In diesem Blog habe ich mich immer wieder mit historischen
Themen befasst. Über Zukunft zu spekulieren, liegt mir nicht. Es ist nämlich in
meinen Augen reine Spielerei. Je länger hinaus man projiziert, umso ungefährlicher
ist das Spiel. Ob die Vorhersagen richtig sind, stellt sich erst heraus, wenn entweder
die Vorhersage vergessen ist oder wenn man tot ist. Bei historischen Arbeiten dagegen
kann jemand auftauchen, der es besser weiß, oder es kann etwas gefunden werden,
was Historiker zwingt, die ‚Geschichte neu zu schreiben‘. Dieser Problematik voll
bewusst, habe ich mal wieder eine Zukunftsprojektion gelesen. Es handelte sich
um das im Oktober 2013 erschienene Buch ‚Die
neuen Großmächte‘ des SPIEGEL-Autors Erich Follath. Der Untertitel lautet
‚Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern‘. Die Überschrift des
heutigen Beitrags wäre eine etwas schreiendere Variante des Buchtitels. Obschon
Journalist, ist Follath (Jahrgang 1949) ein um Seriosität bemühter Autor. Er hatte
immerhin mit dem Thema ‚Einfluss der Politik auf die Massenmedien‘ promoviert.
Obwohl der englische Wirtschaftsanalyst Jim O’Neill
insgesamt fünf Länder durch die Abkürzung BRICS in das Rampenlicht der
Weltöffentlichkeit beförderte, befasst sich Follath nicht mit Russland und
Südafrika. Sie seien vernachlässigbare Sonderfälle, meint er. Für ihn bilden
lediglich Brasilien, China und Indien eine Liga vergleichbarer
Wirtschaftsmächte. Er hat diese drei Länder in den letzten 30 Jahren mehrfach
bereist. Das Buch versucht zu begründen, warum gerade diese drei Länder das
Potenzial haben, die USA und Europa in ihrer Rolle als Weltmächte abzulösen.
Wie einleitend angedeutet, halte ich jede derartige
Projektion in die Zukunft für ein Spiel. Wie bei jedem Glücksspiel besteht die
Chance Geld zu verdienen, sollte man Recht haben. Da man sich auch irren kann,
kann man genauso gut Geld verlieren. Ehe er seine Spekulation auf den Tisch
legt, beschreibt der Autor ausführlich, wie die Ausgangssituation ist und
welche Faktoren nach seiner Ansicht eine Hochrechnung beeinflussen können. Da
ich diese drei Länder zwar nur als Tourist kennengelernt habe, finde ich einige
der von Follath vermittelten Einsichten durchaus interessant. Ich will niemanden
vom Lesen des Buches abhalten. Ich werde daher nur diejenigen Einsichten
wiedergeben, die eher etwas unerwartet sind. Zur Illustration der drei Länder verwende
ich Fotos von eigenen Reisen. Ich stelle an den Anfang eine vergleichende
Statistik, die in dieser Form nicht im Buche steht.
Die Ausgangssituation drückt sich teilweise in den Zahlen
der obigen Tabelle aus. Brasilien, China und die USA verfügen über
vergleichbare Landmassen. China und Indien verfügen über das größte Reservoir
an Arbeitskräften. Der Lebensstandard, ausgedrückt sowohl im Bruttoinlandsprodukt
(BIP) wie im
Human Development Index (HDI), ist in
Europa und den USA am höchsten.
Zeichen an der Wand
Zuerst einige allgemeine Aussagen, soweit sie die aktuelle
Entwicklung beschreiben. In den drei Ländern wächst die Wirtschaft schneller
als im Rest der Welt. Das stärkste Wachstum der Bevölkerung erfolgt in den
folgenden Ballungsräumen: Schanghai, Bejing, Tianjin, Sao Paulo, Guangzhou,
Shenzhen. Rio de Janeiro und Mumbay. Sie liegen alle in den drei genannten
Ländern. Von London, Tokio, New York und Los Angeles redet niemand mehr, wenn
es um urbane Dynamik geht.
