir stellen sehr schnell Abweichungen und Übereinstimmungen fest. Im Rahmen von Denken-1 interpretieren wir die Gegenwart und die Zukunftserwartungen. Wir wetten basierend auf Erfahrung und Kontext. Es gibt zunächst weder Zweifel noch Alternativen. Das langsame, wohlüberlegte, rationale Denken-2 soll uns davor schützen, zu viele gravierende Fehler zu machen. Zunächst glauben wir, was wir sehen. Das Widerlegen kommt später. Wie weit die durch Denken-2 gewonnen Einsichten das Denken-1 verändern, ist eine interessante, weitgehend noch offene Frage.

Kahneman machte seine Experimente vorwiegend mit amerikanischen College-Studenten und israelischen Militärpiloten. Viele Ökonomen bezweifeln, dass sich Ergebnisse von studentischen Experimenten auf die Wirtschaft übertragen lassen. Dieses Argument bekommen auch Kollegen zu hören, die empirische Software-Forschung nur an Universitäten betreiben.

Fazit: Das Buch ist etwas langatmig und oft anstrengend. Es enthält jedoch viele interessante Fallstudien und damit verbundene Denkanstöße. Nach dem Lesen ist es klar, warum gerade dieser Psychologe 2002 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhielt. Dieser Preis wird von der schwedischen Reichsbank vergeben. Die Begründung lautete: "Für das Einführen von Einsichten der psychologischen Forschung in die Wirtschaftswissenschaft, besonders bezüglich Beurteilungen und Entscheidungen bei Unsicherheit.“

Sonntag, 7. April 2013

Abstraktionitis ohne Ende

Nach mehreren Beiträgen in diesem Blog hatte ich gehofft, das Thema Abstraktionen für eine Weile ruhen lassen zu können. Da es nach meiner Ansicht in der Informatik völlig überbetont und falsch dargestellt wird, wollte ich es mit einigen Klarstellungen bewenden lassen. Das hat jedoch bei einigen Informatikern unter meinen Lesern Widerstand hervorgerufen. Sie bemühen sich seither recht geduldig, meine Auffassung zu korrigieren. Die Diskussion ist zu wichtig, um sie im Kommentar-Modus zu führen. Wie immer ist die Gefahr groß, auf andere Themen abzugleiten. Das passierte,  ̶  wie Sie sehen werden   ̶  als ich unnötigerweise den Begriff Axiome ins Spiel brachte. Ich hoffe, wir kommen doch noch auf mein Thema zurück.

Am 6.4.2013 schrieb ich an Hartmut Wedekind in Darmstadt:

Sie haben neulich [im Kommentar vom 23.3.2013] recht leichtfertig   ̶  so meine ich   ̶   von der Abstraktion Zahl gesprochen. Ich glaube, ich verstehe auch, was Sie meinen. Sie haben mich getadelt, weil ich lieber mit Ziffern rechne. Es gibt dafür auch einen Grund, den ich Ihnen gerne verrate. Ich weiß nämlich sehr gut, wie man sie (inkl. ihrer Semantik) darstellt. Ich kann das auf Papier, mit Holzstäbchen, Kieselsteinen, Muscheln oder dergleichen. Allerdings tue ich es am liebsten mittels Ziffernrechnern, ob binär, biquinär oder dezimal spielt dabei keine Rolle. 

Falls nötig, so kann ich auch Axiome für die von mir durchgeführten Operationen aufschreiben. Ein Beispiel sind die von Herrn Peano angegebenen. Solche Axiome sind bekanntlich Göttersprüche, d.h. unbegründete Vorgaben. Das ist eigentlich etwas ganz Tolles. Ganz ungefährlich sind sie allerdings nicht. Das brächte uns in die Nähe der ach so berühmten Turing-Maschine, die bekanntlich nicht rechnen sondern nur Striche machen und löschen kann. Damit zu rechnen, fällt uns Praktikern auch 70 Jahre nach ihrer Erfindung noch schwer. Ob das wirklich nur an der zu geringen Mathematik-Ausbildung von Informatikern liegt,  ̶  wie dies einige Ihrer Kollegen vermuten  ̶  wage ich zu bezweifeln.

Haben Sie selbst vielleicht schon einmal Zahlenrechner gesehen oder berührt? In Gedanken vorstellen kann ich mir Vieles, z.B. Einhörner und Engel mit Flügeln auf dem Rücken. Nur sollten Sie mich nicht fragen, wie viele Engel auf eine Nadelspitze passen. Von einer solchen Frage wäre ich echt überfordert.

