Mittwoch, 3. April 2013

Dirk Wittkopp über Produktentwicklung, Informatik-Forschung und Hochschulen

Dirk Wittkopp (1959- ) ist seit November 2009 Laborleiter, genau genommen Geschäftsführer der IBM Deutschland Research & Development GmbH mit Sitz in Böblingen. Er ist der erste Informatiker mit Software-Kompetenz in dieser Position. Er trat 1986 in die IBM ein. Dort war er unter anderem verantwortlich für die Entwicklung von Software für die Finanzbranche. Sein Weg führte ihn danach über die IT-Beratung von Zentralbanken in Osteuropa und Asien zur Entwicklung und Standardisierung von so genannten Smartcards, wie sie heute vielfach bei Kreditkarteninstituten und Behörden im Einsatz sind. Er verantwortete darüber hinaus den Aufbau der europäischen Entwicklungsorganisation für den Geschäftsbereich Pervasive Computing. Aus letzterem entstand die bis heute marktführende Produktlinie WebSphere Portal. Wittkopp hatte an der TU Braunschweig Informatik studiert.



Bertal Dresen (BD): Sie leiten seit gut drei Jahren das Böblinger Labor der IBM. Das vor 60 Jahren vorwiegend für die Hardware-Entwicklung gegründete Labor hat heute seinen Schwerpunkt in der Software. Fangen wir trotzdem mit der Hardware an. Mir erscheint es, als ob Böblingen sich in einem sportlichen Wettkampf darüber befindet, wer die meisten Prozessoren in einen Rack unterbringen kann. Täuscht das oder ist da auch reales Geschäft dahinter? Welche technischen Probleme stellen zurzeit die größten Herausforderungen dar (Energieverbrauch, Kriechströme, Kühlung, Zuverlässigkeit, usw,)? Was wurde eigentlich aus der Cell Broadband Engine, die den Spielemarkt revolutionieren sollte? Wie passt dies mit QPACE zusammen, einem Supercomputer für das Forschungszentrum Jülich, der Tera-FLOPS-Leistung erreicht?

Dirk Wittkopp (DW): Der Wettkampf um Prozessoren pro Rack findet insofern statt, als die Performance des einzelnen Prozessors mit heutiger Technologie nicht mehr in dem Maße zu steigern ist wie in den letzten Jahrzehnten. Also entwickeln wir schon seit einiger Zeit Multi-Core-Systeme mit möglichst vielen Prozessoren, um weiterhin die System Performance steigern zu können. Die größten Herausforderungen dabei sind nach meiner Einschätzung neben dem Platzbedarf die Kühlung und der Energieverbrauch. Einer der vielen innovativen Ansätze dazu ist beispielsweise der Supercomputer SuperMUC des Leibnitz Rechenzentrums in Garching, für den wir gemeinsam mit dem Forschungslabor in Zürich eine neuartige, sehr effiziente Warmwasserkühlung entwickelt haben. Dabei haben wir Erfahrungen mit dieser Kühlungstechnik aus dem QPACE-Projekt nutzen können. Die Prozessor-Technologie in QPACE, die Cell Broadband Engine, steht zur Zeit nicht im Fokus der Entwicklung.

Neben der Prozessor-Entwicklung wird zur Zeit das Thema System-Architekturen wieder interessant. Für viele besonders anspruchsvolle Anwendungen, z.B. bei der intensiven Analyse großer Datenmengen aus der heutigen digitalisierten und vernetzten Welt, reicht die Leistung der traditionellen Allzweck-Systeme nicht aus. Deshalb entstehen momentan zunehmend hochintegrierte Spezial-Systeme oder Leistungsbeschleuniger, die eine bestimmte Aufgabe besonders schnell abarbeiten können. Auch im Böblinger Labor arbeiten wir an einem solchen System, dem DB2 Analytics Accelerator, der einem IBM Mainframe zur Seite gestellt werden kann und Abfragen an einen großen Datenbestand um ein Vielfaches beschleunigt. Die Herausforderung in diesem Kontext ist also weniger die Optimierung einer einzelnen Hardware-Komponente, als eher die optimierte Integration geeigneter Technologien für bestimmte Zwecke, sowie die Architektur des Gesamt-Systems. Dazu gehört neben der Hardware auch die für den Zweck geeignete und ebenfalls optimierte Software.

