Montag, 15. April 2013

Zur Psychologie des Denkens

Wenn Sie dieser Titel etwas verwirrt, dann ist dies Absicht. Bei dem Versuch, das menschliche Denkvermögen zu erklären, gibt es verschiedene Ansätze. Einen mir bisher wenig vertrauter Ansatz liefert die moderne Psychologie. Er wird von Daniel Kahneman beschrieben, dem Autor des Bestsellers Schnelles Denken – Langsames Denken. Das Buch erschien im Jahre 2012 und umfasst 568 Druckseiten.

Der Nobelpreisträger Kahneman (*1934, nicht zu verwechseln mit Daniel Kehlmann) ist von Hause aus Psychologe, arbeitet aber ausgesprochen analytisch und wirtschaftsbezogen. Er hat mit seinen empirischen Untersuchen viel zur ökonomischen Entscheidungstheorie beigetragen. Man nennt diesen Zweig heute auch Verhaltens- und Neuroökonomie. Kahnemans Arbeit ist für mich in vieler Hinsicht eine Ergänzung zu Damasio, Edelman, Luhmann und Metzinger, auf die in diesem Blog teilweise in eigenen Beiträgen verwiesen wurde.

Bei jedem Fortschritt der Wissenschaft tragen Überlegungen wie die von Kahneman dazu bei, dass mit Illusionen oder Fehleinschätzungen aufgeräumt wird. In diesem Falle stechen drei besonders hervor:

(1) Es gibt nicht nur optische Täuschungen, sondern auch kognitive Fehlleistungen, die mindestens so wichtig sind. Sie werden hier als kognitive Verzerrungen bezeichnet. Das ist die Übersetzung des englischen Ausdrucks ‚cognitive bias‘. Die andern deutschen Übersetzungen, die bei ‚bias‘ mit anklingen, gehen bei dem Wort ‚Verzerrung‘ leider verloren, nämlich Vorurteil, Voreingenommenheit und Befangenheit.

(2) Der homo oeconomicus (hier als ‚econ‘ abgekürzt), der immer rational und selbstsüchtig handelt, ist eine unzulässige Vereinfachung durch die Wissenschaft. Er erklärt nur einen (geringen) Teil dessen, was die Wirtschaft über den Menschen (die ‚humans‘) wissen muss. Da ich diese Ansicht bereits bei mehreren Autoren (z.B. Stiglitz, Nida-Rümelin) ausführlich dargestellt habe, will ich dies hier nicht weiter vertiefen.

(3) Sehr interessant ist die Vorstellung, dass Menschen zwischen dem erlebenden und erinnernden Selbst gespalten sind. Das von der Erinnerung erzeugte Selbstbild weicht sehr von dem Selbstbild ab, das wir im Moment des Erlebens haben. Für Dauer und Zeit des Erlebten sind wir weniger sensibel als für seine Intensität und den Schlusseindruck.

Titel und Text des Buches konzentrieren sich auf Thema (1). Da diese Betrachtungen die genannten früheren Beiträge ergänzen, will ich vor allem auf sie eingehen. Kahnemans Modell des Denkens differenziert zunächst in Denken-1 und Denken-2. Genau genommen spricht er von System-1 und System-2, also nicht von unterschiedlichen Tätigkeiten, sondern von unterschiedlichen Komplexen. Er sieht zwei eindeutig verschiedene Charaktere oder zwei Ausprägungsformen des Denkens. Ob diese durch zwei getrennte Mechanismen oder Organismen realisiert sind, lässt er offen. Die Betrachtung ist hier rein logisch und phänomenologisch. Über die physikalische Realisierung muss nämlich bei Menschen die Medizin und bei Tieren die Biologie eine Klärung herbeiführen. Wie in anderem Zusammenhang erwähnt, ist Differenzierung ein wichtiger erster Schritt, um unsere Erkenntnis voranzubringen. Ich selbst spreche lieber von Denken-1 und Denken-2 als von System-1 und System-2, weil ich als Informatiker mit dem Begriff System bereits eine bestimmte Form der Realisierung verbinde. Ein einzelnes Informatik-System kann durchaus zwei oder mehr Arten von Output produzieren oder gleichzeitig mehrere Verhaltensmuster nachahmen.

