Donnerstag, 5. Juni 2014

Klaus Küspert über Praxisbezug und Mentoring, am Beispiel der Jenaer Informatik

Klaus Küspert ist Professor für Informatik und seit 1995 Inhaber des Lehrstuhls für Datenbanken und Informationssysteme der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Zwischen 1985 und 1994 arbeitete er zunächst im Bereich Advanced Information Management (AIM) am damaligen Wissenschaftlichen Zentrum Heidelberg (WZH) der IBM Deutschland; später leitete er dort das Institut für Datenbanken und Software Engineering (IDSE). Ab 1990 hatte er parallel zu seiner IBM-Tätigkeit Lehraufträge an der Universität Mannheim, der TU Chemnitz und der Universität Jena. Seit 2004 ist Klaus Küspert ein Fellow der Gesellschaft für Informatik (GI), damals als erster GI-Fellow in den neuen Bundesländern. Küspert studierte Informatik mit Nebenfach „Betriebliche Anwendungen“ an der TH (heute TU) Darmstadt und wurde 1985 im Fachbereich Informatik der Universität (heute TU) Kaiserslautern bei Theo Härder zum Dr.-Ing. promoviert. Zu seinen weiteren akademischen Lehrern in Darmstadt zählten, mit unterschiedlichem Fachumfang, u.a. Hartmut Wedekind, David Parnas, Robert Piloty, Heiner Müller-Merbach und Bert Rürup.


  
Manfred Roux (MR): Klaus, Du bist seit 1995, im 20. Jahr nun also, in Forschung und Lehre an der Friedrich-Schiller-Universität Jena tätig. Damit gehörst Du fast von der Wende an zu den westdeutschen Wissenschaftlern, die an den ostdeutschen Hochschulen früh aktiv wurden und den Übergang vom ostdeutschen zum gesamtdeutschen Hochschulsystem begleitet und gestaltet haben. Wie stellte sich die Situation damals für Dich dar? Was waren die bemerkenswertesten positiven Erkenntnisse? Was waren die Schwierigkeiten? Gab es prägende Persönlichkeiten vor Ort in jenen Jahren?

Klaus Küspert (KK): Ich hatte mich 1993 in Jena und auch in Ilmenau beworben. Ilmenau war für mich reizvoll, insbesondere, weil mein Vater dort lange vor dem 2. Weltkrieg studiert hatte, aber Jena war schneller. Ab 1994 war ich dann, neben der Tätigkeit für IBM in Heidelberg, schon Lehrbeauftragter in Jena und 1995 richtig vor Ort. Die wesentlichen strukturellen Änderungen vom DDR- auf das gesamtdeutsche Hochschulsystem waren zu dem Zeitpunkt in Jena schon weit vorangeschritten. Sie waren also  ̶  vielleicht zügiger als an manch anderen Hochschulstandorten  ̶  sehr bald nach der Wende in Angriff genommen und in der ersten Hälfte der 1990er weitgehend umgesetzt worden.

Eine Informatik-Persönlichkeit, der Jena nach der Wende wesentlich mit zu verdanken hat, dass es dort nun einen Informatikstudiengang gab und ihn ja bis heute gibt, war der leider 2013 verstorbene  (und auch in diesem Blog gewürdigte) Gerhard Krüger aus Karlsruhe. Er war als renommierter „Westprofessor" in bedeutenden Kommissionen Anfang der 1990er in Jena und überregional tätig und setzte sich für die Informatik in Jena ein (in den 1950ern hatte er selbst mehrere Jahre in Jena studiert). Krüger engagierte sich in den 1990ern in Thüringen auch für die Ilmenauer Informatik und Telematik. Beide Informatikstandorte, Ilmenau und Jena, würdigten ihn in den 2000ern mit der Ehrenpromotion  ̶  Jena war aber, wieder etwas schneller.

Die Jenaer Informatik hatte darüber hinaus natürlich auch aus sich heraus prägende Persönlichkeiten im Umstellprozess des Hochschulsystems, der Mathematische Kybernetiker und Informatiker Gerd Wechsung ist dabei besonders zu nennen. Und ein ehemaliger IBMer spielte ebenfalls eine sehr bedeutende Rolle: Albrecht Blaser vom Wissenschaftlichen Zentrum Heidelberg. Er wirkte von 1991-94 in der Jenaer Informatik als Lehrbeauftragter und Honorarprofessor. Er erkämpfte nebenher mit die dauerhafte Einrichtung eines Datenbanklehrstuhls in Jena  ̶  so selbstverständlich war das um 1992/93 nicht. Und für die Universität insgesamt war der damalige, langjährige Universitätskanzler Klaus Kübel ganz essentiell wichtig im Reformprozess der Universität. Kurz und gut: Andere hatten in den frühen 1990ern für die und in der Jenaer Informatik schon Pionierarbeit geleistet, natürlich auch über die Vorgenannten hinaus.