BD: Jetzt zur Software. Kristof Klöckner sprach in diesem Blog über Cloud Computing, Karl-Heinz Strassemeyer über Linux und Mainframes; außerdem gibt es noch VSE. Sie selbst hatten mit WebSphere zu tun. Wo liegen heute die Schwerpunkte der Böblinger Software-Entwicklung? Was ist fachlich besonders interessant, was zählt wirtschaftlich am meisten? Welche Rolle spielt die Zusammenarbeit mit SAP aus Walldorf?

DW: Die Böblinger Software-Entwicklung ist heute breit aufgestellt. Wir arbeiten inzwischen für fast alle Divisions der IBM Software. Schwerpunkte sind Information Management (DB2, Analytics, Data Warehouse Acceleration), Tivoli (Cloud Services Orchestration, System and Storage Management), WebSphere (Business Process Management, Enterprise Portals), Security (Internet Security Solutions, XForce Report) und Industry Solutions (Finance, Smarter Planet Solutions). Dazu kommt noch die Entwicklung von System-Software für die IBM Systems & Technology Group (Operating Systems, Virtualization Software).

Darüberhinaus haben wir einen neuen Arbeitsbereich im Böblinger Labor zum Thema Cloud Computing geschaffen. Wir leisten wesentliche Beiträge zur Entwicklung des Cloud Service Angebots der IBM, der sogenannten Smart Cloud Enterprise. Dieses Angebot der IBM Global Technology Services Organisation ermöglicht es unseren Kunden, nach Bedarf flexibel und schnell virtuelle Server und Storage aus der IBM Cloud zu beziehen. Natürlich nutzen wir in der Entwicklung dafür die hauseigenen Technologien und Komponenten aus der Software und der Systems Group.

Die Zusammenarbeit mit SAP ist durch die Nähe zu Walldorf ein zusätzlicher Schwerpunkt. Wir stellen sicher, dass SAP Software auf IBM Systemen optimal läuft, passen teilweise unsere eigene Software für SAP an, und stimmen uns als Industriepartner zusammen mit anderen Firmen für eine Vielzahl von Standards ab.

BD: Wenn Sie sich mit anderen Labors vergleichen, wo sehen Sie heute die Stärken und Schwächen Ihres Labors? Ich denke dabei sowohl an den Vergleich innerhalb der Firma als auch außerhalb. Was sind Ihre Vergleichsmaßstäbe? Ganz früher waren es einmal die Kosten. Aber das ist lange her. Welche Rolle spielen die neuen Entwicklungslabors der IBM in Indien, China, Israel, Polen und Russland? Gibt es eine Zusammenarbeit, und wie funktioniert die?

DW: Die herausragende Stärke des Böblinger Labors liegt in der Innovationskraft. Dabei geht es nicht nur um wesentliche Innovationen in den einzelnen Produktlinien, sondern zunehmend um die Entwicklung gesamtheitlicher Lösungen unter Nutzung und optimaler Abstimmung aller Komponenten, vom Chip bis zur Anwendungs-Software. Nur wenige IBM Labs weltweit sind dafür so gut aufgestellt wie das deutsche Team. Ein weiteres wesentliches Element der Innovationskraft ist die Nähe zu Kunden. In den letzen Jahren haben wir sogenannte Client-Facing Teams im Labor stark ausgebaut und uns so in vielerlei Hinsicht mit unseren Kunden vernetzt, so dass wir die Präsenz im starken deutschen und europäischen Markt für Innovation aus Kundensicht nutzen können.

Natürlich sind Kosten ein Standortnachteil für uns, vor allem im Vergleich zu dem neuen Labs in den Wachstumsländern China und Indien. Auf der anderen Seite eröffnet uns dieses globale Entwicklungsteam aber auch Möglichkeiten in vielen Projekten, die wir allein nicht hätten. Die Zusammenarbeit der Labs ist ausgezeichnet und funktioniert über globale Führungsrollen, sowohl im Management als auch in den technischen Führungsstrukturen.

