Die auf
Charles Darwin (1809-1882) zurückgehende
Evolutionstheorie sorgte im 19. Jahrhundert für gewaltige geistige Turbulenzen.
In mancher Hinsicht erschütterte sie das Weltbild der Zeitgenossen. Zweihundert
Jahre später könnte man meinen, das sei alles ein alter Hut, das Thema sei
gegessen. Dem scheint aber nicht so zu sein. Liest man Stefan Grafs Buch Darwin im Faktenscheck (2013, 380 Seiten)
so bekommt man den Eindruck, dass Darwin uns gerade erst verlassen habe und der
Meinungsstreit sei soeben voll entbrannt. Stefan Graf (*1961) hat Medizin
und Biologie an der FU Berlin studiert
und arbeitet als Wissenschaftsjournalist. Mit etwas Mühe arbeitete ich mich
durch den Wälzer. Immerhin gab es einige Punkte, an denen ich stutzte oder
dazulernte.
Essenz
der Darwinschen Theorie
Bei der
biologischen Fortpflanzung kommt es immer wieder zu Veränderungen des
Erbguts, fachlich als Mutationen im Genbestand (Genom) bezeichnet. Die Art, die
Position und die Verteilung sind im Prinzip zufällig. Ihre Ausprägung und Wirkung
im erzeugten Lebewesen, also dem Phänotyp, kann sehr unterschiedlich sein.
Außerdem gibt es Unterschiede aufgrund
leichter Variationen desselben Gens, der so genannte Allele.
Welche
Mutationen dem Phänotyp zum Vorteil gereichen, hängt von dessen Umwelt ab. Es
ist die Umwelt, die selektiert, welche Mutationen sich zahlenmäßig stark oder
weniger stark verbreiten, indem die Zahl der Phänotypen wächst oder schrumpft. Diejenigen
Mutationen, deren Träger als Phänotyp Nachfolger zeugten, werden Teil des Genotyps
nachfolgender Generationen. Änderungen des Genotyps von einer Generation zur
andern sind meist minimal. Erst nach einer Reihe von Generationen können sie
ins Gewicht fallen. Das Gesamtpaket der Gene, das Genom, und nicht ein
einzelnes Gen, bestimmt, welcher Phänotyp für eine gewisse Situation gut oder
schlecht vorbereitet ist. Der am besten angepasste hatte die besten Chancen zu
obsiegen, d.h. zu überleben (engl,; survival
of fittest). Aber auch alle Fehlentwicklungen erhalten eine Bewährungsprobe,
oft für Jahrtausende.
Wer
angepasst war, ist stets nur im Nachhinein zu beurteilen. Vorhersagen sind
nicht möglich. Die Evolution tut nichts Aktives. Sie bewertet lediglich den Erfolg
von Mutationen und Rekombinationen bei der Nahrungsbeschaffung, der Partnerwahl
und der Fortpflanzung. Als Kernbegriffe der Evolution gelten Zufall, Fitness
und Konkurrenz; entscheidend ist der Zeitfaktor.
Historische
Leistung Darwins und spätere Erkenntnisse
Es bedurfte
vermutlich der Besonderheit viktorianischer Naturforschung, um das Wirken des
Zufalls ernst zu nehmen. Die Vorstellung, dass die Umwelt sich ändert, ohne
dass wir wissen weshalb, war eben erst ins Bewusstsein der Menschheit
gedrungen. Es war auch noch relativ neu, bei der Betrachtung der Erde und des
Kosmos in großen Zeitintervallen zu
denken. In der biblischen Genesis lag der Tag Null der Schöpfung keine 10.000
Jahre zurück. Jetzt begann man in Jahrmillionen zu denken. Möglicherweise
beeinflusste ihn auch die Sichtweise des Thomas Robert Malthus (1766-1834), der
einen Trend zum Überschuss von Nachkommen und dadurch durch Ressourcen
begrenzte Populationen konstatierte.
Im
Altertum wurde eine in den Ergebnissen mit Darwin vergleichbare Deszendenztheorie
von Herodot (480-420 vor Chr.) und Lukrez (94-53 vor Chr.) gelehrt. Die Kirche akzeptierte
später nur die Allmacht Gottes als Schöpfer, und zwar nicht nur im einmaligen
Akt sondern in laufender Wiederholung.