MR: Wie hat Deine Familie diesen Wechsel von der bekannten Umgebung in Heidelberg nach Jena aufgenommen?

KK: In den Jahren 1995/96 war aus familiären Gründen zunächst an einen Komplettumzug nicht so recht zu denken. Die Kinder waren gerade gut integriert in Kindergärten und Schulen. Auch weitere familiäre Umstände erlaubten einen vollständigen Ortswechsel nicht. Ich entschloss mich in Absprache mit Ehefrau und Familie also zum Spagat und Wochenendpendeln zwischen Thüringen und der Region Heidelberg. Später, mit größer werdenden, heute erwachsenen Kindern wäre das Komplettumziehen eher möglich gewesen, aber wir hatten nun und haben uns mit dem Spagat und Zweitwohnsitz (natürlich angemeldet!) einigermaßen arrangiert.

Der Ausdruck „Spagatprofessor" mag etwas negativen Klang haben, ich denke aber, wirklich Nachteile hatte und hat es bei mir  ̶  und vor allem bei unseren Studierenden  ̶  de facto nicht. Ich bin bis auf die normalen Urlaubswochen, oder mal eine anderweitig bedingte Abwesenheitsperiode, viel in Jena vor Ort: während der Lehrveranstaltungswochen und auch während der Semesterferien. Ich gehöre zu den Anhängern physischer Präsenz am Arbeitsplatz. Ich bin kein Home-Office-Mensch. Das mag etwas generations- und industriebedingt sein aus klassisch erlerntem Büroverständnis. Termine mit den Studierenden etwa sind bei mir also ziemlich flexibel möglich, das überrascht manchen und wird auch durchaus als entgegenkommend gewürdigt.

Und mein Spagat hat darüber hinaus noch einen weiteren studierendenfreundlichen Aspekt, vielleicht kommen wir darauf nachher ohnehin noch zu sprechen: Ich betreue Jenaer studentische Arbeiten vor allem der Informatik und Wirtschaftsinformatik (früher Diplom-, heute Bachelor- und Masterarbeiten, Praktika, u.a.) sozusagen „quer durch die Republik", insbesondere auch gemeinsam mit Unternehmen und inner- und außeruniversitären Einrichtungen. Das geschieht einerseits natürlich ganz stark direkt in Jena und Thüringen. Aber im Laufe der Jahre gab's und gibt's auch zahlreiche gemeinsame Betreuungen etwa mit IBM, SAP, Daimler und anderen in „Deutsch-Südwest"  ̶  bekanntlich ein deutsches IT-Ballungszentrum hersteller- und anwenderseitig. Das lässt sich für mich durch die beiden Standbeine (Dienstort = Thüringen und Wohnort = Nordbaden) sehr gut einrichten. Ich bin da also regelmäßig zu Gesprächen mit den Studierenden und Firmen am Durchführungsort ihrer Abschlussarbeit, egal ob nah oder fern zu Jena gelegen. Auch das überrascht gelegentlich: Manche Firmen aus nah und fern sind es bei gemeinsam betreuten Abschlussarbeiten gar nicht gewohnt, den Professor regelmäßig (oder überhaupt) am Firmensitz zu sehen in gemeinsamen Gesprächs- und Betreuungsrunden. Es kommt positiv an. Aktuell z.B. betreue ich Masterarbeiten Jenaer Studierender in Stuttgart, Coburg, Nürnberg, natürlich gemeinsam mit dem jeweiligen Firmenbetreuer vor Ort. Plus die vielen in Jena gemeinsam betreuten Arbeiten, oft „über die Straße".

MR: Ich habe gehört, dass ziemlich viele Schüler in der DDR, die später ein Studium der naturwissenschaftlichen Fächer oder der Informatik aufnahmen, bereits in der Schule eine besondere mathematische Förderung genossen haben. Wie sah das aus und wie machte sich das im Studium bemerkbar?