BD: IBM war immer besonders stolz auf ihre großen Forschungslabors und ihre Wissenschaftlichen Zentren. Der Transfer von der Forschung zur Entwicklung war allerdings nicht immer ganz reibungslos. Bei Google erfolgt Forschung und Entwicklung angeblich in einem ‚hybriden‘ Ansatz. Ein Entwickler schiebt eine Forschungsphase ein, dann entwickelt er weiter. Löst das die Transfer-Problematik? Ist der Eindruck falsch, dass heute Apple und Google die eigentlichen Trendsetzer der Branche sind, nicht nur bei Methoden, sondern auch bei Produkten und Dienstleistungen? Inwieweit betreiben Sie eigene Forschung oder Grundlagenentwicklung in Böblingen? Wo kommen bei Ihnen die guten Ideen her für das Geschäft der Zukunft? Wie weit geht Ihre Eigenständigkeit  innerhalb des Unternehmens, z. B. bei der Auswahl von Projekten?

DW: Der Technologietransfer von den IBM Research in die IBM Development Labs funktioniert sehr gut. Im Vergleich zu früher arbeiten die Forscher und Entwickler  aber auch wesentlich enger in gemeinsamen Projekten zusammen. Neben der echten Grundlagenforschung betreiben die Research Labs außerdem zunehmend auch angewandte Forschung sehr nah am Markt. Die Development Labs wiederum engagieren sich mit ihren innovativen Projekten an der Technologie-Vorentwicklung. Dieses Modell hat sich für unser breites Produkt- und Dienstleistungs-Portfolio und das große Spektrum zwischen naturwissenschaftlicher Forschung und Lösungs-Entwicklung ausgezeichnet bewährt. Ein Vergleich mit Apple oder Google ist aus meiner Sicht nicht zielführend, da diese beiden Firmen mit ihren jeweiligen Geschäftsmodellen und ihren Produkten und Dienstleistungen im wesentlichen im Consumer-Segment positioniert sind. Für Business IT setzt IBM nach wie vor den Massstab in der Innovation. Ein Indikator dafür ist die Anzahl der Patent-Neuanmeldungen. Gemessen an US-Patenten, führt die IBM diese Rangliste seit nunmehr über 20 Jahren.

Ein weiteres besonders eindrucksvolles Beispiel für erfolgreichen Technologietransfer ist für mich der Watson-Computer. IBM Research hat dieses bahnbrechende Analyse-System als Technologie-Showcase entwickelt, um die Möglichkeiten zukünftiger Systeme im Kontext einer Alltagssituation aufzuzeigen, analog dem DeepBlue-Schach-Computer, der im Jahr 1997 den damals amtierenden Schachweltmeister Kasparov geschlagen hat. Das Watson-System ist im Februar 2011 gegen die zwei besten Kandidaten der US-Spielshow Jeopardy! angetreten und hat gewonnen. Dabei musste Watson äusserst komplexe Fragen in natürlicher Sprache (Englisch) analysieren und auf der Basis vorher „angelesener“ Texte, wie z.B. Zeitungen und Lexika, in kürzester Zeit beantworten und zudem aus den richtigen und falschen Antworten lernen. IBM Research konnte etliche bestehende Produkte der IBM Software Group und natürlich ein System der IBM Systems Group einsetzen. Der Analyse-Ansatz und die Lernfunktion waren jedoch Neuland. Die neue Technologie wurde unmittelbar nach dem Showcase an die IBM Software Group weitergegeben, die sie nun in enger Zusammenarbeit mit Kunden für den Markt aufbereitet. Heute arbeiten Watson-Systeme bereits im Testlauf im US-Gesundheitswesen zur Analyse von Behandlungsoptionen und im Finanzwesen zur Analyse von Anlageoptionen. Dieses Beispiel zeigt für mich sehr schön die Stärke unserer R&D-Struktur: Intensive Grundlagenforschung eines großen weltweiten Teams über einen längeren Zeitraum hinweg, Einbindung bereits existierender Produkte, Fokussierung der Forschung auf einen Meilenstein, Übergabe an ein Produkt-Entwicklungs-Team und enge Zusammenarbeit mit innovativen Kunden.

