Man
möge mir nachsehen, dass ich ein mir naheliegendes Thema erneut aufgreife. Es
gibt immer wieder unterschiedliche Variationen des Themas oder andere Sichten. Natürlich
findet man nicht ungeteilte Zustimmung, wenn man die Informatik als Ingenieurwissenschaft
bezeichnet. Deshalb wird sie im Titel separat erwähnt. Gegen Informatik als
Ingenieurwissenschaft wenden sich einerseits die ehemaligen Mathematiker,
andererseits die Betriebswirte. Die einen stellen wichtige Methoden zur Verfügung,
die andern benennen Anwendungen und Probleme. Der Anlass, dass ich mich heute mit
diesem Thema in meinem Blog befasse, ist eine Kolumne des GI-Vorstandsmitglieds
Dieter Fellner zu Open Access.
Darin schreibt Fellner:
… dass
die prinzipielle Idee hinter Open Access durchaus bestechend ist und man somit
dazu neigt, ohne große Überlegungen dem Ansatz zuzustimmen, speziell, wenn man
den Gesamtprozess einer Publikation von der Idee des Artikels über die noch
dafür zu leistende Forschungsarbeit und die zahlreichen Entwicklungen und Tests
im Labor bis zum Aufschreiben der Ergebnisse bzw. Erkenntnisse selbst
betrachtet. …
korrekterweise [wird] angeführt, dass die somit frei zugänglichen Publikationen
(alle Kosten der Publikation wurden ja schon beglichen und Subskriptionsmodelle
sind damit nicht mehr nötig) zu einer Demokratisierung des Informationszugriffs
führen und zum Beispiel unmittelbar den Forschergemeinden in weniger
entwickelten Ländern zugutekommen. Wer sollte also an solch einem Ansatz etwas
auszusetzen haben? Nun ja, im Prinzip niemand.
Da
Wissenschaftler genau wie Kaufleute nie ohne Klagen auskommen, fügt er hinzu:
… ohne
ergänzende Finanzierung oder begleitende Maßnahmen wird der Forschergemeinde
zwar den kostenfreien Zugriff auf Materialien in Digitalen Bibliotheken
erlauben, die Forscherinnen werden sich Publikationen aber nur mehr in
eingeschränktem Umfang leisten können.
Um den
Kollegen Fellner und damit die GI auf neue Gedanken zu bringen, möchte ich eine
etwas andere Sichtweise propagieren.
Das
Arbeitsergebnis eines normalen Ingenieurs oder eines Informatikers ist ein attraktives,
einsatzfähiges Produkt (oder ein entsprechender Dienst), basierend auf Hardware
oder Software oder beidem. An der Qualität dieses Produkts misst sich seine fachliche Leistung.
Da der Prozess der Produkterstellung und -einführung mehrstufig ist, kann es eine
Arbeitsteilung geben. Architekt, Entwickler, Tester, Technischer Autor, Werber,
Verkäufer, Verteiler, Monteur oder Wartungsingenieur sind nur einige der vorkommenden
Tätigkeiten. Welche Kriterien die Qualität welcher dieser Tätigkeiten bestimmen.
ist hier nicht das Thema. Ingenieure oder Informatiker, die als Berater oder
Lehrer tätig sind, können nur indirekt bewertet werden, nämlich wie gut die von
ihnen beratenen oder ausgebildeten Fachkollegen ihre jeweilige Arbeit machen.
Da diese meistens mit der Produktentwicklung und -betreuung zu tun haben,
schließt sich der Kreis.
Geht
man von dieser Darstellung des Berufsbilds von Ingenieuren und Informatikern
aus, erfüllen Publikationen nur eine untergeordnete Aufgabe. Sie sind nicht das
eigentliche Ergebnis, für das man arbeitet. Wem es gedanklich schwerfällt sich damit abzufinden, denke an andere Berufe wie Ärzte, Juristen oder Lehrer.
Neben
Produkten können Publikationen eine durchaus ergänzende Funktion ausüben. Sie
können dazu dienen, Entdeckungen, Erfindungen und Konzepte auf eine Weise
abzusichern, die das Produkt allein nicht kann. Deshalb muss ein Ingenieur oder
Informatiker auch ans Veröffentlichen denken. Veröffentlichungen können das
Produkt betreffen, oder aber auch Methoden und Hilfsmittel, die zu seiner
Entwicklung führten. Es gibt fünf wesentliche Motive, die hier eine Rolle
spielen können. Man möchte:
- den persönlichen Ehrgeiz befriedigen, dass man der erste war, der ein gewisses Problem gelöst hat, bzw. anderen zuvor gekommen ist, die dies später behaupten würden,
- die eigene wirtschaftliche Existenz sichern, indem man Ansprüche rechtlich absichert (etwa durch Patentierung),
- die Nutzbarkeit des Produkts verbessern, sowie seine Wartung und Weiterentwicklung ermöglichen,
- den eigenen Ruhm vermehren, oder den einer Gruppe oder Organisation, durch Hervorheben der erbrachten Leistungen, oder
- der Menschheit, der Öffentlichkeit oder der Fachwelt einen Dienst erweisen.