KK: Es gibt hier die Schulform der so genannten „Spezis". Deren Abiturienten zählen oft zu unseren herausragenden Informatikstudierenden. Ich erkläre es am Beispiel Jena, aber in Thüringen gibt's ähnliches in Erfurt und in Ilmenau. Das Jenaer Carl-Zeiss-Gymnasium wurde 1963 als „Spezialschule Carl Zeiss" gegründet und war jahrzehntelang eine Stätte sehr guter, wissenschaftlich geprägter Fachvorbereitung  ̶  insbesondere in Mathematik, später auch schon in Informatik  ̶  für künftige Universitätsstudierende und letztendlich Mitarbeiter des gleichnamigen Kombinats. Seit den 1990ern ist das Carl-Zeiss-Gymnasium in Jena nun ein „normales" Gymnasium, aber weiter auch mit mathematisch-naturwissenschaftlich-technischen Spezialklassen. Von dort kommen teils klasse Abiturienten zu uns an die Universität, aber natürlich auch an andere Universitäten in Thüringen.

Wir haben sehr gute Kontakte zu den Informatiklehrern an der Spezi. So wird z.B.  jetzt im Juni gemeinsam von Spezi und Universität die zentraleuropäische Informatik-Olympiade in Jena ausgerichtet. Und wir bilden am Institut für Informatik bei uns auch im Studiengang „Informatiklehramt an Gymnasien" aus. Unser Professor und Kollege für Didaktik der Informatik, Michael Fothe, war zuvor selbst lehrend und leitend an der Spezi in Erfurt tätig. Das trägt alles zu jenem guten Zusammenspiel bei. Die Schüler der Spezi Jena haben teils schon während der Schulzeit mit der Universitätsinformatik zu tun, etwa im schulischen Projekt. Es werden universitätsseitig Fachvorträge an der Spezi Jena bzw. den thüringischen Spezis gehalten. Zu Vorwendezeiten haben auch Mathematikprofessoren unserer Fakultät zusätzlich direkt an der Spezi gelehrt. Der Übergang dann vom sehr guten Schüler zum sehr guten Studenten wurde dadurch natürlich enorm gefördert und, wie gesagt, die Zusammenarbeit Spezi-Universität klappt auch heute weiter exzellent.

MR: Die Bologna-Reform wird ja von vielen Professoren durchaus negativ gesehen. Inzwischen sind die Studiengänge vom Abschluss mit Diplom auf Bachelor/Master umgestellt worden. Wie bewertest Du diesen Umstieg?

KK: Ich sehe, im Unterschied vielleicht zu manchen Kollegen, durchaus positive Seiten in der jetzigen BaMa-Welt gegenüber der früheren Diplomwelt:
  • Natürlich zunächst mal die kürzere Studiendauer bis zum ersten berufsqualifizierenden Abschluss: 3-4 Jahre jetzt, gegenüber 5-6 Jahren früher. Ich begrüße dies.
  • Höherer und zeitnäherer Praxisbezug im Studium als früher: Es sind z.B. bei uns bestimmte Lehrveranstaltungen im Pflichtprogramm der ersten vier Semester, die's früher allenfalls im Wahlprogramm der höheren Semester gab. Heute inhaltlich teils knapper, ja, aber vorhanden.
  • Gute Erfahrungen mit der Akzeptanz der Bacheloren in der Praxis: Es gab vor fünf und mehr Jahren bekanntlich warnende Stimmen, auch von prominenter Seite, einen Informatik-Bachelor würde niemand einstellen wollen, es sei ohnehin der Master also notwendig und werde die Regel sein.
Für unsere Jenaer Informatikabsolventen ist dieser dritte Punkt nicht so eingetreten und ich denke, anderenorts gilt gleiches:
  • Wer nach dem Informatikbachelor gleich in die Praxis möchte und passable Studienleistungen und -ergebnisse vorweisen kann und vielleicht sogar schon etwas studienparallele Praxis, wird gerne genommen. Er/sie kommt an.
  • Wer ein Masterstudium direkt an den Bachelor anschließen möchte, der kann dies full-time tun oder Firmentätigkeit mit Masterstudium zeitlich unter einen Hut bringen. Viele unserer Masterstudenten, auch wenn sie gerade erst den Bachelor erworben haben, arbeiten parallel schon vor Ort oder darüber hinaus in einem Unternehmen (wo sie teils auch schon ihre Bachelorarbeit angefertigt haben). Das scheint meist gut zu gehen in zeitlicher und inhaltlicher Hinsicht.
  • Wer nach Schule und Bachelor erst mal genug von „der reinen Lehre“ hat und voll in die Praxis möchte und dann später vielleicht doch zurück an die Uni für den Master, der kann dies auch tun.
Diese Flexibilität insgesamt begrüße ich und ebenso die Flexibilität des Wechsels zwischen Uni, FH, BA (wir haben BAs in Thüringen in Eisenach und Gera, mit sehr guten Kontakten dorthin übrigens).

