In der Zeit zwischen dem 22. und 25.5.
haben 28 EU-Länder ein neues, so genanntes Parlament gewählt. Ich mache
absichtlich eine Einschränkung bei der Benutzung des Begriffs Parlament, weil
dieses Parlament nicht die vollen Funktionen einer Volksvertretung besitzt. Das
Bundesverfassungsgericht sieht dies bekanntlich auch so. Bekannte
Einschränkungen sind, dass es weder Gesetze initiieren kann, noch aus seiner Mitte eine
Regierung bilden kann, noch seinen Sitzungsort selbst wählen kann. Daran wird
sich in naher Zukunft auch nichts ändern. Trotzdem ist es interessant, einige
der nach der Neuwahl anstehenden Fragen zu stellen, etwa diese: Welche Folgen
wird diese Wahl in Europa haben? Welche Initiativen seitens der EU sind zu erwarten? Was wird sich für uns EU-Bürger ändern? Wie
geht es weiter mit dem Projekt Europa?
Wahlverlauf und Wahlergebnis
Zum ersten Mal bestimmten die Kandidaten
für das Amt des Präsidenten der EU-Kommission den Wahlkampf. Martin
Schulz und Jean-Claude Juncker tourten
durch ganz Europa und bestritten diverse Talkshows. Die Wahlbeteiligung lag
geringfügig höher als 2009. Das betraf vor allem Litauen und die beiden
Krisenländer Griechenland und Zypern, aber auch Deutschland, wo in einigen
Ländern gleichzeitig Kommunalwahlen stattfanden. Im Gesamtergebnis liegt die
EVP an der Spitze, die Juncker als ihren Kandidaten nominiert hatte. Schulz
sträubte sich (so wie 2005 sein Parteifreund Gerhard Schröder) zunächst gegen
die Niederlage. Er lenkte jedoch innerhalb weniger Tage ein und ließ Juncker
vom gesamten Parlament zum Wahlsieger erklären.
Das Besondere am Wahlergebnis ist der
starke Zuwachs europa-kritischer Parteien in vielen Ländern. In Frankreich
erreichte der Front National (FN) von Marine Le Pen glatte 25% und wurde zur
stärksten Partei des Landes. In England verdoppelte Nigel Farage den Anteil der
Stimmen für die Unabhängige Partei (UKIP) auf 27,5%. Sowohl UKIP wie der FN fordern
den Austritt ihres Landes aus der EU. In Österreich gewann die Freiheitliche
Partei (FPÖ) fast 20% der Stimmen. In Griechenland liegt die linke
europa-feindliche Partei Syriza vorne (26,6%). In Deutschland hat es die
Alternative für Deutschland (AfD) von Bernd Lucke und Hans-Olaf Henkel geschafft
von null auf 7% zu gelangen. Die AfD verlangt die Abschaffung des Euro bzw. die
Spaltung in einen Nord- und Süd-Euro, will aber die EU beibehalten. Zusammen
erhielten die europa-kritischen Parteien 119 der 751 Abgeordnetensitze (15,8%)..
Bildung der neuen Exekutive
Gemäß dem Vertrag von Lissabon von 2007 wird der Präsident der Kommission vom Ministerrat
vorgeschlagen und vom Parlament gewählt. Dass sich das Parlament so schnell
einigen konnte, ist ein Indiz dafür, dass die Schwierigkeiten für die Bildung
einer Exekutive ganz wo anders liegen. Als Exekutive (ein Begriff der im
besagten Vertrag nicht vorkommt) bezeichne ich die gesamte Kommission inklusive
Außenbeauftragtem sowie den Ratspräsidenten.
Es war David Cameron, der britische Premierminister,
der angesichts der Europa-Müdigkeit in seinem Lande davor warnte, so weiter zu machen
wie bisher. Es müssten effektive Maßnahmen zum Abbau des Brüsseler Wasserkopfs
ergriffen werden. Das könnten aber nicht Leute, die wie Juncker und Schulz mit
dem bisherigen System verwachsen sind. Es müssten neue Leute her. Alles andere ignoriere
den Wählerwillen. Dem scheinen sich der Ungar Viktor Orban, der Holländer Mark
Rutte und der Schwede Fredrik Reinfeldt anzuschließen. François Hollandes Reaktion ist mir nicht bekannt. Angesichts
dieser Diskussion hat Bundeskanzlerin Merkel Abstand davon genommen, den
EVP-Kandidaten Juncker um jeden Preis durchzusetzen. Da sie dafür vor allem von ihrem deutschen
Koalitionspartner, der SPD, kritisiert wurde, hat sie inzwischen zu Junckers Gunsten umgeschwenkt.