Wie in einem früheren
Beitrag dieses Blogs beschrieben, erstreckt sich Chinas wirtschaftliche
Expansion nicht nur auf die Gewinnung von Rohstoffen, etwa in Afrika, sondern
auch auf industriellen Besitz. Der Hafen von Piraeus und die schwäbische Firma
Putzmeister sind die Beispiele. Indien griff nach renommierten Automarken wie
Jaguar und der Windenergietechnik von Repower. Brasilien eignete sich der Welt
größte Brauerei-Konzerne an (Anhaeuser Busch).
Beispiel Brasilien
Brasilien zeigt seine Muskeln gerne als ein führender
Ernährer der Menschheit. Es exportiert Mais, Soja, Kaffee und Rinder. Seine
Erdölreserven sind beachtlich. Die Industrie ist noch sehr von Importen
abhängig. In Sao Paulo soll es 500 Niederlassungen deutscher Firmen geben.
Viele von ihnen produzieren für den Vertrieb in ganz Südamerika. Mit Embraer besitzt
Brasilien den drittgrößter Flugzeugbauer der Welt. Brasilianische Firmen seien
zunehmend in Afrika, besonders in Angola und Mozambique, engagiert.
In Salvador de Bahia 2004
Mit der Fußball-WM 2014 und den Olympischen Spielen 2016
stehen große Medienereignisse bevor. Es ist eine große Aufgabe, sie sauber hinzukriegen.
Schon wurden 10% der Armenviertel (Favelas) befriedet. Danach kann es entweder
zu weiterem Auftrieb staatlicher Maßnahmen führen, oder aber zu einer großen
Erschlaffung. Die noch relativ starke katholische Kirche muss sich sozial und
ökologisch engagieren, wenn sie nicht Gefahr laufen will, weiter Terrain an
Sekten (protestantische Pfingstler, afrikanischer Candomblé) zu verlieren.
Beispiel China
China besitzt die zwei größten Unternehmen der Welt (eine
Bank, einen Elektrokonzern). Das Land ist nicht nur größter Geldgeber der USA.
Mit seinen Devisen könnte es alle DAX-Firmen aufkaufen, wenn es über das Geld frei
verfügen könnte. Der Wert seiner Devisen hängt nämlich davon ab, was das Land mit
seinem Reichtum tut. Anders ausgedrückt, das Land ist durch seinen Reichtum
gelähmt.
In Wuxi 1986
China hat die größte Wohlstandssteigerung in seiner
Geschichte erreicht. Es soll 161 Milliardäre geben, davon 25% in Hongkong, Das
soziale Gefälle ist enorm. Ob sich das politische System auf Dauer halten kann,
wird (vor allem von Westlern) bezweifelt. Zurzeit stellt es sich als ‚Kapitalismus
ohne Wahlen‘ dar, der den ‚chinesischer Traum‘ realisieren will, nämlich eine
Gesellschaft in Harmonie. Die Peinlichkeiten, die bei dem gerade erfolgten Machtwechsel
zu den ‚Prinzlingen‘ (Bo Xilai und Xi Jinping) zutage traten, deuteten auf
Schwächen im System hin. Auch die Staubbelastung in Peking und die
Umweltprobleme in Teilen des Landes stellen die Partei vor große
Herausforderungen.
Die chinesischen Firmen haben die Wirtschaftskrise 2008 dank
staatlicher Hilfe recht gut gemeistert. Der Markt für Billigprodukte entwickelt
sich schlecht. Die Frage ist, wie schnell technisch anspruchsvolle Produkte
chinesischer Herkunft an ihre Stelle treten. Chinas größter Elektrokonzern
(ZTE) verdrängte bereits Panasonic bei der Zahl der Patentanmeldungen.
Während durch die Kulturrevolution ein Bruch mit dem eigenen
geistigen Erbe (Konfuzius, Laotse) erzwungen wurde, ist dieses heute rehabilitiert
und wieder hoch im Kurs. Probleme bestehen an den Rändern des Landes (Tibet, Xingjiang).
Die Kommunisten bemühen sich durch Hebung des Wohlstands Sympathien bei den
ethnischen Minderheiten dieser Regionen zu gewinnen.