Darwin
standen keinerlei Kenntnisse weder aus der Genetik noch aus der Epigenetik zur
Verfügung, durch die viele der von ihm beobachteten Phänomene später erklärt
wurden. Heute weiß man, dass jede einzelne Körperzelle eine volle Kopie der DNA
besitzt. Entwirrt wäre sie ein Faden von mehr als zwei Metern Länge. Die drei
Mrd. Bausteinpaare des Genoms eines höheren Lebewesens entsprechen einem Sprachumfang von 100 Bill. (10 hoch 14)
Zeichen. Unterschiede in der Ausprägung ergeben sich durch An- und Abschalten
einzelner Gene. Diese Genregulation ist das wahre Geheimnis des Lebens. Was
lange als Schrott-DNA bezeichnet wurde, erweitert das Genom zum Epigenom. Aus
der Genetik wird die Epigenetik. Mag die DNA des Schimpansen zu 98% identisch sein
mit der des Menschen, so ist der Phänotyp dennoch ganz verschieden. Immerhin
sind Änderungen an 2% der oben erwähnten 3 Mrd., also an 60 Mio. Positionen
möglich.
Gegenargumente der Kreationisten und Sychronisten
Darwins
Lehre stellte seinerzeit eine große Provokation dar, für alle jene, die den
göttlichen Schöpfer unablässig am Werke sahen. Solange nicht für jede heute existierende Lebensform eine entsprechende
Zwischenstufe gefunden ist, glauben die Darwin-Gegner, dass jede Form einen eigenen
Akt der Schöpfung darstellt. Es kann in der Tat schwer sein, Fossilien von allen
Zwischenschritten zu finden, da längst nicht alles, was existierte, auch in der
Form von Fossilien Spuren hinterlassen hat. Andererseits muss man fragen, warum
ein Schöpfer so viele ähnliche Schöpfungen wiederverwendet. Warum benutzen eine
Kuh und eine Erbse dasselbe Enzym? Das muss eine eigenartige Marotte dieses
Schöpfers sein. Wenn ein fertiger Flügel sich als nützlich erweist, um sich
damit in die Lüfte zu erheben, so ist unklar, was immer den Anlass dazu ergab,
die notwendigen Zwischenschritte zu vollziehen.
Zweifel
an Darwins Modell äußerten nicht nur seine Zeitgenossen. Als einer der heutigen
Angreifer wird Reinhard Eichelbeck mit seinem Buch Das
Darwin-Komplott (1999, 379 Seiten) zitiert. Vor allem wirft man Darwin
vor, die Schöpfung des Lebens ohne die Mitwirkung von Gott verkündet zu haben.
Dabei hat Darwin zu der auch heute größtenteils unbeantworteten Frage, wie das
Leben entstand, überhaupt nichts gesagt. Er versuchte lediglich zu erklären,
wie sich die unterschiedlichen Formen des Lebens herausgebildet haben konnten.
Ob es Gott gibt, können Darwinisten durchaus mit Ja beantworten. Nur wie er
wirkt, da unterscheidet man sich von Kreationisten. Nicht der einzelne Phänotyp
erfordert das Eingreifen des Schöpfers. Um den Prozess als Ganzes zu
konzipieren und in Betrieb zu setzen, da sei göttliche Hilfe nicht
auszuschließen – meint der Autor.
Die
Synchnonisten bezweifeln die der Evolution zugrunde liegende Zeitskala. So
nehmen sie an, dass Menschen und Dinosaurier gemeinsam lebten. Nach dem
neuestem Stand der Wissenschaft ist der Mensch (homo habilis) zwischen 1,5 und 2,0 Mio. Jahre alt.
Die Dinosaurier starben vor etwa 65 Mio. Jahren aus.
Missdeutung
als grausamer Überlebenskampf
Überleben
können nicht nur die besseren Angreifer, sondern auch die besseren Verteidiger.
Oft wird gesagt, der geile Macho genieße Vorteile. Aber auch er benötigt
Kontrolle, Ethik und Sozialverhalten. Die Evolution rechtfertigt weder Terror noch
Brutalität. Menschlichkeit und Empathie tragen
meistens weiter. Weder Kannibalismus noch die Kindestötung durch Harems-Herren
lässt sich mit Darwin begründen, erst recht nicht das Töten von Juden durch die
Nazis.
Der
Egoismus ist eine Eigenart des Menschen. Er ist nicht aus Darwins Theorie ableitbar.
Nur der Selbsterhaltungstrieb ist es. Die Natur hat es mehrmals geschafft,
einer Spezies ein ausgeprägtes Sozialverhalten aufzuwingen. Es ist bei
Insekten, also Bienen und Ameisen, unübersehbar. Es gibt es aber auch bei
Säugetieren wie etwa den Nacktmullen. Bei dieser afrikanischen Nagetierart werden
Staaten gebildet mit einer Königin an der Spitze und Wächtern, die sie bewachen.
Beispiele
des Evolutionsprozesses
Außer
den von Darwin studierten Galapagos-Finken kennen wir heute mehrere Beispiele,
die den Evolutionsprozess eindrucksvoll belegen. Waren es bei den Finken 18
verschiedene Arten, die Darwin untersuchte, so kennt man in Ostafrika über 700
getrennte Arten des Buntbarschs. Infolge des Austrocknen der Seen wurden die Populationen
immer wieder getrennt und verändert. Nach Phasen des Steigens des Wassers vermischten
sich die Arten wieder. Von einer eigenen biologischen Art spricht man immer nur
dann, wenn ihre Mitglieder gemeinsame Nachfahren haben können.