Einige
weitere Anlässe gibt es, die nicht ganz so unmittelbar die eigene Forschungs-
und Erfindertätigkeit absichern. Solche zusätzlichen Gründe für Publikationen
können sein:
- man beschreibt Probleme, die man selbst hat, oder die ein Fachgebiet oder eine gesellschaftliche Gruppe hat, und regt damit andere an, nach Lösungen zu suchen,
- man schlägt neue Terminologien, Querbeziehungen oder Systematiken vor,
- man bereitet Material didaktisch auf, illustriert es mit neuen Beispielen für die Nutzung im Unterricht, oder
- man vermittelt zwischen Erfindern und Nutzern, indem man Brücken baut, sie zusammenbringt. Nicht jeder Erfinder will Nutzer werden; nicht jeder Nutzer kann Erfinder sein.
Nicht
diskutieren möchte ich, dass Medienunternehmen, Fachgesellschaften oder Verlage
damit Geld verdienen wollen. Es ist dies zwar ein ernsthafter Grund, liegt aber
auf einer andern Ebene. Der Inhalt ist sekundär.
Statt
das angeschnittene Thema in allen Richtungen zu vertiefen, möchte ich nur noch
einige Zusatzbemerkungen zum Teilthema Bezahlung
von Publikationen machen. Als einfache Regel sollte gelten: Zahlen soll,
wer den Nutzen hat. Von den neun Gründen, die ich genannt habe, warum
Ingenieure und Informatiker publizieren, liegt in sechs Fällen das Interesse auf
Seiten des Autors oder seiner Organisation. Nur bei drei der genannten Fälle könnte
es beim Leser liegen.
Von der Pflicht zur Kür
Von der Pflicht zur Kür
Die für
Ingenieure und Informatiker wichtigste Form der Publikation ist zweifellos die
Patentierung. Sie hat daher in technischen Firmen und gut geführten Instituten
absoluten Vorrang vor allen andern Veröffentlichungsformen. Es dauerte einige
Zeit, bis dass der software-orientierte Teil unserer Branche auch zu dieser
Einsicht kam. Wie in einem früheren Beitrag dieses Blogs
berichtet, ist man in den letzten 10 Jahren vom Jammern zum Handeln
übergegangen. Trotz Kosten von bis zu 50.000 Euro pro Patent, kämpfen
Patentämter gegen eine stetig steigende Flut von Anträgen. Den Schutz, den
Patente bieten, wird von keiner anderen Form von Veröffentlichung auch nur
annähernd erreicht.
Dass
der Streit um Patente oft Scharen von Juristen auf den Plan ruft, sollte nicht
als Argument gegen die Attraktivität dieser Schutzform gewertet werden. Es
belegt nur, dass es oft um nicht unbeträchtliche Streitsummen geht. In
Deutschland ist die Position eines Erfinders gesetzlich besonders geregelt. So
sieht das Erfindervergütungsgesetz Verpflichtungen des Arbeitgebers vor, die es
in andern Ländern nicht gibt. Es sieht vor allem Vergütungen vor, deren Höhe
aus der Erfindung selbst abgeleitet wird.
Bei den
Publikationen, an die Kollege Fellner und die GI denken, geht es vermutlich um die
für Praktiker weniger essentiellen Formen. Neben dem Patentieren denke
ich zunächst an die Pflicht, in der jeder Ingenieur und Informatiker
eingebunden ist. Er muss nämlich das Produkt durch Texte, Skizzen und Bilder
ergänzen, damit es genutzt, gewartet und gegebenenfalls weiterentwickelt werden
kann. Es ist dies ein wesentlicher, aber sehr unbeliebter Teil seiner
Aufgabenstellung. Pflichtübungen haben oft diesen Charakter.
Vom ‚File or Publish‘ zum ‚Publish or Perish‘
Es geht
auch nicht um diejenigen Erfindungen, für die sich die Patentierung nicht lohnen
würde. Hier war es früher üblich, die auf Papier vorliegenden, nicht beim Patentamt
eingereichten Texte von einem Buchbinder in einem Sammelband festhalten zu
lassen und auf einer abgelegenen Pazifikinsel in eine Bibliothek zu stellen.
