Halim ist ein arabischer Vorname mit der Bedeutung freundlich, höflich,
geduldig. Er steht hier für den jungen Syrer, der seit etwa einem Jahr in
Deutschland lebt. Er und etwa ein Dutzend seiner Altersgenossen haben
gleichzeitig Damaskus verlassen, weil sie nicht in Assads Armee gegen ihre
Landleute kämpfen wollten. Sie hatten sich Reiseagenten, so genannten
Schleppern, anvertraut, die sie für teures Geld über die Türkei und die
Balkanroute nach Deutschland brachten. Halim lebt in einer südhessischen
Kleinstadt. Ausser Deutsch zu lernen, hat er noch kein Ziel, keine Aufgabe
gefunden. Er ist darüber ziemlich unglücklich. Er stand mitten im Jura-Studium,
als er seine Heimat verließ. Obwohl Halim und seine Freunde wohl kaum mit der
Absicht nach Deutschland kamen sich hier ‚integrieren‘ zu lassen, wird es von
ihnen dennoch erwartet.
Was soll Integration bezwecken?
Unter Integration versteht man in der Mathematik die Umkehrfunktion zur
Differentiation. Im gesellschaftlichen Bereich ̶ um den es hier geht ̶
umfasst Integration gezielte Maßnahmen und Prozesse, die dazu dienen jemanden,
der nicht in Deutschland aufgewachsen ist, mit unserer Kultur und Lebenswelt
vertraut zu machen. Man unterscheidet Integration von Assimilation. Diese
verlangt die vollständige Aufgabe der eigenen kulturellen Identität. In den
meisten Überlegungen geht es darum, wie man Zugewanderte dahin bringt, dass sie
wirtschaftlich auf eigenen Füßen stehen. Die direkte Einwanderung in die
Ausgabenseite unserer Sozialsysteme sollte tunlichst vermieden werden.
Das Problem ist im Grunde dasselbe, das bei im Lande geborenen Kindern
besteht, mit dem Unterschied, dass oft entscheidende Lebensjahre verloren
gingen. Auch bei deutschen Schülern dienen die ersten 14-18 Lebensjahre
vielfach nicht der beruflichen Qualifizierung, sondern der Allgemeinbildung.
Gemeint sind damit Grundtechniken wie Lesen und Schreiben in Deutsch, Musik,
Literatur, Arithmetik und eine Fremdsprache, meist Englisch. Was die vielzierte
Einbettung in die abendländische Kultur und Wissenschaft betrifft, sind die
Verhältnisse weniger klar. Das Gedankengut der Aufklärung ist auch bei uns erst
partiell akzeptiert. In einem Gymnasium einer deutschen Universitätsstadt, das
meine Enkeltochter besuchte, wurden zum Beispiel Schöpfungslehre und Darwinismus
als verträglich dargestellt.
Ausländer, die als Kinder oder Jugendliche zu uns kommen, fehlt oft ein
Teil dieser Allgemeinbildung. Man kann diesen Mangel nicht immer sofort
erkennen oder ̶
anders herum ̶ er lässt sich verheimlichen. Der
Migrationshintergrund ist nicht sichtbar; er rückt in den Hintergrund. Das
geschieht umso mehr, je besser der Zuwanderer die deutsche Sprache beherrscht
und je stärker er sich an unsere Berufswelt anpasst.
Vielfältigkeit der Berufswelt
Genau wie bei deutschen Kindern so besteht auch bei Einwandern das
Problem, sich in der Komplexität unserer Berufswelt und des Arbeitsmarkts
zurecht zu finden. Im Folgenden gebe ich einen sehr vereinfachten Überblick.
(a) Akademische Berufe
Sie verlangen eine Spezialausbildung, in der Regel ein Hochschulstudium.
Sie sind oft staatlich reguliert. Die Fähigkeiten (engl. skills) müssen
nachgewiesen werden, und zwar im Rahmen von Prüfungen oder Zulassungen. Hier
eine Auswahl:
- Arzt oder Zahnarzt: Sehr angesehen, langes Studium. Für Einwanderer sehr attraktiv. Geregeltes Anerkennungsverfahren. Viele in Deutschland praktizierende Ärzte sind Einwanderer. Mein Hausarzt ist in Rumänien geboren und hat dort studiert.