Im Böblinger Labor haben wir übrigens an den Grundlagen für Watson mitgearbeitet. Unsere Data Mining und Text-Analyse Experten haben die Integrations-Plattform für die Analyse unstrukturierter Daten (UIMA – Unstructured Information Management Architecture) mit entwickelt. Diese Plattform haben wir im übrigen im Sinne offener Innovation als Open Source dem Markt zur Verfügung gestellt.

Die Eigenständigkeit, innovative Arbeiten ausserhalb der eigentliche Produkt-Entwicklungsprojekte in einem Labor wie Böblingen zu leisten, ist nach wie vor gegeben. Natürlich sind dem schon rein aus Zeitgründen in der heutigen IT-Welt mit ihrem zunehmenden Innovations-Tempo, der Breite der IT-Technologie und den schnellen Entwicklungen im Markt enge Grenzen gesetzt. Aber mit dem richtigen Fokus, unter Einsatz bestehender Technologie und mit Blick auf den Markt, können wir die wichtigen Vorarbeiten für zukünftige Produkte leisten.

BD: Mit der Entwicklung ist ja der Produktzyklus nicht beendet. Wie weit und in welcher Form unterstützen Sie vom Labor aus den weltweiten Vertrieb Ihrer Firma? Welche Rolle spielt der Technologietransfer heute? IBM hatte dabei früher nicht nur an Kunden gedacht, sondern auch darüber hinaus. Ihre besondere Aufmerksamkeit galt z.B. den Hochschulen. Sehen Sie es (noch) als nötig an, dafür zu werben, was die Informatik als Fachdisziplin und Branche überhaupt leisten kann, sei es für Gruppen in der Gesellschaft (Alte, Behinderte) oder die Gesellschaft als Ganzes?

DW: Die Unterstützung des Vertriebs aus dem Labor heraus war schon immer wichtig, hat aber in den letzten Jahre zusätzlich stark an Bedeutung gewonnen. Die Gründe dafür sind vielfältig. Zum einen war es schon immer ein Grundsatz der IBM, nicht nur in den USA sondern global nah an den jeweiligen Märkten zu entwickeln, um lokal mit hohem technischen Wissen Unterstützung für Kunden leisten zu können und im Gegenzug Marktwissen in die Labs einfließen zu lassen. Vor allem aus diesem Grund, nicht nur wegen niedrigerer Kosten, haben wir neue Labs in den Wachstumsländern wie China und Indien gegründet. Das Prinzip gilt natürlich auch für ein Labor wie unseres in Europa. Die Marktnähe, neben Innovationskraft und erfolgreicher Projektdurchführung, wird aber im Rahmen der Globalisierung deutlicher als ein Teil unserer Daseinsberechtigung in Europa verstanden. Zum Markt gehören neben Kunden natürlich auch Business Partner, Universitäten, private Forschungseinrichtungen, Industrie-Verbände, und weitere Strukturen einer modernen Industrie-Gesellschaft.

Für uns in Deutschland ist das ein klarer Standortvorteil. Es gibt weltweit kaum einen anderen so diversifizierten, innovativen und erfolgreichen Markt wie bei uns. Wir haben deshalb in den letzten Jahren das Böblinger Labor gezielt für die Interaktion mit unserem Umfeld ausgebaut. Dazu gehört z.B. die Stärkung des Briefing Centers, die Gründung bzw. Erweiterung von sogenannten Lab-Services-Teams für Kundenprojekte, oder auch die zunehmende Zahl der sogenannten Lab Adcocates, d.h. Entwickler, die neben ihrer normalen Arbeit über längere Zeit hinweg einem Kunden als IBM-Labor-Ansprechpartner dienen.

Diese Tätigkeiten erlauben es uns natürlich in hervorragender Weise, den Beitrag der Informatik bzw. der Informations-Technologie zu den Herausforderungen der Wirtschaft und der Gesellschaft aufzuzeigen. Die zunehmende Durchdringung nahezu aller Bereiche unseres Berufs- und Privat-Lebens durch Informations-Technologie lässt aus meiner Sicht heute mehr Menschen die Bedeutung der Informatik erkennen. Dennoch glaube ich, dass wir erst am Anfang dieser Entwicklung stehen. Die dramatischen Veränderungen durch die schnell voranschreitende Digitalisierung der Welt werden noch nicht von Allen erkannt. Insofern müssen wir als Informatiker oder IT-Ingenieure weiterhin unseren Beitrag leisten, über die Chancen und Herausforderungen der Digitalisierung zu informieren.