MR: Im Jahr 2008 wurdest Du von der Zeitschrift „UNICUM Beruf“ als ein „Professor des Jahres“ ausgezeichnet, als herausragender „Wegbereiter für Karrieren“. Diese Wegbereitung stellt sich zum Beispiel auch durch den Praxisbezug der Lehre dar. Wie muss man sich das vorstellen? Und 2009 gab’s für Dich ja noch den Lehrpreis Eurer Universität mit ähnlicher Begründung (intensive Betreuung der Studierenden).

KK: Ich denke, wir tun da am Lehrstuhl in der Tat einiges. Ich nehme mal als Beispiel das Mentoren-Programm, das an unserem Institut eingeführt wurde mit BaMa-Beginn 2008/09. Jeder Studierende bekommt von Beginn an einen Mentor (Professor, Dozenten) zugeteilt.Ich mache es so, dass ich meine zugeteilten (Bachelor-) Mentees zweimal pro Semester abends ins Restaurant einlade zum lockeren Gespräch. Dabei geht's natürlich auch um Studienhinweise und um den Appell, „Leute, macht neben dem Studium schon etwas in der Praxis!". Da sind die Studierenden in früher Phase oft zurückhaltend und zweifeln, ob das nach 1-2 Studienjahren schon sinnvoll und möglich ist  ̶ meine Antwort „Ja, natürlich". Ich meine damit bspw. Praktika in den Semesterferien (wie ich sie selbst im eigenen Studium jeweils nach dem 2., 4., 6. und 8. Semester gemacht hatte). Wir haben gerade aktuell schöne Fälle: etwa von einem hervorragend verlaufenen Industriepraktikum nach dem 4. Semester, ein hoffnungsvolles nach dem 2. Semester beginnt in diesem August usw. Und ich betreue  ̶  und vermittele teils  ̶  die Pflichtpraktika unserer Bachelorstudenten im Studiengang Angewandte Informatik. Ich kümmere mich relativ stark darum, bin auch viel vor Ort.

Darüber hinaus haben wir für die Studierenden 15 Jahre lang Exkursionen in die Praxis durchgeführt. Wir akquirieren Lehraufträge und -beauftragte aus der Praxis (einer, seit 2008, heißt Manfred Roux), ermöglich(t)en Produktzertifizierungen für Studierende (insbesondere zu IBM DB2), laden stets Praxisvorträge mit in die Lehrveranstaltungen ein etc. IBM ist auch seit vielen Jahren durch einen Honorarprofessor, Martin Welsch aus Böblingen, in der Lehre und Forschungszusammenarbeit am Institut engagiert.

MR: Wie kommt dieser Praxisbezug bei den Studenten an? Wie sehen da die Rückmeldungen aus?