Der Ministerrat hat den derzeitigen Ratspräsidenten Herman Van Rompuy beauftragt
zu sondieren, Er soll bis Ende Juni sowohl eine inhaltliche Strategie für die
nächste Legislaturperiode unterbreiten, sowie Vorschläge für das Führungspersonal,
das diese Strategie implementieren kann. Das klingt nicht schlecht. Man muss
fragen, warum diese Arbeit nicht bereits vor der Wahl zumindest teilweise
gemacht wurde. Die Antwort: So funktioniert die Europa-Politik leider nicht. Erst die
Wahl hat die Fakten geschaffen, die dazu führen, dass einige Leute mit dem
Nachdenken beginnen. Im Folgenden will ich einige Gedanken formulieren ähnlich
denen, die möglicherweise auch Herman Van Rompuy durch den Kopf gehen werden.
Mögliche Strategien für die Exekutive
Die Aufgabe einer Exekutive ist es,
Fakten zu schaffen. Im Falle der EU-Kommission werden ihre Aufgaben primär von
den Mitgliedsstaaten festgelegt. Deren Organ ist der Ministerrat. Alle
bisherigen Verhandlungen deuten in Richtung einer Großen Koalition für die
nächsten fünf Jahre, d.h. einem ausbalancierten Geschäft zwischen Konservativen
und Sozialisten. Rein zufällig lassen sich damit auch die deutschen politischen
Verhältnisse sehr gut abbilden. Mit Ausnahme der in Hamburg erscheinenden
Wochenzeitung Die Zeit hat
bisher kein Beobachter die Sichtweise von David Cameron und seinen
nordeuropäischen Verbündeten ernst genommen. Sie fordert den ‚Reset‘ (auf Deutsch:
Neustart) der EU-Politik. Als Begründung wird angegeben:
Eine EU ohne Großbritannien wäre eine
Schneckenhaus-EU. Bieder, protektionistisch, selbstgefällig und ohne ein
notwendiges häretisches Korrektiv. Es wäre eine EU zum Davonlaufen.
Um der britischen Gefühlslage
entgegenzukommen, muss die EU die Achtung, wenn nicht sogar die
Wiederherstellung nationaler Rechte demonstrieren. Am schönsten wäre es, sie
könnte gleichzeitig ihre Brüsseler Verwaltung reduzieren. Das wäre deutlich überzeugender
als nur von der Verringerung von ‚Bürokratie‘ zu reden, also dem, was Edmund Stoiber
als soziale Altersleistung versprochen hatte. An die Stelle von ‚mehr Europa‘
also mehr Bürokratie, träte der Abbau von Bevormundungen.
Die Kompetenz der EU-Kommission, und
folglich ihre Chancen, liegen bei den Aufgaben, bei denen es Nationalstaaten
heute schwer haben. Der Schutz der Umwelt und die Sicherung der
Energieversorgung sind naheliegende Beispiele. Aber auch der Schutz europäischer
Verleger gegen Google und Facebook, oder auch der Schutz kontinental-europäischer
Bürger gegen amerikanische und chinesische staatliche Überwachung kann nur die
EU wirkungsvoll betreiben. Einzelstaaten fühlen sich schnell überfordert.
Wieweit diese Forderungen berechtigt sind, ist eine andere Frage, die zu
diskutieren sich lohnt.
Die anstehenden Verhandlungen über das Transatlantische
Freihandelsabkommen (TTIP) bieten
sich an, um die Rolle der EU-Kommission in neuem Licht erscheinen zu lassen.
Nicht nur der Datenschutz kann hier vertraglich geregelt werden, auch die
Behandlung gentechnisch veränderter Lebens- und Futtermittel. Die Hauptgefahr,
die man bei einem engeren Schulterschluss zwischen EU und USA nicht außer Acht
lassen darf, ist die vermehrte Angst, die sich in Osteuropa, Südamerika, Afrika
und Asien einstellen kann bezüglich einer drohenden Hegemonie.
Die Einschaltung der EU-Kommission bzw. ihrer
Außenvertreterin bei politischen Krisen war bisher alles andere als ein Erfolg.