BD: Wie Manfred Roux in seinem Interview in diesem Blog einräumte, ist es heute das primäre Ziel der IBM-Hochschulkontakte, Kenntnisse über IBM-Produkte zu verbreiten und Nachwuchs zu gewinnen. Sollte IBM  ̶  oder die Industrie ganz allgemein  ̶  nicht auch an Forschungsergebnissen interessiert sein? Angeblich scheitere dies daran, dass die Industrie nicht verstünde, was Informatik sei und was die hochschulbasierte Forschung überhaupt bringen kann. Ersteres dürfte bei Ihnen nicht zutreffen. Haben Sie konkrete Erfahrungen aus der Zusammenarbeit? Wie groß ist der Graben zwischen Hochschule und Industrie, was die Rolle der Forschung betrifft? Steht der Zwang zur Publikation immer im Konflikt  zur Sicherung von Erfindungen? Was können Hochschulen besser als die Industrie, was die Forschung anbetrifft? Was nicht?

DW: Natürlich wollen wir über unsere Hochschulkontakte weiterhin Nachwuchs gewinnen und IBM-Technologie und -Dienstleistungen bekannt machen. Der Transfer von Forschungsergebnissen der Hochschulen in die Industrie gewinnt aber aus meiner Sicht an Bedeutung. Ein besonderer Grund dafür ist, dass sich Hochschulen hervorragend als neutrale Plattformen für die Zusammenarbeit verschiedener Industriepartner anbieten. Ein wesentlicher Aspekt der Digitalisierung der Welt ist, dass Innovationen nur über enge Kooperation der IT-Anbieter und -Anwender entstehen. Ein anschauliches Beispiel ist etwa der Automobil- bzw. Mobilitäts-Sektor. Nicht nur dass moderne Fahrzeuge ohne ein hohes Mass eingebauter IT inzwischen unvorstellbar sind, sondern vor allem die zunehmende Vernetzung der Fahrzeuge in eine effiziente, aber auch komplexe Mobilitäts-Struktur erfordert gemeinsame Innovationen der Hersteller, der Zulieferer, der Dienstleister, sowie der IT-Anbieter. Die Anwender-Industrie erkennt dabei zunehmend die Bedeutung der Informatik und intensiviert die Zusammenarbeit mit Hochschulen im Bereich IT. Diese bieten vor allem junge, interessierte Menschen, die in der heutigen digitalisierten Welt aufgewachsen sind, und die im Rahmen ihres Studiums und mit den Möglichkeiten ihres Instituts wichtige Beiträge zur anwendungsorientierten Innovation leisten können. 

BD: Karl Ganzhorn, der inzwischen 92 Jahre alte Gründer und erste Leiter des Böblinger Labors, hatte sich 1972 mit einer Denkschrift an die Bundesregierung für die Einrichtung des  Informatik-Studiengangs stark gemacht. Sie selbst haben diese Ausbildung genossen. Hat sich das Berufsbild des Informatikers gefestigt? Wo würden sie gerne Änderungen bei der Ausbildung sehen? Ist die Betonung von Allgemeinwissen und Grundlagen wichtiger als berufliche Bildung? Neulich schrieb ein amerikanischer Kollege, dass jemand, der ein halbes Jahr bei Google oder Apple war, besser weiß, was Informatik ist, als wenn er vier Jahre in Harvard oder Stanford studiert hätte. Entspricht das nicht der deutschen Erfahrung mit den Dualen Hochschulen, den früheren Berufsakademien? Was halten Sie davon, dass der Master der Regelabschluss für Informatiker werden soll? Sollte sich die Industrie auch über Ausbildungsinhalte Gedanken machen? Wie finden Sie Bewerber, die außer Begabung auch Kreativität und Leidenschaft für ihren Beruf besitzen? Sind die von IBM propagierten ‚Talent Clouds‘ mehr als nur eine Verkaufsmasche?