KK: Insgesamt wird das durchaus gewürdigt und „kommt an". Es sind natürlich Dinge darunter, die sich auch erst herumsprechen müssen. So wechselte dieser Tage ein Student seinen Mentor, bzw. bat um Wechsel zu mir, weil er wohl gehört hatte, dass ich ein guter Praxisratgeber sei. Vielleicht ist's aber auch mehr wegen der Restaurant-Einladungen. Manche Dinge  ̶  das soll auch nicht verschwiegen werden  ̶  laufen aber auch etwas zäh oder brauchen Hilfe zur Selbsthilfe. Ich nenne mal drei, sehr unterschiedliche Beispiele:
  • Wenn wir IBMer mit Mainframe-Hintergrund zu Gastvorträgen einladen, was wir regelmäßig tun, muss gelegentlich der Dolmetscher ran, das bin ich. Es gab schon mehr als einen Fall, wo die Terminologie eben etwas weg von jener der Vorlesung und der Wissenschaftsszene allgemein war, dass Dolmetschen erforderlich wurde („in der Vorlesung bei uns entspricht dies ..."). Es geht aber schon, es ist also mehr zum Schmunzeln als dass es ein Ärgernis ist. Und es gibt den Studierenden auch schon einen ersten Eindruck, dass eben die Praxis oft anders „spricht“ als die Hochschule.
  • Oder die Exkursionen zu bekannten Wirtschaftsunternehmen: Da so etwas an unserer Fakultät weitgehend unüblich war und ist (eben bis auf unseren Lehrstuhl), existiert(e) auch keine ausgeprägte „Exkursionskultur". Da kam von einigen Studierenden schon das Denken à la „was bringt mir das?", „kann ich mir nicht anrechnen lassen im Studium?", „machen die Firmen da nur Werbung oder was??". Wir hatten teils sogar Probleme, die Teilnehmerliste zu füllen. Wegen des zudem hohen organisatorischen Aufwands im Exkursionszusammenhang haben wir diese nun in den letzten zwei Jahren nicht mehr durchgeführt. Schade eigentlich, denn unsere Exkursionsteilnehmer zwischen Zürich und Krakau waren 'danach' stets begeistert, auch die vorherigen Zweifler.
  • Oder die Teilnahmezertifikate, auch „Schöne Scheine" genannt. Wir führten sie am Lehrstuhl vor gut 10 Jahren ein. Damals bekamen generell alle Studenten „Scheine" ausgehändigt über bestandene Lehrveranstaltungen (Übungsscheine, Seminarscheine, u.a.). Diese mussten sie sammeln und später beim Prüfungsamt vorlegen. So ein Schein hatte nur den Titel der Lehrveranstaltung drauf stehen plus ggf. die Note. Fürs Prüfungsamt reichte dies ja auch. So war’s fast überall an deutschen Hochschulen. Unsere Lehrstuhlidee 2003 war nun, „Schöne Scheine" oder Zertifikate auszustellen bei erfolgreicher Teilnahme, aus denen auch hervorging, WAS in der Lehrveranstaltung inhaltlich gemacht wurde, welche Kenntnisse vermittelt wurden. Damit der Studierende das auch extern „vorzeigen" kann bei Bewerbung, Praktikumsinteresse etc. Ich weiß, dass so etwas von Firmen gerne gesehen und auch gewürdigt wurde und wird („der Bewerber hat ja fünf Zertifikate von Ihnen, Herr Küspert, schön“). Die Scheine sind universitätsintern bei uns seit BaMa-Zeiten abgeschafft. Wir geben aber weiterhin die „Schönen Scheine" aus für jene externe Verwendung. Viele Studenten holen sie aber nicht (mehr) ab, weil ihnen der Nutzen nicht bewusst ist  ̶  trotz Erklärung. Auf Nachhaken meinerseits wurde ich schon mal von einem Studierenden freundlich belehrt, mir sei wohl entgangen, dass es Scheine nur damals zu Diplomzeiten gegeben habe. Man sieht, es ist oft schwer, Studierende zum Jagen zu tragen. Vor allem, wenn sie nicht zuhören.
MR: Von 1999 bis 2011 hat Dein Lehrstuhl die „Jenaer Datenbanktage“ veranstaltet. Wie würdest Du diese Veranstaltung mit Absolventen, einem kleinen Kreis von Teilnehmern aus Wissenschaft und Industrie, und Doktoranden in Deine Bemühungen um Praxisbezug einordnen?

KK: Die Veranstaltungsreihe war entstanden erst mal weitgehend mit lehrstuhlinternem Fokus, unter Beteiligung weniger Externer. So zogen wir uns mit insgesamt etwa 20 Personen  ̶  Lehrstuhl, Diplomanden, HiWi's, wenige Gäste  ̶  im September 1999 für zwei Tage in ein einsam gelegenes Hotel im Thüringer Wald zurück, quasi in Klausur. Dort wurden Fachvorträge gehalten von Lehrstuhlseite sowie Zwischen- und Abschlussvorträge etwa zu Diplomarbeiten am Lehrstuhl. Dies alles natürlich auch mit vielen Möglichkeiten zu Gesprächen und zur Diskussion, gemeinsamer Wanderung, usw.