- Ingenieur oder Informatiker: Sehr gute Beschäftigungsmöglichkeiten. Von Einwanderern begehrt und erfolgreich ausgeübt. Bekanntlich sind unter den Deutschen, die auswandern, sehr viele Ingenieure. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren es die Raketenbauer aus Peenemünde, die als Gruppe in Alabama ihre Arbeit fortführen durften. Bei Ingenieuren kann man leicht sehen, was sie können.
- Biologen, Pharmazeuten, Physiker, Chemiker: Weniger gute Beschäftigungsmöglichkeiten, außer in Schule oder Vertrieb.
- Pädagogen: Meist im Staatsdienst; setzt gute Deutschkenntnisse voraus.
- Juristen: Tätigkeit nur mit deutscher Ausbildung möglich. Abhängigkeit von staatlicher Tradition. Mir ist kein deutscher Jurist bekannt, der im Ausland seinen Beruf ausüben konnte.
- Betriebswirte und Unternehmensberater: Eine gewisse Vertrautheit mit der wirtschaftlicher Situation ist erforderlich. Die Grenze zur nicht-professionellen Tätigkeit ist hier fließend. Bezeichnend war der Berufswunsch eines jungen Russlanddeutschen, der noch nie einen deutschen Betrieb gesehen hatte. Er wollte trotzdem Unternehmensberater werden.
(b) Freie und handwerkliche Berufe
Diese Gruppe von Berufen ist äußerst vielfältig. Der Zugang ist nur
wenig reglementiert. Ich gebe zwecks Illustration nur einige Beispiele an:
- Darstellende und gestaltende Künstler, Sportler: Da oft die Sprachkenntnisse eine geringe Rolle spielen, sehr großes Betätigungsfeld für Ausländer
- Händler mit Waren und Dienstleistungen: Außer im Falle spezieller Dienstleistungen (siehe unten) Vertrautheit mit deutschem Markt und deutschen Vorschriften erforderlich.
- Landarbeiter, Gärtner, Elektriker, Installateure, Kfz-Mechaniker, Tierpfleger, Friseure, Fußpfleger, Alten- und Krankenpfleger: Für Einwanderer gut geeignet.
- Köche, Kellner: Ausländer bringen oft Spezialkenntnisse zur Geltung, z. B. Chinesen und Italiener.
- Söldner, Polizist, Sicherheitsdienst, Gefängniswärter: Während der Völkerwanderung übernahmen Germanen mit Vorliebe diese Art von Dienstleistungen innerhalb des römischen Reiches.
Im Vergleich zu vielen andern Ländern genießen in Deutschland
Handwerker und industrielle Facharbeiter eine Sonderstellung. Sie werden
nämlich durch eine spezielle Form der Ausbildung qualifiziert, die Lehre. Diese
wird von einem Betrieb vermittelt, wird aber von einer ganzen Branche
anerkannt. Die Maßstäbe für diese Ausbildung werden von überbetrieblichen
Gremien festgelegt, den so genannten Industrie- und Handelskammern (IHK). Diese
nehmen auch die Prüfungen ab. Handwerker erhalten als Abschluss in der Regel
den Meistertitel. In vielen Branchen darf nur ein Meister einen Betrieb führen,
z. B. Bäcker, Metzger, Schneider und Friseure.
Sonderformen und Zwielichtiges
Über einen großen Teil des Arbeitsmarktes, der heute vorwiegend von
Ausländern bedient wird, wird nicht gerne gesprochen. Es ist ein grauer, ja
vielfach ein dunkler Markt. Vor allem gelten hier nicht die gleichen strengen
Qualifizierungsrichtlinien, wie sie für deutsche Facharbeiter gelten. So werden
größere Bauprojekte in Deutschland bevorzugt von Ausländern durchgeführt. Die
Zeit der beiden Weltkriege stellte lediglich eine Unterbrechung dar. Nach dem Wegfall
des Eisernen Vorhangs sind wieder normale Verhältnisse eingetreten. Als
Illustration seien zwei Projekte aus meiner engeren Heimat erwähnt. Eine
Bahnstrecke in der Westeifel wurde 1911 von kroatischen Arbeitern gebaut. Den
Neubau des Hauses einer Verwandten in der Westeifel errichtete 2015 eine Gruppe
von Wanderarbeitern aus Kasachstan.