Noch am 6.4.2013 erhielt ich folgende Antwort:

Bloß konstruktiv sind Axiome  ̶  das sind implizite Definitionen  ̶  nicht gerade verboten, aber geächtet. Wie heißt es so schön: konstruktiv sein heißt, schrittweise vorgehen, dabei zirkelfrei bleiben und alles  explizit machen.

Der Streit "Axiome hin oder her" geht ja auf Hilbert und Frege zurück. Frege hat die Hilbertschen Axiome lächerlich gemacht und dann die Antwort erhalten: Ob ich einen Punkt oder Liebe, Gesetz oder Schornsteinfeger implizit definiere, ist doch gleichgültig. Hauptsache ich bin widerspruchsfrei.

Das ist der Punkt. (Implizite) Axiome müssen zur Lebenswelt keinen Bezug haben. Die Richtigkeit der Peano-Axiome hat der Lorenzen aber in seinem Buch "Differential und Integral" mit konstruktiven Mitteln bewiesen. Das geht also auch.

Darauf antwortete ich, ebenfalls am selben Tage:

Ich wollte nur wissen, wie Sie es schaffen mit Zahlen statt mit Ziffern zu rechnen. Anstatt auf meine Frage einzugehen, verweisen Sie auf einen Herrn Hilbert, der meint, dass für jedes Dreieck, auch eines zwischen Liebe, Gesetz und Schornsteinfeger, der Satz des Pythagoras gelte.


Am 7.4.2013 schrieb Hartmut Wedekind aus Darmstadt:

(1) Ziffern haben eine Farbe. Zahlen nicht. Ziffern kann man an die Tafel schreiben, Zahlen nicht.

(2) Worte, auch Begriffsworte (Prädikatoren), kann man an die Tafel schreiben, Begriffe nicht.

(3) In eine Richtung kann ich zeigen und sagen, daher kommt der Kaffeegeruch. Die Richtung selber ist geruchlos.

(4) Zehn-Euroscheine können schmutzig oder sauber sein. Der Wert ist nicht schmutzig oder sauber

(5) Einen Melodie (Tonfolge) kann tief in es-Dur oder hoch in fis-Moll gespielt werde. Bei gleichem Tonabstand bleibt die Melodie die Melodie, unverändert gegenüber Höhe und Tonart. Musiker wissen das. Das sind kluge Leute.

(6) usw.,usw.,usw.

Das Abstraktionsprinzip ist lebens-dominant, ob man will oder nicht. Wie kommt das? Wir vergleichen Gegenstände (ein Gegenstand ist, was uns entgegensteht und einen Namen tragen kann) und schauen darauf, dass die Gegenstände in einer b e s t i m m t e n Hinsicht gleich sind. Das ist der Punkt. Nicht umgekehrt, auf das Ungleiche schauen und das dann weglassen. Jeder Gegenstand hat  mit einem anderen unendlich viel Ungleiches. Das Weglassen hört also nicht auf, ist also Quatsch. Abstraktionstheorie als ein  Weglassen ist  Quatsch, aber gängige Praxis und beliebt. Köpfe, die durch Weglassen abstrahieren, sind demnach Quatschköpfe. Der Weglasser, der Quatschkopf, hört ja nie auf, weil er unendlich viel, schön immer nacheinander und übersichtlich, weglassen muss. Das dauert. Man spricht nicht von Quatsch in feinen Kreisen, man sagt Mythos.

Das ist ja gerade der erkenntnistheoretische Pfeffer herauszustellen, in welchen p a r t i k u l a r e n Hinsichten ein Gegenstand mit meinem anderen gleich ist. Und die b e s t i m m t e Hinsicht ist mir wichtig, um zu verdichten. Gäbe es nur einen Gegenstand, dann kann man nicht abstrahieren. Man braucht immer mindestens zwei. "In jeder Hinsicht gleich", das  wäre eine Identität, und die steht bei der Abstraktion nicht zur Debatte. Identität ist die schärfste Äquivalentrelation, die wir kennen. "formgleich", "tongleich" etc. sind dagegen harmlose Hinsichten der Gleichheit.

Eines der sonderbarsten Abstraktionen der Neuzeit ist übrigens das Mooresche Gesetz. Eine Verdoppelung alle 18 Monate findet statt, egal welche Vergangenheit vorliegt. Verdoppelt wird unverändert. Mal sehen, wie lange das noch klappt. In den Bauelementen scheint man am Ende zu sein. Die Parallelisierung soll es nun machen.