Diese Veranstaltungsreihe wurde dann sehr geschätzt und zur „Institution": jährlich bis 2011 fast immer im September, immer für zwei Tage und fast immer in idyllisch gelegenen Thüringer Hotels (einmal waren wir auch 100 Meter auf sachsen-anhaltinischem Terrain, das hat uns auch nicht geschadet). Der Teilnehmerkreis wuchs stetig an, es wurden Lehrstuhl-Alumni mit eingeladen, Lehrbeauftragte, weitere Freunde des Lehrstuhls, Firmen. Es entwickelte sich in die Gegend von 50 Teilnehmern, darunter auch mehrfach ein paar bedeutende Persönlichkeiten der IT- und Hochschulszene: Klaus Tschira nahm z.B. auf unsere Einladung hin mehrfach teil, Hartmut Wedekind häufig, Albrecht Blaser immer, plus ein paar aktive oder ehemalige CIO's aus großen deutschen Unternehmen. Wir hätten locker auch 100 Teilnehmer jeweils „zusammen bekommen", aber es musste ja neudeutsch 'manageable'  bleiben.

Es war eine tolle Sache und hat den Kontakt Lehrstuhl/Studenten/Wirtschaft weiter gestärkt. Für einen 23-jährigen Studenten war und ist es schon ein Erlebnis, nach seinem Diplomarbeitsabschlussvortrag begeisterte Kommentare eines CIO zu erhalten oder gleich die Anregung, sich in Sachen Stelle bitte unbedingt mal mit diesem oder jenem Mitarbeiter seines Unternehmens in Verbindung zu setzen. Wir haben dann nach der 13. Durchführung 2011 mit der Reihe Schluss gemacht. Man soll bekanntlich aufhören, wenn's am schönsten ist. Und ich bin generell gegen „Dauerbrenner": Wäre ich das IOC und für die Olympischen Spiele verantwortlich, hätte ich die Reihe sicher auch bald nach der 10. Durchführung für beendet erklärt. Und wenn's dann viele schade finden, so auch bei unserer Reihe, dann ist dies auf Veranstalterseite gern gesehenes Lob für die Idee und erfolgreichen Durchführungen.

MR: Heute sind viele Lehrstuhlinhaber und deren Studenten in Forschungsvorhaben in Zusammenarbeit mit der Industrie tätig. Wie empfindest Du diese Interaktion? Siehst Du die anwendungsorientierte oder praxisorientierte Forschung als positiven Einfluss auf die Lehre, wie denkst Du darüber?

KK: Ich stehe dem natürlich absolut positiv gegenüber, sicher nicht überraschend nach den vorangegangenen Antworten hier im Interview. Wir hatten am Lehrstuhl von Beginn 1995 an zahlreiche wissenschaftlich-praktisch befruchtende Industriekooperationen. Ich weiß noch sehr gut, wie einige der ersten  Dissertationsthemen am Lehrstuhl in der zweiten Hälfte der 1990er in engem Kontakt mit IBM bearbeitet wurden (Datenbank-Backup und -Recovery) bzw. mit SAP (Datenbank-Archivierung). Und um die 2000er herum hatten wir mehrere SAP-finanzierte Doktorandenstellen am Lehrstuhl. Später ab 2005/06 über mehrere Jahre ein sog. CAS-Projekt mit IBM Böblingen zu Autonomem Datenbank-Tuning . Zwei Dissertationen gingen daraus hervor. Seit 2009 enger Fachkontakt mit der DATEV und Zusammenarbeit. Plus natürlich regional in Thüringen und Jena viel enger Fachkontakt. Das alles war und ist ungemein wichtig zur Erzeugung praxisrelevanter Forschungsinhalte und Forschungsergebnisse.

Und seit 2002 haben wir stets einen Mitarbeiter am Lehrstuhl, der in einem Halbe-Halbe-Arbeitsverhältnis ist: also 1/2 auf Landesstelle (steuergeldfinanziert), 1/2 direkt bei Firma angestellt. So war es bis 2006 mit IBM, danach bis 2011 mit ORISA (einem mit uns sehr verbundenen Jenaer KMU), seit 2012 mit der DATEV. Das sorgt sehr für die Bodenhaftung in Lehre und Forschung. Wohlgemerkt, es geht hier, bei jenen Halb-Halb-Stellen  ̶  etwas zum Leidwesen des Universitätsrektors oder -kanzlers  ̶  nicht um Drittmittelprojekte. Eher Public-Private-Partnership: die öffentliche Hand zahlt ihre Mitarbeiterhälfte, das Unternehmen seine. Das sorgt vielleicht für noch mehr Praxisnähe als an die Universität transferierte Drittmittel.

