Sonntag, 21. Oktober 2012

Kosmos als Krimi-Tatort

Als Nicht-Physiker greife ich besonders dann gerne zu einem Physikbuch, wenn ein neues Phänomen entdeckt wurde oder wenn etwa ein Nobelpreisträger sich kritisch mit seiner Wissenschaft auseinandersetzt. Das Buch von Harald Lesch und Jörn Müller mit dem Titel Sternstunden des Universums wurde mir empfohlen, weil es didaktisch sehr gut gemacht sei. Bei den Streifzügen durch Astronomie, Kosmologie und Quantenphysik werden vor allem die Themen herausgegriffen, die dem Mann oder der Frau auf der Straße etwas unheimlich vorkommen. Es gibt Erscheinungen in der Natur, da ist man geneigt zu fragen, was sich die Natur (oder ihr Schöpfer) dabei wohl gedacht hat. Da wir von einem Krimi gewohnt sind, dass der Täter bei dem einen oder anderen Schachzug böswillige Absichten hatte, darf dies bei der Natur als Täter jedoch (anscheinend) nicht angenommen werden. Wenn es doch so erscheint, dann nur, weil wir den Vorgang (noch) nicht richtig verstehen.

Von dieser kriminologischen Interpretation des Buches abgesehen, sind es zwei Thesen, die die Autoren sehr stark vermitteln – ob absichtlich oder ungewollt, sei dahingestellt.

(1) Auch die Physik kann sich nicht damit begnügen, den Zustand der Welt zu beschreiben, als wäre er nur von zeitlos geltenden Gesetzen abhängig und
(2) Nichts deutet darauf hin, dass die Entwicklungsgeschichte der Natur auf den Menschen Rücksicht nahm oder nehmen wird.

Die zu Verdächtigungen Anlass gebenden Ereignisse beginnen mit den Oklo-Sedimentschichten in Gabun, wo die Natur vor Jahrmillionen einen Kernreaktor betrieben hat, setzen sich fort mit Planeten, die von einer Bahn in eine andere springen, gehen über Meteore und Asteroiden, die die Erde geradezu bombardieren und enden mit den Klima-Turbulenzen, die bereits weltweite Gegenmaßnahmen hervorgerufen haben. Supernovas können tödliche Strahlenkeulen in unsere Richtung lenken (etwa vom Sternbild Eta Carinae aus), oder auf einem der inzwischen entdeckten 500 Exo-Planeten könnte doch konkurrierendes Leben entstanden sein (etwa auf Gliese 581g).

Sterngebilde können, was Größe, Masse, Rotationsgeschwindigkeit, Hitze und Leuchtkraft betrifft, alles überbieten, was wir kennen und aushalten können. Wie heute jedes Kind weiß, sind Schwarze Löcher an Gefräßigkeit nicht zu überbieten. Sie haben sogar Objekte geschaffen, für die der Begriff Stern nicht mehr ausreicht. Gemeint sind Quasare. Sie erhalten ihre Energie nicht durch Kernfusion wie einzelne Sterne, sondern durch Akkredition. Sie verschlucken ganze Galaxien.

Die Astronomie und auch die Physik tun gut daran, sich das Weltall und seine Gesetze als das Ergebnis historischer Prozesse vorzustellen. Manche Physiker glaubten früher, sich in dieser Hinsicht von andern Fächern (etwa der Biologie) abheben zu können. Nichts drückt dies klarer aus als die Entstehung der Metalle. Der Metallgehalt (Metallizität genannt) eines Himmelskörpers ist ein klares Indiz für sein Alter. Außerdem haben alle Objekte eine Zukunft, die anders ist als sein jetziges Erscheinungsbild.

Sich den Urknall vor 13,7 Mrd. Jahren vorzustellen, wird immer schwieriger. Nach landläufiger Theorie soll alle Materie, die es in unserem Universum gibt, sich in einem unendlich kleinen Punkt unendlich dicht und bei unendlich hoher Temperatur befunden haben (auch Singularität genannt). Eine bessere Erklärung wollen die String-Theoretiker haben. Sie geben die Forderung nach infinitesimalen Größen auf und ersetzen sie durch Plancksche Einheiten. Unterhalb von Planck-Längen und Planck-Zeiteinheiten können wir nichts feststellen. Dummerweise ist die String-Theorie nicht falsifizierbar. Moderner ist die Annahme, dass die Raumzeit gequantelt ist, d.h. es gibt sie nicht kontinuierlich, sondern nur häppchenweise. Leute, die so rechnen, benutzen Formeln, in denen auch vor dem Urknall etwas war. Es gab Masse, die nicht unendlich klein war. Es gab auch Zeit. Vielleicht war damals der Zeitpfeil sogar umgedreht (so meint es ein Herr Bojowald).

Sehr fundamental ist die Frage, wieso es überhaupt noch Materie gibt. Eigentlich müsste sie längst von Antimaterie ausgelöscht sein. Man glaubt, dass es irgendwann (per Zufall?) einen Überschuss von Materie über Antimaterie gab, und zwar im Verhältnis ein Partikel auf 10 hoch 10 Partikel. Die Folge war, dass die CP-Symmetrie (Ladung, Polarität) verletzt wurde. Daher werden Materie und Antimaterie von der schwachen Kernkraft unterschiedlich behandelt. Der materie-freie Raum ist nur ein falsches Vakuum. Er besitzt negative Energien, die sich in Quantenfluktuationen bemerkbar machen. Ob wir in Zukunft mehr in die Vergangenheit sehen können, hängt von der relativen Geschwindigkeit der Expansion unseres Universums ab. Die Frage ist, was sich schneller ausdehnt, der materie-freie Raum (das falsche Vakuum) oder das wahre Vakuum.

Multiversen sind gedanklich möglich. Sie liegen jenseits vom Hubble-Volumen (das, was wir zurzeit sehen können). In ihnen können andere Naturgesetze gelten als bei uns. Eine zerbrochene Tasse kann sich dort möglicherweise wieder von selbst zusammensetzen. Die große Frage der Kosmologie heißt, wer oder was setzte die Naturkonstanten fest, die die Physik unseres Universums bestimmen? Wieso unsere Werte das sind, was sie sind, ist eines der größten, noch ungelösten Rätsel. Bei manchen der Konstanten macht es die vierte Stelle hinter dem Komma erst möglich, dass wir Menschen überhaupt existieren können.

Dass einer der Autoren (Lesch) auch einen Hang zur Philosophie hat, wird aus folgender Überlegung deutlich. Für die Frage aller Fragen gäbe es zwei Formen:

(1) Wie kommt es, dass überhaupt etwas ist und nicht nichts ist? oder
(2) Warum (oder weshalb) ist überhaupt etwas und nicht nichts?

Der erste Fall sei eine Seinsfrage, die Naturwissenschaftler stellen dürfen. Im zweiten Falle handele es sich um eine metaphysische Frage oder Sinnfrage. Sie gehöre in den Bereich der Philosophie. Dass man die Theologie völlig außen vorlässt, ist überraschend. Wenn ich den Vergleich mit Kriminalgeschichten erneut aufgreife, so kann man dort eine ähnliche Reihenfolge der Fragen feststellen. In Krimis fragt man zuerst, Wer hat es getan und wie? Erst danach fragt man, Warum hat er es getan?

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