Sowohl in Afrika (Libyen, Mali, Zentralafrikanische Republik) wie in Osteuropa
(Georgien, Ukraine) war ihre Rolle entweder marginal oder unglücklich. Hier ist
überall entweder die USA in besonderer Weise gefordert, oder die früheren
Kolonialmächte England und Frankreich spielen noch gerne eine Sonderrolle. Die Aufnahme
neuer Mitglieder in die EU rückt immer mehr in weite Ferne.
Mögliche Themen für das Parlament
Die Möglichkeiten des EU-Parlaments
beschränken sich darauf, alle möglichen Themen zu diskutieren. Dazu gehören alle
von der Kommission beschlossenen, eingeleiteten oder durchgeführten Aktionen.
Auch von außerhalb der Kommission kommend, gibt es eine Vielzahl von Themen,
die das Parlament beschäftigen kann und soll. Ich erwähne die
Migrationsproblematik, die zwei unterschiedliche Dimensionen hat. Einmal geht
es um die Wanderung innerhalb der EU, also von Rumänien und Bulgarien in die
reichern Länder. Zum andern geht es um die Wanderung von außen in die EU,
hauptsächlich über das Mittelmeer. Es gibt für beides keine leichten Antworten,
umso wichtiger ist die Diskussion. Weitere sehr universelle Probleme sind die
Zunahme der Verstädterung, die Versteppung landwirtschaftlich nutzbarer
Flächen, sowie die Verseuchung der Luft und der Böden mit der daraus
resultierenden Gefährdung der Nahrungsmittel.
Ein spezielles Thema möchte ich
hervorheben, dem sich das EU-Parlament unbedingt stellen muss. Ihm gehören
jetzt über 100 Abgeordnete an, deren Ziel es ist, die dem Parlament zugrunde
liegende gesetzliche Ordnung zu verändern. Andernorts gilt dergleichen als
Subversion und Hochverrat. Die EU besitzt keine Möglichkeit, die von diesen
Abgeordneten betriebenen subversiven Tätigkeiten zu verhindern. Insbesondere
besteht keine Möglichkeit, ihnen das Mandat zu entziehen, wie dies Adolf Hitler
mit den kommunistischen Abgeordneten nach dem Reichstagsbrand von 1933 tat. Es
besteht nur die Möglichkeit, sich mit ihnen argumentativ auseinander zu setzen.
Sie zu ignorieren reicht nicht. Man muss die Widersprüchlichkeit in ihren politischen Ansichten und in ihrem
Verhalten thematisieren. Man muss klar machen, dass es marginale Ansichten
sind, die nicht das Interesse der Öffentlichkeit verdienen. So muss man z.B.
darauf hinweisen, welchen Dienst die UKIP der Wissenschaft ihres Landes
erweist, indem sie effektiv die Vergabe von EU-Fördermitteln an britische
Einrichtungen unterbinden will. Auch kann man eine Abstimmung herbeiführen, bei
der Deutschlands Austritt aus der Euro-Zone zur Wahl steht, so wie dies von der
AfD gefordert wird.
Mögliche Fortschritte des Projekts
Europa
Von Friedrich Merz und Wolfgang Clement
beeinflusst, hatte ich im August 2012 die Frage gestellt: Wieviel Europa darf es denn sein? Ich hatte die Diskussion nach elf Themengebieten
strukturiert.
- Außen- und Entwicklungspolitik
- Verteidigung, Verbrechen und Migration
- Währung, Finanzen und Steuern
- Wirtschaft und Technologie
- Energie und Klima
- Landwirtschaft und Verbraucherschutz
- Forschung und Wissenschaft
- Industrie- und Verkehrspolitik
- Sozial- und Gesellschaftspolitik
- Gesundheits- und Drogenpolitik
- Bildungs-, Sport- und Kulturpolitik
Es ist nicht davon auszugehen, dass die
größeren EU-Länder wie Deutschland, England und Frankreich weitere wesentliche
Verantwortungen auf diesen Gebieten an Brüssel abgeben möchten. Eine
differenzierte Betrachtung kann daher nur weiterhelfen. Das Prinzip der Subsidiarität muss konsequent
zur Anwendung kommen. Dabei ist Sensibilität für Stimmungslagen etwas, was
Europa-Politiker noch mehr als andere benötigen.