Eine
durch eine einelne Genveränderung
entstandene Mutation ist bei Europäern die Laktose-Toleranz. Sie erfolgte vor
rund 10.000 Jahren, als die aus Afrika eingewanderten Menschen damit begannen
Viehzucht zu betreiben und Milchprodukte zu genießen. Die in Afrika
verbliebenen Populationen besitzen diese Mutation nicht. Ähnlich interessant
ist die Sichelzellen-Anämie. Nur wenn beide Elternteile diese Genveränderung
aufweisen, sind die Nachkommen immun gegen Malaria. Hier lässt sich
spekulieren, dass in ganz Afrika diese Genvariante gute Chancen gehabt hätte
sich durchzusetzen, wäre kein anderes Malaria-Gegenmittel erfunden worden.
Ist die
Evolution ein einmaliger Prozess?
Alles
deutet darauf hin, dass die Evolution nur einmal stattgefunden hat. Dasselbe
gilt für den Urknall und die Entstehung des Lebens. Das muss aber nicht so
sein. Darüber darf spekuliert werden. Klar ist nur, dass jeder zweite Start zu
gänzlich andern Ergebnissen führen wird, selbst dann wenn die Startbedingungen
identisch sind.
Als Quintessenz
lässt sich sagen: Der Mensch – aber auch jedes andere Lebewesen − ist das
Ergebnis einer langer Folge von Zufallsmutationen, die selektiert wurden. Das bisherige
Ergebnis ist beachtlich. Je nach Standpunkt wünscht man sich, dass die
vorhandenen Verbesserungsfähigkeiten ausgenutzt werden.
Nachtrag von Peter Hiemann vom 25.7.2019
Es
ist bewundernswert, dass Charles Darwin mit seinen Methoden ohne genetische
Kenntnisse den Mut hatte, eine Evolutionstheorie zu formulieren. Heute wissen
wir, dass die evolutionären Prozesse Replikation, Variation und Selektion die
Vielfalt biologischer Arten bewirkt haben. Der Blog-Eintrag
'Evolutionstheorie im Kreuzfeuer der Kritik' hat mich veranlasst, einige
Überlegungen zum Thema 'biologische Evolution' beizusteuern.
Schon der Physiker Erwin Schrödinger war überzeugt, dass die wesentliche
Eigenschaft des Lebens darin bestehe, Ordnung von Generation zu Generation
weiterzugeben. Da die materielle Verkörperung dieser Ordnung offenbar Platz
findet in einer einzelnen Zelle, müsse sie in Gestalt eines 'Codes' gespeichert
sein. Einige systemische Aspekte sind entscheidend, um das Phänomen der
biologischen Evolution zu erfassen:
(1) Physikalische Aspekte
Rund 100 Jahre nach Charles Darwins Theorie “Über die Entstehung
der Arten“ gelang dem Molekularbiologen James Watson und dem Biochemiker
Francis Crick die epochale Entdeckung, dass die Evolution lebender Strukturen
auf einer molekularen Doppelhelix-Struktur (ähnlich zwei sich umwindenden
Wendeltreppen) beruht. Diese Struktur wird von quantenphysikalischen Kräften
geformt, wie sie der Biochemiker Linus Pauling beschrieben hat. Diese Struktur
besitzt die 'intrinsische' (von innen heraus kommende) Eigenschaft, dass sie
auf einfache biochemische Weise reproduziert werden kann. Zitat James Watson:
„Uns war klar: So wird das Genmaterial kopiert – und genau das war ja das
zentrale Problem des Lebens, sowie Schrödinger in seinem berühmten Buch “Was
ist Leben?“ definiert hatte.“ Darüber hinaus verfügt das sehr große Molekül,
die DNA genannte Substanz, über
verschiedene biochemische Mechanismen, die mit Hilfe von Enzymen Schäden
beseitigen, die bei der Reproduktion von DNA ständig entstehen. Ohne diese
Reparaturmechanismen, wäre eine fehlerfreie Replikation der DNA nicht möglich.
(2) Programmatische Aspekte
Biologische Systeme unterscheiden sich grundlegend von
physikalischen Systemen, weil biologische Systeme programmatische Eigenschaften
besitzen. Ein biologisches System besitzt die Fähigkeiten, sich zu bilden, sich
zu erhalten und sich zu reproduzieren. Nachfolgende Generationen biologischer
Systeme enthalten nicht nur Eigenschaften der Vorgängergenerationen sondern
auch nicht vorhersehbare (emergente) Eigenschaften. Bei sexueller Reproduktion
werden langfristig nur diejenigen individuellen Neukombinationen oder Veränderungen
genetischer Information an Folgegenerationen weitergegeben, die sich
erfolgreich in einer Population von Individuen bewähren.