Organisations-Anthropologie im Zeitalter einer abstraktiven Informationstechnologie“ ist mein Thema in Konstanz (am 10.-11. Oktober 2013). Eine „abstraktive Informationstechnologie“, oder besser: eine lebensbreite Abstraktion ermöglichende Technologie, ist überhaupt der Pep an allem, was ums Mooresche Gesetz sich rangt. Wir können wirkungsmächtig, man kann auch realistisch sagen, wegen Moore jenseits von Raum und Zeit denken. Das ist ein Ding. Das konnten unsere Vorfahren nicht. Der Mensch bekommt ein Mittel in die Hand zu unglaublichen Abstraktionen. Denke ich an „Computing in the Cloud“ wird es mir ganz schwindelig. Verdichtende Abstraktion ist wirkmächtig, und wie. Das Wort realistisch muss vermieden werden.

Was ist Realität? Kein Mensch weiß das. Die Realität redet bekanntlich nicht, sie schweigt uns an. „Der Stuhl vor mir redet nicht“ sagte einmal ein Spaßvogel zutreffend. Wir erschießen uns das, was wir „wirklich“ (in der Welt) nennen, über Sprache  mit ihren Aussagen.  Aussagen sind wahr oder falsch. Erst wenn das geklärt ist, kann gesagt werden, was wirklich und was unwirklich( fiktiv) ist. Der Schritt von der Sprache mit ihren Aussagen (wahr, falsch, noch nicht entschieden) zu Sachverhalten oder „facts“ (wirklich, unwirklich oder fiktiv) der Wirklichkeit ist ein Abstraktionsvorgang. Wirklichkeit ist abstrakt. Sagen Sie das mal weiter. Die Leute springen wie verrückt im Viereck. Vor allen Dingen Politiker drehen durch, weil sie in eine ganz andere, dogmatische Redeweise hinein sozialisiert wurden. Politik ist sicherlich  kein Reflexionsfach. Nachgedacht über das, was man sagt und tut, wird nur selten. Wie könnte es auch anders „in Wirklichkeit“ sein? Abstraction is, although unknown, everywhere.

Vorläufige Antwort (Bertal Dresen):

Ich gebe Hartmut Wedekind bei allen Beispielen Recht. Nur glaube ich, dass dies alles an meinem Thema vorbeigeht. Meine Frage lautet (immer noch): Welche Rolle spielt die Abstraktion für den konstruierenden Ingenieur und damit für den praktischen Informatiker? Solange die Meinung vorherrscht, dass eine mathematisch-philosophische Betrachtungsweise ausreicht, können m.E. aus Deutschland keine Impulse erwartet werden, die das Fachgebiet Informatik technisch weiterbringen. Man müsste die Wolken der Abstraktion verlassen und ins Konkrete hinabsteigen.

Interessanterweise wird Wedekind demnächst in Konstanz nur von einer ‚Abstraktiven Informationstechnologie‘ sprechen und nicht von einer abstrakten Informatik. Das wäre nämlich ein Pleonasmus. 

Am 8.4.2013 schrieb ich (Bertal Dresen) an Hartmut Wedekind:

Ich hätte eine Bitte: Könnten wir statt in die Philosophie zu entfliehen, uns wieder näher in Richtung Informatik bewegen.

Redeweisen der Informatik

Fangen wir mit Ihrem ersten Beispiel an: Man kann dies doch erweitern und sagen: Ziffern und Worte kann ich außer an die Tafel zu schreiben auch in einen Rechner tun, Zahlen und Begriffe nicht. Was tue ich denn, wenn ich sage 'Ich rechne'  bzw ,der Computer rechnet' oder ,der Begriff x ist wie folgt definiert'? Müsste ich sagen 'ich tue so als ob ich Zahlen hätte, bzw.  'ich tue so, als ob ich rechne'.

Ich weiß, meine Art von Bauchschmerzen sind in der einschlägigen Literatur seit etwa 30 Jahren bekannt. Es erinnert mich etwas an die Diskussion zwischen John Searle und John McCarthy über das chinesische ZimmerIch weiß nicht mehr genau, wie McCarthy auf die Searleschen Zweifel reagierte. McCarthy hatte mich auch nicht sehr überzeugt. Die Diskussion ist heute bestimmt weiter. Den Bezug zum Geist-Seele-Problem hatte ich in diesem Blog schon mal angesprochen, speziell Hofstadters Position.


Begriff der Abstraktion

Ein Teil meines (Verständigungs-) Problems scheint in der Unschärfe des Begriffs ‚Abstraktion‘ zu liegen. Mindestens die zwei Fälle A und B gibt es.

(A) Gruppenbildung oder Mengenvereinigung

Fasse ich die Begriffe, die gleich vorkommen, einfach als Namen von Mengen auf, dann würde ich schreiben:   
                
            Obst = Äpfel υ Birnen υ Erdbeeren υ Weintrauben  υ ...