Damit war die Priorität gesichert, sollte jemand anders für diese Erfindung
Patentschutz beantragen. Heute reicht es vermutlich, einen Text einfach ins Internet zu stellen. Für einen
Erfinder, der gehofft hatte, ein weiteres Patent zu seinem Glorienschein
hinzufügen zu können, war es eine bittere Enttäuschung, wenn die interne
Entscheidung nicht Einreichen (engl. file) sondern Veröffentlichen (engl.
publish) hieß..
Völlig
anders ist die Situation in den nicht-technischen Fachgebieten, wo das Erfindervergütungsgesetz
keine Anwendung findet. Hier gilt das oft zitierte Gesetz ‚Publish or Perish‘
(deutsch: Veröffentliche oder gehe unter). Wem ein einfacher Blog-Eintrag zu wenig
ist, der hat heute die zusätzliche Möglichkeit, das was man für veröffentlichungswürdig
hält, akustisch vor Kollegen vorzutragen, als Video (auf Youtube) zu konservieren
oder auf Glanzpapier zu drucken und allen Kollegen in der Welt per Luftpost zuzuschicken.
Wichtig ist in allen Fällen lediglich, dass man später die Quelle der
Veröffentlichung möglichst exakt bezeichnen kann. Wird als Qualitätssicherung
ein Gutachterprozess zwischengeschaltet, so hat man das, was man als wissenschaftliches
Publizieren bezeichnet. Es ist dies eine Kür, in der die Spitzenforscher des
Fachs glänzen. Der normale Ingenieur und Informatiker – das sind über 90% der
Fachkollegen – lebt in einer völlig anderen Welt. Sie ist von den Pflichtübungen schon weitgehend ausgefüllt.
Die Sonderrolle des Lehrbuchwissens
Nichts
fördert den Ruf eines Wissenschaftlers mehr, als wenn seine Leistungen in
diejenigen Lehrbücher übernommen werden, die von Studierenden eines Fachs als
Teil ihrer Grundausbildung konsumiert werden. Der Berufsanfänger hinterfragt
nicht. Er ist dazu noch nicht in der Lage. Deshalb ist Lehrbuchwissen eine Art
Offenbarung. Man glaubt die Dinge, die andere Leute, die es besser wissen als
man selbst, für richtig
und wichtig halten. In technischen Fächern haben die in erfolgreichen Produkten
realisierten Ideen eine gute Chance zu Lehrbuchwissen zu werden. Der Markt für
Lehrbücher ist der einzige Markt, der sich wirtschaftlich trägt. Hier gibt es
in den Massenfächern genügend Leser mit hinreichend ähnlichen Bedürfnissen und
Interessen, so dass sich gedruckte Auflagen von mehreren Tausend Exemplaren
rentieren.
Programmier-Handbuch
von 1957
Ob es
genügend Lehrbücher geben würde, wenn nur die Autoren zahlen, ist fraglich. Vor
allem hätten einige Informatik-Professoren Bauchschmerzen, müssten sie Programmiersprachen,
Betriebssysteme, Datenbanken, Rechnernetzte, Entwurfsmethoden usw. nur an Hand
von Firmenbroschüren vortragen. Bekanntlich teilte sich der Markt hier schon
sehr früh. So brauchte man von den Produkten, für die sein Hersteller eine
ausführliche Dokumentation zur Verfügung stellte, keine Bücher zu kaufen.
Andere Produkte gab es umsonst, wenn man die entsprechenden Bücher kaufte. Es
ist also für die Hersteller eine Frage des Geschäftsmodells.
Die
Vorstellung, dass Produkthersteller den Buchmarkt beherrschen, ist nicht auf jedem
Gebiet angenehm oder akzeptabel. Es besteht die große Gefahr, dass die Nutzer
in einer bestimmten Richtung beeinflusst werden. Wer dies vermeiden will, muss
sagen, wer daran Interesse hat, dass es nicht geschieht. Sehr schnell ist man
dann beim Staat und den Steuerzahlern. An Vorschlägen zum Geldausgeben mangelt
es bekanntlich nie. Nur merken inzwischen einige Staaten, dass ihre Haushalte
an Grenzen stoßen.