(3) Interaktive Aspekte
Molekularbiologen befassen sich mit Wechselwirkungen biologisch
aktiver Moleküle. Deren Strukturen bestimmen ihre Funktionen und das
Zusammenwirken zwischen unterschiedlichen Molekülen. Zum Beispiel sind Proteine
nach einem genetischen 'Code' hergestellte Ketten von Aminosäuren, deren
vielfältige Formen und Funktionen durch spezifische Faltungen bestimmt sind.
Bei den molekularen Wechselwirkungen handelt es sich nicht um den Austausch von
Information im technischen Sinn. Vielmehr erweist sich biologischer 'Sinn'
durch das Zusammenwirken vielfältiger Proteine. Lediglich Proteine mit
wechselseitig passenden Formen interagieren miteinander. Biologen bezeichnen
dieses biologische, kooperative Prinzip als “molekulare Komplementarität“. Es
ist besser bekannt als “Schlüssel-Schloss-Prinzip“. Das Resultat
interagierender Proteine ergibt 'Sinn' auf der nächsthöheren biologischen
Systemebene einer Zelle. Das Resultat interagierender Zellen ergibt 'Sinn' auf
der nächsthöheren biologischen Systemebene eines Organs und letztlich eines
Organismus.
Darwin war bei seinen Entdeckungen auf die äußeren Merkmale der Organismen
angewiesen. Wenn wir heute von biologischer Evolution sprechen, beziehen wir
uns auf unterschiedliche organische Systeme wie Sinnessysteme,
Herz-Blutkreislauf-Systeme, Stoffwechselsysteme (Zelle, Darm, Blut),
Immunsysteme oder Nervensysteme. Alle organischen Systeme interagieren
untereinander und mit der Außenwelt. Sie funktionieren auf selbstorganisierte
Weise, mit dem Ziel, einen Gesamtorganismus unter allen Umständen zu
stabilisieren (Homöostase).
Biologische Mutationen bewirken Variationen biologischer Programme. Beim Kopieren des DNA-Moleküls entstehen viele Fehler, die aber postwendend in der Zelle entsorgt (recycelt) werden. Eine selektierte Variation eines Gens wirkt sich in den meisten Fällen auf viele Eigenschaften eines Organismus aus. Häufig wird das Wort 'Evolution' für Entwicklungen benutzt, obwohl kein Programm vorliegt, auf das die Prozeduren Reproduktion, Variation, Selektion angewendet werden könnten. Beim wiederholten Kopieren einer physikalischen Struktur entstehen Strukturen mit zunehmend minderer Qualität.
Biologische Mutationen bewirken Variationen biologischer Programme. Beim Kopieren des DNA-Moleküls entstehen viele Fehler, die aber postwendend in der Zelle entsorgt (recycelt) werden. Eine selektierte Variation eines Gens wirkt sich in den meisten Fällen auf viele Eigenschaften eines Organismus aus. Häufig wird das Wort 'Evolution' für Entwicklungen benutzt, obwohl kein Programm vorliegt, auf das die Prozeduren Reproduktion, Variation, Selektion angewendet werden könnten. Beim wiederholten Kopieren einer physikalischen Struktur entstehen Strukturen mit zunehmend minderer Qualität.
Die Vorstellung, dass biologische Wesen vermittels einmaliger
Schöpfungsakte entstanden sind, hat sich nicht bewährt. Dualistische Hypothesen
von getrennt agierenden Körpern und Geist, haben sich nicht bewährt. Die
Annahme, dass biologische Prozesse und Systeme ausschließlich nach dem Prinzip
'Ursache → Wirkung' funktionieren, hat sich nicht bewährt. Biologische Prozesse
einschließlich neurologischer Prozesse im Gehirn, funktionieren als Einheit auf
selbstorganisierte Weise (ohne zentrale Steuerung). Wir stehen erste am Anfang,
die Rolle des menschlichen ICH-Bewusstseins für die menschliche individuelle
Wesen zu verstehen.
Es ist verwunderlich, wenn heute Wissenschaftler (Antidarwinisten
wider besseres Wissen?) Darwins Erkenntnisse kritisieren, ohne moderne
Evolutionsüberlegungen zu bedenken. Es ist mehr als angebracht, Antidarwinisten
zu widersprechen. Stefan Grafs Buch wird vom Verlag so eingeschätzt: „Er geht
den Einwänden dieser Antidarwinisten unvoreingenommen, spannend und humorvoll
auf den Grund.“ Ob Grafs Aussagen Antidarwinisten überzeugen, kann ich nicht
beurteilen. Ich habe nicht vor, mich näher mit Stefan Grafs Überlegungen zu
befassen.