DW: Wie schon oben beschrieben, hat sich aus meiner Sicht das Berufsbild des Informatikers weiter entwickelt. Es geht heute und in Zukunft nicht mehr nur um den Entwurf und Betrieb eines „Rechenzentrums“, das im Hintergrund, für die meisten Menschen unsichtbar, irgendwelche Dienstleistungen unterstützt. IT ist heute ein Teil des Alltags geworden und dadurch sehr viel sichtbarer als zu der Zeit, als ich Informatik studiert habe. Allerdings bleibt es eine Herausforderung, junge Menschen dafür zu interessieren, wie die moderne Technologie funktioniert, und nicht nur, wie man sie benutzt. Wie für jede komplexe, hochentwickelte Technologie gilt für die IT und das Fach Informatik, dass es einer anspruchsvollen Grundausbildung in Methoden bedarf, und einige Monate Arbeit in einem IT-Unternehmen allein noch keine ausreichende Grundlage für die professionalle Ausübung eines IT-Berufs darstellen.

Auf der anderen Seite ist nicht zu unterschätzen, wie rasant schnell sich die IT-Anwendungen und auch IT-basierte Geschäftsmodelle weiterentwickeln, was nur durch frühzeitige Mitarbeit in einem Unternehmen zu erfahren ist. Zu diesem Umfeld gehören für mich aber nicht nur die bekannten großen Firmen, sondern auch die zunehmend breitere Landschaft an IT-Startups, vor allem Firmengründungen direkt aus der Hochschulzeit heraus. Diese Kombination, anspruchsvolle methodische Ausbildung der Grundlagen der Informatik und frühzeitige Anwendung dieses Wissens auf IT-basierte Lösungen mit einem Geschäftswert in der realen Welt, sollten wir fördern.  Die Dualen Hochschulen sind durchaus ein guter Ansatz in diesem Sinne.

Insgesamt bleibt die Gestaltung der Ausbildungsinhalte sicher eine Herausforderung, vor allem weil die Breite der Themen in der IT zugenommen hat. Eine zu starke Spezialisierung halte ich allerdings nicht für sinnvoll,  damit ganzheitliches Denken erhalten bleibt. Wenn man dann in der Informatiker-Ausbildung noch Themen wie z.B. Projekt-Management, Arbeiten in globalen Teams, Qualität, Zuverlässigkeit und Sicherheit von IT-Systemen, Datenschutz, anwendungsgerechtes Design, Benutzer-Akzeptanz, und vieles mehr unterbringen möchte, wird die Zeit knapp. Das einzige wesentliche Optimierungspotential in der heutigen Informatik in Deutschland ist nach meiner persönlichen Erfahrung der hohe Anteil an Mathematik. Da die deutsche Informatik mehr aus der mathematischen Tradition hervorgegangen ist (im Vergleich z.B. zu der mehr Ingenieurs-orientierten Computer Science in den USA), ist der Mathematik-Anteil im Grundstudium im Hinblick auf die spätere Praxisorientierung aus meiner Sicht zu hoch und für den einen oder anderen prinzipiell Technik-Interessierten potentiellen Informatik-Studenten, der analog der obigen Aussage „ein halbes Jahr bei Google oder Apple“ etwas in der IT bewegen möchte, eher nicht motivierend.

Mit einem guten Mix aus fundierter Grundlagenvermittlung, Nähe zur Praxis in den Betrieben und Unterstützung eigener unternehmerischer Ideen, sollte das Informatik-Studium mehr junge Menschen in Deutschland anziehen. Wie oben schon gesagt, bin ich persönlich überzeugt, dass wir erst am Anfang der Möglichkeiten in der IT stehen. Es gibt noch viel zu tun und zu entdecken.

BD: Herr Wittkopp, haben Sie herzlichen Dank für die ausführliche Beantwortung meiner Fragen. Ich bin sicher, dass vor allem Kolleginnen und Kollegen an den Hochschulen einige Anregungen erhalten werden.

1 Kommentar:

  1. Am 3.4.2013 schrieb Otto Buchegger aus Tübingen:

    War interessant! Danke!

    Die IBM macht einen ganz großen Fehler bei der Vergabe der Diplomarbeiten, wurde mir von einem FH Professor mitgeteilt: Man darf sie nicht veröffentlichen! Deshalb lehnen viele die Zusammenarbeit mit der IBM ab.

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