Abgesehen davon, dass ich Mengen als Gift für Informatiker ansehe, hätte ich folgende weitere praktische Probleme:

(1) Ich kann die Menge nicht annähernd genau definieren. Erstens gibt es verschiedene Äpfel-, Birnen- und Traubensorten, die sich laufend ändern. Zweites gibt es mehr Äpfel oder Birnen, als ich zählen kann. (Nur bei Eiern hat man mit der Nummerierung einzelner Produkte begonnen.) Drittes werden laufend neue Obstsorten gezüchtet oder importiert, etc. Um den Begriff Obst maschinell abzubilden, benötige ich eine Art von unendlichem Speicher. Das wäre früher eine harte Grenze gewesen. Heute ist es schon leichter, sich dem anzunähern. Wir haben nämlich bald mehr Rechner als Gehirne. Das Problem besteht m.E. egal, ob wir uns auf Schemata konzentrieren oder Instanzen miteinbeziehen.

(2) Ich habe es mit nicht vergleichbaren Größen zu tun. Mal ist es sinnvoll die Stückzahl anzugeben, mal das Gewicht. Oft ist das einzig Verbindende die Möglichkeit der Preisauszeichnung (in der Ortswährung). Bisher haben Informatiker, wenn es um komplexe Objektstrukturen ging, die Hände hoch geworfen. Es kann sein, dass das Thema ‚Big data‘ zum Umdenken führt.

(B) Entkörperung oder Vergeistigung

Beim Beispiel Ziffer – Zahl geht es nicht um eine Art von Mengenvereinigung, sondern um eine Veränderung der Substanz. Ich begebe mich von der Realität in die Welt der Ideen (von Poppers Welt 1 nach Welt 2 oder 3). Statt etwas zum Anfassen, Zählen oder Messen zu haben, kann ich nur noch Denken, Grübeln oder Träumen. Es geht aus dem Reich der Ingenieure in das der Philosophen und Mathematiker (siehe oben).
  
In beiden Fällen denselben Begriff zu verwenden, ist verwirrend. Ist aber normal. Quatschköpfe sagten Sie dazu. Ich weiß auch, wie schwierig es ist, neue Begriffe (nicht neue Worte) einzuführen. Manche Leute helfen sich, indem sie Suffixes einführen, etwa Abstraktion-1 und Abstraktion-2. Wie gesagt, Differenzieren hilft, selbst beim Abstrahieren.

Nachbemerkung

Es hilft nicht viel, wenn man nur sagt, so ist es halt. Die Frage ist, ob es nicht bessere Denkmodelle als die Abstraktion gibt. Mit besser meine ich, – voreingenommen wie ich bin – besser mit Maschinen handhabbar. Dass das Erbe der Alten Griechen nicht verloren geht, und dass Immanuel Kant nicht in Vergessenheit gerät, ist nicht primär mein Problem. Dafür sorgen genug andere.

Noch am 8.4.2013 antwortete Hartmut Wedekind:

Sie haben recht. Es ist bekannt: Das Wort „Abstraktion“ ist höchst widersprüchlich, insbesondere wenn man auf die Wortgeschichte (Etymologie) eingeht. „abstrahere“ heißt „abziehen“ und auch „weglassen“.In den Wissenschaften darf man auf Etymologie nicht viel geben.

Mein Lateinpauker vor 60 Jahren regte sich schon immer über das Wort „Offensive“ im Sinne von „Angriff“  auf. „Wer das Wort ins Deutsche gebracht hat, der konnte kein Latein“ jammerte er. Und in der Tat : Im Lexikon (Stowasser) steht: offensio, offensionis, f.  = Unfall, Widerwärtigkeit.

Also: Wortgeschichte ist etwas für Historiker und Lateiner. Früher habe ich mich in der Mathematik auch über „sinus“ (=Krümmung) und dann auch „cosinus“ aufgeregt. Das ist mir vergangen (wie die „Liebe“ zum Lateinischen überhaupt).

Am selben Tag antwortete ich:

... ich betrachte Geschichte und Linguistik nur als große Schutthaufen. In Schutthaufen werden Archäologen immer zuerst fündig  aber das führt schon wieder vom Thema weg!

Nachtrag am 9.4.2013:

Eine dritte Bedeutung des Begriffs Abstraktion steht in dem bekannten Lehrbuch des Kollegen Goos [1]. Sie lautet sinngemäß (Abstraktion-3)

Bei den Anwendungen der Informatik kommt es oft nicht auf alle Eigenschaften der betrachteten Gegenstände an. Wir konzentrieren uns dann auf gewisse gemeinsame Eigenschaften, die für uns in der jeweiligen Situation die Bedeutung der Gegenstände ausmachen. Das nennen wir die Abstraktion des Gegenstands. Mit dieser Definition habe ich keinerlei Schwierigkeiten. Sie ist konstruktiv und nützlich.