Denken-1 ist schnell, intuitiv und assoziativ. Es ist voreilig, aber vielseitig. Denken-2 ist langsam, logisch und bewusst. Es kostet viel Anstrengung und will sich am liebsten nicht beteiligen. Es scheint zurückhaltend, ja faul zu sein. Soweit das Modell. Die als kognitive Verzerrung identifizierten Fehlleistungen gehen in der Regel zu Lasten von Denken-1. Als Beispiele kognitiver Verzerrungen benennt Kahneman die folgenden:
  • Ersetzung: Ist eine Frage nicht oder nur schwer zu beantworten, ersetzen wir sie unbewusst durch eine leichtere und beantworten diese. (Klassisches Beispiel: Obwohl nach der Qualität eines ihrer Produkte gefragt ist, entscheiden wir uns danach, ob die Firma des Herstellers uns sympathisch ist)
  • Halo-Effekt: Wenn uns schon mal ein Aspekt eines Objekts gefällt, gefällt uns auch meist der Rest. Der erste Eindruck wirkt nach, es sei denn man kann die Eindrücke ‚dekorrelieren‘. Es folgt daraus, dass die Reihenfolge, in der Fragen gestellt werden, die Antworten beeinflusst.
  • Verfügbarkeit: Intuitive Aussagen werden von der Verfügbarkeit von Informationen geprägt. Man benutzt am liebsten nur die Information, die schon da ist, obwohl zusätzliche Information dringend erforderlich wäre, um statistisch relevante Aussagen zu erhalten (Dominanz des Faktischen – so nannte dies ein früherer Kollege von mir).
  • Optimismus-Verzerrung: Auch wenn die Statistik dem widerspricht, glaubt man stets an gute Chancen. Es ist oft der Grund für jede Form von Risikobereitschaft. Es ist die Basis des Kapitalismus. Obwohl die Überlebenswahrscheinlichkeit von Firmenneugründungen in den USA nur 35% beträgt, glaubt dies niemand. Fast 90% aller Autofahrer glauben besser als der Durchschnitt zu fahren. Optimisten sind nicht nur glücklicher, sie haben auch die höhere Lebenserwartung.
  • Narrative Verzerrung: Wir versuchen immer aus der Vergangenheit eine kohärente und kausale Geschichte zu machen. Wir überschätzen unser Wissen über die Welt. Wir bemühen uns die Vergangenheit zu verstehen und weigern uns, Zufall als dominierend anzuerkennen. Wir erliegen leicht der Illusion der Gültigkeit. Die Kohärenz einer Geschichte verdrängt die Dürftigkeit von Daten. Das menschliche Gehirn ist ein sinnstiftendes Organ. Als Beispiel: Die Geschichte der Firma Google klingt überzeugend, obwohl sie so nicht vorhersagbar war.
Über kognitive Fehler Bescheid zu wissen, ist deshalb wichtig, weil es sich um systematische Fehler handelt. Unser Intellekt sucht nach Kausalität und Kohärenz und kommt mit Statistik schlecht zurecht. Wir haben kein intuitives Gefühl für statistische Wahrscheinlichkeiten. Wir neigen dazu die Ähnlichkeit mit einem Stereotyp höher zu bewerten (Beispiel: Wir halten jeden, den wir auf unserem Campus sehen und dem Stereotyp eines Nerds entspricht, für einen Informatik-Studenten, obwohl diese an einer bestimmten Hochschule sehr rar sein mögen).

Statistisch fundierte Aussagen müssen immer von der Basisrate ausgehen, d.h. von der a priori gegebenen Merkmalsverteilung in einer Population oder einer Gruppe. Zusätzlich hinzukommende Information kann nach der Bayes'sche Regel angewendet werden. Immer wenn Korrelationen zwischen Merkmalspaaren nicht perfekt sind, gibt es eine Regression zu Mittelwert bzw. zur Mittelmäßigkeit (so die statistische Theorie, die ich hier nicht erkläre!).

Unter Ökonomen herrschte lange die Annahme vor (und tut es teilweise heute noch), dass jeder Mensch rational und logisch denkt. War das nicht der Fall, dann nahm man an, dass Emotionen im Spiel seien. Maynard Keynes erklärte die Wirtschaftskrise der 1930er Jahre bereits teilweise auf diese Art. Er machte Angst und Panik mit verantwortlich. Neu im Denken der Ökonomen ist, dass es nicht allein die Emotionen sind, die im wirtschaftlichen Verhalten des Menschen eine Rolle spielen, sondern dass wir laufend systematische Fehler machen. Die Finanzkrise von 2008 gab diesem Denken neuen Auftrieb.