Viele Märkte sind fest in der Hand osteuropäischer Wanderarbeiter, so
die Spargel- und Erdbeerernte sowie die Tierschlächterei. Die deutschen Exporte
von Rindfleisch und Hühnerfleisch übertreffen inzwischen andere
Industriezweige. Ebenso ist die private Altenpflege und die Prostitution ohne
Wanderarbeiterinnen nicht mehr vorstellbar. In beiden Branchen gibt es gut
organisierte Netze, die ganz Osteuropa umfassen.
Gewollte Nicht-Integration
Es ist falsch anzunehmen, dass alle Flüchtlinge, die jetzt nach
Deutschland kommen, auf Dauer hier bleiben wollen. Sie hatten (und haben immer
noch) berufliche Aussichten in ihrem Heimatlande, die Deutschland ihnen nicht
bieten kann. Für diesen Personenkreis muss ein Modus gefunden werden, der es
erlaubt die Wartezeit zu überbrücken. Bei jungen Menschen ist dies, je nach
Vorkenntnissen, der Beginn einer Lehre oder die Aufnahme bzw. Fortführung eines
Studiums. Ein Bachelor-Studium verlangt Deutschkenntnisse. Für ein
Masterstudium ist es möglich eine Hochschule zu finden, die eine genügende Zahl
von Kursen in Englisch anbietet.
Wer das für eine Lehre oder ein Studium günstige Alter überschritten
hat, kann eine Anstellung suchen, für die weder Lehre noch Studium erforderlich
sind. Solche gibt es reichlich, dank der wirtschaftlichen Konjunktur, in der
sich Deutschland derzeit befindet. Welche Qualifikationen hierbei hilfreich
sind, hängt von der Tätigkeit ab. Für die Tätigkeiten in diesem Bereich gibt es
kein Schema. Man muss selbst etwas kreativ sein. Ein Beispiel sind
Kurierdienste, wo eine Führerschein, ein Navigationsgerät und minimale
Sprachkenntnisse ausreichen. Wer nicht auf zusätzliche Einkünfte angewiesen
ist, wer also über eigene Geldquellen verfügt, der kann sich im sozialen und
ehrenamtlichen Bereich engagieren. Ansprechpartner wären Caritas, Sozialfürsorge,
Katastrophenschutz, Volkshochschule und andere. Nur in Sonderfällen wäre eine
Art Pensionat mit Golf- und Tennisplatz angemessen. Entscheidend ist, dass man
sich betätigt.
Politische Dimensionen
Die Einwanderung hat auch immer eine politische Dimension. Der Modus,
in dem zur Zeit die Einwanderung erfolgt, ist dramatisch. Die amtierende
Bundesregierung fährt eine Politik, mit der sie in Konflikt mit Ländern und
Kommunen gerät. Diese verlangen eine Beschränkung der Einwandererzahlen pro
Jahr. Die Bundesregierung unter Angela Merkel ist der Meinung, dass sie das
nicht kann. Der Koalitionspartner CSU, der im Grunde eine Landesregierung
darstellt, droht damit die Koalition zu
verlassen. Das könnte zur Auflösung der jetzigen Regierung führen. Auch im Volk
knirscht es. Mein politisch sehr sensibler Blog-Partner Hartmut Wedekind macht
seiner Sorge über die Situation Luft. Diese Woche schrieb er:
Was nun, Frau Merkel? Die Frau mit „Wir schaffen das“. … Ich weiß nur:
Rücktritt, und zwar sofort. Dann sehen ihre „Lieblingsflüchtlinge auf den
Selfies“ wenigstens, was hier los ist. Schon die Österreicher beziehen sich
beim Durchwinken auf Frau Merkel, die Katastrophenfrau.
Angela Merkel glaubt nicht daran, dass sich der Flüchtlingsstrom durch
gewaltsame Zurückweisung an den Grenzen reduzieren lässt. Sie hofft auf
Unterstützung durch andere Länder, insbesondere durch solche, die zur EU
gehören. Sie setzt aber auch auf die Türkei. Im Moment reden sogar Russen und
Iraner, Amerikaner und Saudis in Wien über die Situation in Syrien. Nur nehmen
Baschir al Assad und die syrische Opposition (noch) nicht an den Gesprächen
teil.
Rat an Halim und seine Freunde
NB: Dieser Beitrag erschien auch in Englisch in meinem Blog Al's Postbag. Die dort erscheinenden Kommentare werden nicht übersetzt oder beantwortet.