Zusätzliche Referenz:

1. Goos, G.: Vorlesungen über Informatik, Band 1, Heidelberg 1995, Seite 2



Nachtrag am 11.4.2013:

Obwohl weit über 100 Leser zwischen Chile und Kasachstan diesen Beitrag in weniger als drei Tagen gelesen haben, hat sich niemand bemüßigt gefühlt, dem Kollegen Wedekind zu Hilfe zu kommen. Obwohl er ein Berufsleben lang als Informatiker gearbeitet hat, bereitet ihm meine Frage (wie er mit Zahlen statt Ziffern rechnen kann) offensichtlich Schwierigkeiten. Ich möchte ihm dafür keinen Vorwurf machen. Da er vorwiegend an Hochschulen tätig war, musste er bisher wie ein Mathematiker denken. Das war man der ‚Wissenschaftlichkeit‘ seines Faches schuldig. Dass er außerdem noch an Philosophen und Linguistiker denkt, macht ihm die Sache nicht leichter.

Um die Diskussion trotzdem zu einem gewissen Abschluss zu bringen, gebe ich nachfolgend meine Meinung zum Besten. Mathematiker denken zwar viel über Zahlen nach, sie rechnen jedoch wenig, und wenn, dann mit möglichst kleinen Zahlen. Sie tun dies abstrakt und im Kopf (Bitte fragen sie mich nicht, wie). Informatiker und Ingenieure können nur analog (also mit Größen) oder mit Ziffern- und Zeichenfolgen rechnen. Sie tun dies konkret, entweder auf Papier, mit dem Rechenschieber oder mit Maschinen. Ingenieure vermeiden Zahlen, wenn es irgendwie geht. Sie zeichnen lieber.

Bekanntlich prägte Leopold Kronecker  (1823-1891) den Satz, dass nur die ganzen Zahlen von Gott seien, alles andere sei Menschenwerk. Ob er dabei Menschen mit Mathematikern gleichsetzte, ist mir nicht bekannt. Mathematiker kennen bekanntlich außer ganzen noch die reellen (d.h. rationale und irrationale), sowie die imaginären und komplexen Zahlen. Solange die Analogrechner, wie z.B. Rechenschieber, dominierten, gab es keine Probleme der Semantik. Diese kamen mit Digitalrechnern.

Digitalrechner manipulieren nur Ziffern- und Zeichenfolgen. Mit ihrer Hilfe werden Operationen ausgeführt, die den Effekt haben, als ob der Computer rechne. Dabei müssen erhebliche Klimmzüge vollbracht werden. Entweder baut man spezielle Hardware (so genannte Addierwerke), mit denen alle wichtigen Operationen nachgeahmt werden, oder man legt entsprechende Tabellen an.

Am leichtesten ist es mit den als göttlich bezeichneten Ganzzahlen. Dass sie nicht unendlich groß werden können, ist verkraftbar. Nur eine von Mathematikern erfundene Programmiersprache mit Namen ALGOL tat so, als ob sie mit reellen Zahlen rechnen könnte. Alle anderen Sprachen waren ehrlicher und boten nur Dezimalzahlen oder Gleitkommazahlen an. Imaginäre und komplexe Zahlen mussten simuliert werden. 

Man interpretiert oder behandelt Ziffern (fast) so als ob sie Zahlen wären. Man darf diese Tätigkeit daher Rechnen nennen. Es ist nicht nur üblich, sondern auch zulässig. Der Effekt eines Gleitschirms ähnelt bekanntlich dem von Adlerflügeln. Daher spricht man in diesem Falle auch von Fliegen. In beiden Fällen handelt es sich um Analogien oder Metapher. Ich begebe mich damit bereits hart an der Grenze zur Wortklauberei und lasse es dabei bewenden.

Die oben erwähnten Analogrechner zogen bekanntlich den Kürzeren. Man kann damit nicht alle (für Mathematiker) interessanten Probleme angehen, etwa die höchstmögliche Genauigkeit für die Kreiszahl π ermitteln, oder die größte aller Primzahlen finden. Mittels Ziffernrechnern kann man diese Probleme sehr intensiv studieren. Für Ingenieure haben andere Probleme Vorrang.

PS: Bitte um Verständnis, dass ich das Thema Abstraktionen im Moment nicht weiter vertiefen will.