Die Art, wie sich menschliches Denken heute darstellt, lässt sich natürlich aus der Evolution begründen. Das Denken-1 enthält ein Modell der persönlichen Welt. Wir stellen sehr schnell Abweichungen und Übereinstimmungen fest. Im Rahmen von Denken-1 interpretieren wir die Gegenwart und die Zukunftserwartungen. Wir wetten basierend auf Erfahrung und Kontext. Es gibt zunächst weder Zweifel noch Alternativen. Das langsame, wohlüberlegte, rationale Denken-2 soll uns davor schützen, zu viele gravierende Fehler zu machen. Zunächst glauben wir, was wir sehen. Das Widerlegen kommt später. Wie weit die durch Denken-2 gewonnen Einsichten das Denken-1 verändern, ist eine interessante, weitgehend noch offene Frage.

Kahneman machte seine Experimente vorwiegend mit amerikanischen College-Studenten und israelischen Militärpiloten. Viele Ökonomen bezweifeln, dass sich Ergebnisse von studentischen Experimenten auf die Wirtschaft übertragen lassen. Dieses Argument bekommen auch Kollegen zu hören, die empirische Software-Forschung nur an Universitäten betreiben.

Fazit: Das Buch ist etwas langatmig und oft anstrengend. Es enthält jedoch viele interessante Fallstudien und damit verbundene Denkanstöße. Nach dem Lesen ist es klar, warum gerade dieser Psychologe 2002 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhielt. Dieser Preis wird von der schwedischen Reichsbank vergeben. Die Begründung lautete: "Für das Einführen von Einsichten der psychologischen Forschung in die Wirtschaftswissenschaft, besonders bezüglich Beurteilungen und Entscheidungen bei Unsicherheit.“

5 Kommentare:

  1. Noch am 15.4.2013 schrieb Peter Hiemann aus Grasse:

    Ich finde das Buch auch interessant. Die Einteilung der neuronalen Prozesse in schnell, intuitiv erfolgende (System 1 oder Denken 1) und langsam, rational erfolgende (System 2 oder Denken 2) macht eine Menge Sinn: "Der emotionale Schwanz wedelt mit dem rationalen Hund." Den Verdacht, dass System 2 zu Bequemlichkeit und Faulheit neigt, habe ich schon länger.

    Ich sehe Kahnemans Aussagen als Ergänzung zu Antonio Damasios Hypothesen zu Gehirnprozessen in dessen Buch "Selbst ist der Mensch". Meines Erachtens handelt es sich bei System 1 und System 2 um kooperierende Systeme. Einige sehr wesentliche Fähigkeiten (z.B. die Fähigkeit wahrzunehmen und zu erinnern) von System 1 werden uns in die Wiege gelegt. Fähigkeiten des Systems 2 müssen mühsam erarbeitet werden, bis sie schließlich "in Fleisch und Blut" übergehen, um intuitiv wirksam zu werden, d.h. als Gewohnheiten in System 1 integriert werden.

    Bei Edelmann und Metzinger habe ich viel über die höchst dynamischen Prozesse gelernt, die vermutlich unser Bewusstsein "begründen". Luhmann hat mir geholfen, einen allgemein anwendbaren Denkansatz für sich selbst organisierende Systeme durch fortlaufende Interaktionen zu verstehen. Sowohl Luhmann als auch Metzinger haben dazu beigetragen, meinem Horizont über Prozesse, die evolutionäre (auch emergente) Resultate hervorbringen können, zu erweitern.

    Ich hatte vorher schon die Vorstellung (ich kann die die Quelle momentan nicht angeben), dass unser Gehirn zu mindestens 80% mit Prozessen beschäftigt ist, die nicht in unser Bewusstsein vordringen. Das sind vor allem Prozesse der Sinneswahrnehmungen, der hormonellen "Steuerung" und der automatischen Ausführung von Muskelbewegungen. Aber auch angewöhnte Denkweisen und Tätigkeiten, sowohl nachteilige als auch vorteilige.

    Kahneman hat darüber hinaus gezeigt, wie weit unbewusste Gehirnprozesse, die genetisch und biologisch bedingt sind, auch unser Denken und Handeln beeinflussen. Mich interessieren noch viel mehr Gehirnprozesse, die durch die kulturelle Umgebung erworben sind und unsere bewussten Denkweisen und Tätigkeiten bedingen. Momentan geht mir ein Gedanke nicht aus dem Kopf: Wenn die Mehrzahl der Menschen es nicht schaffen, die Quote des bewussten willentlichen Denkens und Handelns willentlich erheblich zu vergrößern, wird die Menschheit früher oder später von der Umwelt dazu gezwungen werden.