MR: Mir fällt auf, dass Deine „Ehemaligen“ ein Netzwerk bilden. Du stellst sozusagen das Zentrum dar, aber die Absolventen sind auch untereinander im Kontakt.  Du verfolgst und begleitest  deren Laufbahn aktiv. Ist das im deutschen Hochschulwesen eine gängige Praxis oder eher die Ausnahme? Empfinden Deine Ehemaligen nach wie vor eine große Affinität zum Lehrstuhl?

KK: Wir pflegen am Lehrstuhl von Beginn an (1995) eine Alumniliste, in der alle unsere Lehrstuhlabsolventen verzeichnet sind, also die bei uns oder mit uns am Lehrstuhl ihre Abschlussarbeit gemacht haben (Diplom, Bachelor, Master, Staatsexamen, Promotion). Darunter sind nicht nur Informatiker, sondern auch viele Wirtschaftsinformatiker und  ̶  in geringeren Zahlen  ̶  auch Wirtschaftsmathematiker, Bioinformatiker, Lehrämtler, u.a. Das heißt natürlich nicht, dass zu allen 200 permanent wirklich enger Kontakt besteht, das kann nicht funktionieren. Einige, relativ wenige Absolventen aus den letzten 20 Jahren haben wir auch aus den Augen verloren und die Liste mag an ein paar Positionen auch veraltet sein – „ohne Gewähr" also. Aber zu allen am Lehrstuhl Promovierten seit 1999 besteht solch enger Kontakt und zu Dutzenden weiteren Absolventen der Liste und darüber hinaus, so kann man das schon sagen.

Sehr viele Lehrstuhl-Alumni sind natürlich auch in Jena vor Ort, etwa im lokalen, prosperierenden E-Business-Sektor und in anderen Firmen und Einrichtungen. Da sieht man sich ohnehin oft, etwa zu auch extern angekündigten Vorträgen u.dgl. Hier spielt auch die „Kompaktheit" und Überschaubarkeit Jenas eine hilfreiche Rolle: Viele Firmen, gerade im IT-Bereich, sitzen nur rund 100 Meter vom Universitätscampus entfernt. Aber wie gesagt, auch zu den „entfernten" Alumni bestehen oft gute Kontakte. Dies alles auch wieder zum Wohl und Nutzen der aktuell Studierenden, etwa wenn's um Sondierung für Praktikumsplätze geht, gemeinsame Betreuung von Abschlussarbeiten etc. Das funktioniert dann sehr gut und auf dem kleinen Dienstweg.

MR: Noch eine letzte Frage, mit der Bitte um kurze Antwort: Du bist an Eurer Universität auch in Sachen Deutschlandstipendien aktiv. Kannst Du uns in ein paar Sätzen erklären, worum es bei den Deutschlandstipendien geht und wie Deine Rolle an der Friedrich-Schiller-Universität diesbezüglich ist?

KK: Gerne. Das Deutschland-Stipendienprogramm wurde 2010/11 geschaffen deutschlandweit, um auch in Deutschland  ̶  wie etwa im angelsächsischen Raum und anderswo  ̶  eine stärkere und breitere „Kultur" von Förder- und Stipendiatentum im Hochschulbereich zu etablieren. Bekanntlich gibt es in Deutschland durchaus seit langem renommierte Stipendienprogramme, etwa seitens der Studienstiftung des Deutschen Volkes, der Parteien und anderer Stipendiengeber. Aber es ist bisher oder war bisher nur ein ganz kleiner Prozentsatz von Studierenden, der über solche Stipendien gefördert wird bzw. wurde. Genau da sollte und soll das Deutschlandstipendium programmtechnisch ansetzen. Das Konzept sieht so aus, dass durch Studienleistungen und auch darüber hinaus ausgewiesene Studierende sich um ein Deutschland-Stipendium im Umfang von 3600€ jährlich bewerben können. Finanziert wird das dann jeweils hälftig durch einen privaten Stipendiengeber und durch den Bund. Also „Berlin" zahlt 50%, 50% müssen von außerhalb kommen („privat").

Für die Stipendienanteile aus dem privaten Sektor muss also die Universität Förderer (Stipendiengeber) finden. Es gibt da verschiedene Modelle als Pate oder Förderer oder Unterstützer, diese Details lasse ich hier mal raus. Es ist für die Universität nun natürlich nicht so einfach, solche Geldgeber in hinreichend großer Zahl zu identifizieren, zum Fördern „zu überreden", bzw. gibt es da auch fachlich Unterschiede. Firmen fördern natürlich besonders gerne solche Studierende, die sie vielleicht später mal durch den aufgebauten Kontakt als Mitarbeiter oder auch vorher schon mal als Praktikant, Werkstudent gewinnen könnten. Das heißt, es ist für das Fachgebiet Informatik durchaus einfacher, Förderer/Firmen zu gewinnen, als etwa für ein Fachgebiet Kaukasiologie oder Gesellschaftstheorie.  Aber auch in der Informatik geht's nicht von allein, dass etwa Firmen  ̶  oder gar Privatpersonen  ̶  das Portemonnaie öffnen.