Vom gebundenen Buch zur Loseblatt-Verteilung
Noch
scheint sich der Markt von Lehrmaterialen und Fachzeitschriften dadurch zu
unterscheiden, dass die Erzeugnisse unterschiedlich gebündelt werden. In einem
Falle sind es gebundene Bücher mit mehreren Hundert Seiten, im andern Fall sind
es dünne Hefte mit bis zu 50 oder 80 Seiten. Dieser Aspekt des Publizierens ist
historisch bedingt, und ist gerade dabei sich vollkommen zu ändern. Der Weg
geht dahin, dass man jeden Fachaufsatz einzeln bezieht und jedes Lehrbuchthema
ebenfalls. Für die Bezahlung gilt entsprechendes. Der Trend geht zu Abrufen von
Fachwissen nach Bedarf. An Stelle des Buches, das einen ein Semester lang
begleitet, treten (elektronische) Loseblatt-Sammlungen. Wikipedia ist das Modell, nicht nur für
die Autorenschaft, sondern auch für die Stückelung und Verpackung.
Der
Mitgliedsbeitrag, den eine Fachgesellschaft wie die GI erhebt, wird dazu verwandt
Dienstleistungen anzubieten, die alle Mitglieder bezahlen möchten. Solange man
sich dabei nach dem gemeinsamen Nenner richtet, ist schnell eine Grenze erreicht.
Versucht man jedoch zu differenzieren, ergibt sich vielleicht ein etwas größerer
Spielraum. Ob er ausreicht, um Autoren zu unterstützen, die auf Einnahmen von
ihren Publikationen angewiesen sind, sei dahingestellt. Privaten Medienbetrieben
das Überleben zu sichern, kann nicht Aufgabe einer Fachgesellschaft sein.
Am 28.10.2012 schrieb Gerhard Goos aus Karlsruhe:
Dieser und ein später folgender Beitrag fordern Widerspruch
heraus. Sie sind typisch für einen Angehörigen unserer Generation, der
sein berufliches Wissen während der Arbeit im Betrieb, aber nicht durch
Ausbildung erworben hat. Die Beiträge betrachten als Ziel der Tätigkeit eines Ingenieurs oder Informatikers
ausschließlich die Herstellung von Produkten, die die Kunden befriedigen. Die
anderen Ziele, nämlich Codifizierung positiver oder negativer
ingenieurwissenschaftlicher Erkenntnisse zum Gebrauch durch Dritte und
Ausbildung von Ingenieuren der nächsten Generation werden ignoriert.
Zwei Beispiele:
Die Firma ebm-Pabst (www.ebmpapst.com) hat nahezu ein Monopol auf effiziente und fast geräuschlose Ventilatoren für PCs usw. Wir haben oft genug bei neuen PCs die Ventilatoren ausgebaut und durch Pabst-Produkte ersetzt. Diese Technik ist durch Patente abgesichert und das ist so o.k. Wenn jedoch die ingenieurwissenschaftliche Erkenntnis, dass man Wärme nicht nur durch Wasserkühlung, sondern auch durch Ventilatoren abführen kann, durch Patente geschützt wäre, gäbe es heute nur einen PC-Hersteller auf der Welt, der seine Produkte dann zu stark überteuerten Preisen verkaufen könnte. Das würde zwar der Firma helfen, aber die allgemeine Nutzung von PCs um Jahrzehnte zurückwerfen. Die derzeitigen Patentstreitigkeiten zwischen Apple und Samsung gehen um ähnliche Fragen: Ist ein bestimmtes Prinzip geschützt oder nur eine bestimmte Art der Realisierung des Prinzips?
Ich habe 1966/67 die korrekte Implementierung von Semaphoren aus dem handschriftlich kommentierten Maschinensprachentext des TR4-Betriebssystems (des Kollegen Seegmüller) von 1962 gelernt. Aber wer hatte damals überhaupt die Chance, einen solchen Produkttext zu lesen? Und was wäre passiert, wenn Dijkstra das Verfahren 1961 zum Patent angemeldet hätte und das Patent dann Philips zur ausschließlichen Nutzung überlassen hätte? Dann hätte nicht nur IBM Schwierigkeiten gehabt, sondern die ganze Methodik korrekter Prozeßsynchronisierung wäre um Jahrzehnte verzögert worden.
Allgemeiner gilt: Die Industrie lebt von Produkten und dazu gehörigen Dienstleistungen. Die gesellschaftliche Aufgabe von Hochschulen ist es, geistes-, natur- und ingenieurwissenschaftliche Erkenntnisse zu produzieren und solche Erkenntnisse an andere weiterzugeben. Letzteres kann auch durch Produkt- oder Prototypenentwicklung unterstützt werden. Aber wissenschaftliche Erkenntnis, das gilt auch für die Ingenieurwissenschaften, ist frei; die Universität darf sie nicht einseitig ausschließlich an eine Firma verkaufen wollen.