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  2. Am 17.4.2013 schrieb Hartmut Wedekind aus Darmstadt:

    Frei nach Platon: "Denken ist ein Reden mit sich selbst“. Also hat Denken, ein Monolog, etwas mit Sprache zu tun und steht dem Dialog gegenüber. Im Buch „Dialogischer Konstruktivismus“ von Kuno Lorenz (de Gruyter 2009) werden beide, Monolog (unär) und Dialog (binär), behandelt. Man sollte „Monologe“ nicht isoliert behandeln.

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  3. Am 17.4.2013 schrieb Peter Hiemann aus Grasse:

    es gibt viele Arbeitshypothesen, die sich dem Thema widmen, wie das komplexe Gehirn, die Fähigkeit des Selbst-Bewusstseins und die Sprache des Homo sapiens aus evolutionären Entwicklungen hervorgegangen sein könnte.

    Die plausibelste Hypothese über die Entwicklung der kommunikativen Fähigkeiten des Homo sapiens habe ich bei Merlin Donald in seinem Buch „Triumph des Bewusstseins – die Evolution des menschlichen Geistes“ gefunden. Er unterscheidet vier Ebenen bzw. Schalen des Bewusstseins, die durch qualitativ verschiedene Typen der menschlichen Kommunikation geprägt sind:
    - im Zentrum befindet sich ein mentales System, das auf den Strom natürlicher Ereignisse auf angeborene Weise reagiert. Es ist noch nicht in eine Kultur eingebettet.
    - eine mimetische Matrix gibt die Grundregeln für Kommunikations- und Ausdrucksprozesse vor (nonverbale Kommunikation mittels Körperhaltungen, Gesten, Gesichtsausdrücke, etc.)
    - eine narrative Matrix ist ein höchst präzises und effizientes System, in dem Wissen mittels Erzählungen, Mythen und Traditionen weitergegeben wird.
    - Die äußere jüngste Schale der menschlichen Evolution dient dem Artikulieren und Darstellen von Wissen. Deren kognitive Funktionen benutzen leistungsstarke Medien, um formale, auf Symbolen basierende Denksysteme und gesellschaftliche Institutionen zu kreieren.

    Übrigens hatte Donald die seltene Gelegenheit, seine Thesen an der mentalen Entwicklung einer Person, die im Alter von 18 Monaten durch Krankheit Augenlicht und Gehör verlor, zu verifizieren. Diese Person (Helen Keller) entwickelte sich trotz gravierender Handicaps zu einer außergewöhnlichen Persönlichkeit.Nach Donald ist die wichtigste Lehre, die er aus einem außerordentlichen Lebensweg einer Person ziehen konnte, „die schlichte Einsicht, dass ein begabter und außerordentlicher Geist außerstande ist, die Basis symbolischen Denkens aus sich selbst heraus zu erzeugen. Einem isolierten Geist kommt einfach nicht in den Sinn, dass er Ereignisse und Objekte mit Begriffen fassen könnte. Damit er zu dem ungeheuren geistigen Zusatznutzen, den der Symbolgebrauch mit sich bringt, Zugang findet, muss er erst von außen programmiert werden, das heißt, durch eine bereits bestehende Kultur.“

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  4. Nearly everyone in my family read this book (I listened to it). We found that the simple fast-versus-slow division of thought processes matched our life experience, and that division seemed to agreeably fit into evolutionary theory. The reading resulted in an increase of humility to our expectations of personal objectivity. The author's grading experience with college papers was especially troubling. Calvin Arnason

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  5. Danke! Dieser Beitrag hat mir sehr geholfen! Ich hatte schon mal über die Albert Ellis "Irrationale Gedanken" gelesen und habe viel geübt aber von Kahnemann hatte ich noch nie was gelesen und seine Theorie hat mir gut gefallen.
    Vor allem hat mich das über die Basis der Kapitalismus überrascht: der Optimismus. Das stimmt ja absolut! Wir leben über unsere Möglichkeiten und das ist von der Gesellschaft eben gefördert.
    Ich leide an einer paranoiden Störung (jetzt geh ich damit ziemlich ok um und ist mir nicht peinlich es zu erkennen) und arbeite täglich an meiner Gedankensart sehr hart, damit ich meine paranoias erkenne und beherrsche. Und geht´s langsam gut. Professionelle Infos hab ich hier gefunden und haben meine Therapie gut ergänzt.
    Ich hoff es hilf euch auch! Weiter so mitm Blog, besser konnte es nicht sein.
    https://www.psycheplus.de/wissen/erkrankungen/paranoide-persoenlichkeitsstoerung
    LG,
    Rocío

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