Beispiel Indien
Indien bezeichnet sich voller Stolz als die zahlenmäßig
größte Demokratie der Welt (über 700 Mio. Wahlberechtigte; 364 Parteien). Im
Vergleich zu China hat das Land deshalb sowohl Vorteile wie Nachteile. Die
Regierung ist zu vollständiger Offenlegung aller Verwaltungsmaßnahmen
verpflichtet (Right of Information Act). Andererseits können sich
parlamentarische Verhandlungen in die Länge ziehen. Das größte Problem ist
jedoch die Qualität der Verwaltung, also die Umsetzung von
Regierungsbeschlüssen. Korruption ist allerorten und nicht weg zu bekommen.
In Varanasi 1996
Die Gesellschaft Indiens wird vom Kastensystem des
Hinduismus geprägt. Extremer Reichtum und Slums existieren nebeneinander. Mit
den Muslimen, die mit 14% die größte religiöse Minderheit darstellen, kommt es
immer wieder zu Gewaltausbrüchen innerhalb der Städte. Hindus und Muslims
unterscheiden sich wenig, was die Rolle von Frauen betrifft. Rückständiger geht
es kaum.
Unsicherheit und Zweifel
Follath lässt zwei berühmte
Gewährsleute ein Urteil abgeben. Amartya Sen, dem Wirtschafts-Nobelpreisträger
aus Bangladesch versucht er ein Urteil über Indiens Zukunft zu entlocken. Der
hält sich sehr zurück. Demgegenüber ist Lee Kuan Yew, der frühere Bürgermeister
von Singapur, sehr optimistisch, wenn um Chinas Zukunft befragt. Chinesen
arbeiten und lächeln, meint Lee. Nicht nur das BIP alleine sollte man ansehen,
meint Sen. Auch Wohlstand, Bildung, Gesundheitsversorgung und bürgerliche
Rechte sollten betrachtet werden. Dann sind sowohl Indiens wie Chinas Wege noch
sehr lang. Sen hat bekanntlich die Definition des HDI stark beeinflusst.
Die Hauptgründe, warum mit den USA noch eine Weile zu
rechnen sei, seien der Dollar und das Militär. Auf den Geheimdienst NSA geht er
nicht eigens ein. Man kann ihn als Teil des Militärs ansehen. Wegen der
Ölgewinnung durch ‘Fracking‘ erlebe das Land eine Sonderkonjunktur. Wenn die Globalisierung
Erfolg hat, dann bestimmt nicht unter amerikanischer Führung – das ist Follaths
Überzeugung und Botschaft. Dass er hier noch das Wörtchen ‚wenn‘ benutzt, zeigt
wie unsicher er im Grunde ist.
In Bezug auf Wirtschaftsstärke sieht er im Jahre 2025 China
vor Indien und Brasilien. Was die technischen und kaufmännischen Talente und die
Rechtssicherheit betrifft, ist noch für eine Weile mit Europa und den USA zu
rechnen. Europa ist am schlimmsten von der Überalterung seiner Bevölkerung
betroffen. In puncto sozialem Ausgleich ziehen wir aber allen andern
Weltregionen davon. Wie als Trost für seine Leser hat Follath eine tolle
Nachricht am Schluss. Für ihn heißt der Gewinner des Spiels – sie hätten es
nicht vermutet – Deutschland. Der Grund: Wir können es besser mit den Chinesen
als alle andern. Außerdem sind wir bereits in Indien vertreten (SAP in
Bangalore) und in Brasilien (BMW, Mercedes und VW). Die Qualität unserer
Patente (und der amerikanischen) sei besser als die der Chinesen (Wer mag ihm
das wohl geflötet haben?). Schließlich seien bezüglich Lebensqualität die
Städte Wien, München, Berlin und Zürich immer noch an der Spitze der Welt.
Wie gesagt, das Alles ist ein Ratespiel. Wer immer
Projektionen in die Zukunft machte, musste feststellen, dass die Zukunft menschlicher
Geschichte nicht allzu viel von Extrapolationen hält, egal ob sie linear,
exponentiell oder hyperbolisch erfolgten. Sie hat eine Vorliebe für
unvorhergesehene Ereignisse.
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