Durch meine ohnehin vorhandenen Firmenkontakte und die meines Lehrstuhls konnte ich ab 2011 die Universität unterstützen bei der Akquise von Förderern/Firmen. Insbesondere betraf und betrifft dies regionale Unternehmen, aber auch überregionale, große Unternehmen sind unter den Förderern. Ab 2012 entschied ich mich darüber hinaus, auch privat ein Deutschlandstipendium als Förderer zu übernehmen. Insgesamt finde ich das Konzept der Deutschlandstipendien als einen sinnvollen Ansatz, deshalb ja auch mein Engagement dort in den genannten Weisen.

MR: Klaus, ich danke Dir für dieses umfassende Interview, das viele Facetten Deines akademischen Berufslebens berührt hat. Ich danke Dir auch für die klare Positionierung zum Thema Praxisbezug der Lehre an Hochschulen. Wie Du weißt, decken sich einige Deiner Positionen mit meinen. Aber ich bin ja nun mal ein ehemaliger Praktiker, der des Öfteren die Ergebnisse der Lehre – die Absolventen – in Interviews, Assessment Centers und in der nachfolgenden betrieblichen Praxis erleben durfte. 

NB: Nach dem Interview vor vier Wochen mit Namik Hrle, dem neu ernannten IBM Fellow, ist dies das zweite Interview, das mein Freund und Ex-Kollege Manfred Roux völlig eigenverantwortlich besorgt hat. Nachahmungen werden empfohlen.

4 Kommentare:

  1. Am 5.6.2014 schrieb Otto Buchegger aus Tübingen:

    Ein informatives Interview! Danke fürs Posten!

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  2. Informatik studieren in Jena / an Prof Kuespert's Lehrstuhl: das war klasse. :-)
    ...all die Firmenvortraege, Ausfluege zu diversen Firmen und die super Betreuung bei meinen unzaehligen Praktika & schließlich der Diplomarbeit.
    Herr Kuespert reist ja nicht "nur" quer durch Deutschland um seine Studis zu treffen, so hatten wir uns z.B. vor einigen Jahren mal in Toronto/Canada getroffen also er gerade privat in der Naehe war um ein wenig ueber meine Diplomarbeit zu reden.

    Vielen Dank Herr Kuespert :-)

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  3. Der Übergang von der Schule zum Studium ist schon enorm. In den ersten Semestern fällt es oft schwer den Professor als Förderer und nicht als Forderer zu verstehen. An der Fakultät für Informatik der FSU Jena wird man von vielen Professoren in der eigenen Arbeit in maximalem Maß unterstützt. KK betreute im letzten Semester meine Masterarbeit. Anhand der Frequenz, in der er sich bei mir meldete und mir regelmäßig Feedback gab, hatte ich das Gefühl, ich wäre der einzige Student, den er betreut. Dass noch 1-2 andere Dinge in seinem täglichen Dienstleben dazukommen, konnte man diesem Artikel gut entnehmen. ;-)
    Daher großen Respekt für das bisherige "Lebenswerk" als inoffizeller Lieblingsprofessor der Uni Jena und Meister des Fädenziehens! Letzteres meint das Zusammenbringen von Absolventen und Unternehmen. Eine Empfehlung vom Prof ist ein ganz anderer Zugang zum Unternehmen als eine Initiativbewerbung und ist somit das Sprungbrett, das man als Absolvent für einen erstklassigen Berufseinstieg benötigt.

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  4. Ich kann meinen Vorrednern nur zustimmen, Prof. Küspert ist eindeutig der Star unter den Uni-zu-Firmen-Beziehungen. Außerdem ist es einfach nur schön zu lesen, wie er die Vorteile der Bologna-Reform erkennt und für die Studenten nutzt - da ist bei Universitätsprofessoren häufig das Gegenteil der Fall. Danke, Prof. Küspert, dass Sie als Wegweiser für den Erfolg Ihrer Studenten so gute Arbeit leisten! :-)

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