Ein Musterbeispiel, wie das zu verstehen ist, bildet das WZL (Werkzeugmaschinenlabor) der RWTH Aachen. 1906 gegründet und von Prof. Herwart Opitz bis 1973 ausgebaut ist das WZL samt zugehöriger FhG-Institute mit heute vermutlich über 1000 Mitarbeitern und 6 Ordinarien der international bewunderte Kern der deutschen Werkzeugmaschinen- und Maschinenbauindustrie. Die Forschung ist frei, ihre Ergebnisse werden veröffentlicht. Die Industrie lebt von den Ideen, die am WZL entwickelt und getestet wurden, und hilft entsprechend großzügig bei der Modernisierung und dem Ausbau.
Im Kleinen kennen wir das auch in der Informatik. Wenn sich das MPI in Saarbrücken um geometrische Algorithmen bemüht oder mein Karlsruher Kollege Sanders demonstriert, wie man effizient 100 Millionen Datensätze sortiert, so sind das keine Produktentwicklungen, sondern zuerst einmal Machbarkeitsstudien. Die abstrakten zugrundeliegenden Verfahren werden veröffentlicht. Diese Verfahren mit allen unschönen realen Randbedingungen umzusetzen und dabei die stetig wechselnden Arbeitsbedingungen verschiedener Parallelrechnergenerationen zu berücksichtigen ist Aufgabe der Industrie.
Dann gibt es da noch das im Ingenieurwesen wie in der Informatik unverzichtbare Thema "Messen". Wenn eine Firma die Leistung ihres Produkts misst, so ist das Ergebnis geheim und höchstens für Werbung öffentlich. Aber wer vergleicht die Leistungen konkurrierender Produkte, veröffentlicht den Vergleich und hilft damit den potentiellen Kunden, vor allem aber auch dem Fortschritt, der das zugrundeliegende Prinzip des Leistungsbesten auszeichnet?
Schließlich sollte man auch die historische Betrachtung nicht übersehen. Die Ihnen wohl bekannte Frau Fran Allen erhielt den Turing-Preis für Ihre Beiträge zum Übersetzerbau. Die Produkte, zu denen sie beigetragen hat, oder für deren Konstruktion sie die Verantwortung trug, sind, angefangen vom Fortran H - Übersetzer vom Markt verschwunden und zumindest in ihrer Urform vermutlich nicht einmal mehr als Programmtext verfügbar. Der Fortschritt, der durch diese Produkte realisiert wurde, schlägt sich heute in den Publikationen der damaligen Entwickler und, darauf aufbauend, in Lehrbüchern nieder. Wissenschaftliche Erkenntnis und technischer Fortschritt wird von Menschen erzielt, nicht von Firmen. Produkte illustrieren diesen Fortschritt, aber sie sind selbst nicht der Fortschritt.
Zwei Beispiele:
Die Firma ebm-Pabst (www.ebmpapst.com) hat nahezu ein Monopol auf effiziente und fast geräuschlose Ventilatoren für PCs usw. Wir haben oft genug bei neuen PCs die Ventilatoren ausgebaut und durch Pabst-Produkte ersetzt. Diese Technik ist durch Patente abgesichert und das ist so o.k. Wenn jedoch die ingenieurwissenschaftliche Erkenntnis, dass man Wärme nicht nur durch Wasserkühlung, sondern auch durch Ventilatoren abführen kann, durch Patente geschützt wäre, gäbe es heute nur einen PC-Hersteller auf der Welt, der seine Produkte dann zu stark überteuerten Preisen verkaufen könnte. Das würde zwar der Firma helfen, aber die allgemeine Nutzung von PCs um Jahrzehnte zurückwerfen. Die derzeitigen Patentstreitigkeiten zwischen Apple und Samsung gehen um ähnliche Fragen: Ist ein bestimmtes Prinzip geschützt oder nur eine bestimmte Art der Realisierung des Prinzips?
Ich habe 1966/67 die korrekte Implementierung von Semaphoren aus dem handschriftlich kommentierten Maschinensprachentext des TR4-Betriebssystems (des Kollegen Seegmüller) von 1962 gelernt. Aber wer hatte damals überhaupt die Chance, einen solchen Produkttext zu lesen? Und was wäre passiert, wenn Dijkstra das Verfahren 1961 zum Patent angemeldet hätte und das Patent dann Philips zur ausschließlichen Nutzung überlassen hätte? Dann hätte nicht nur IBM Schwierigkeiten gehabt, sondern die ganze Methodik korrekter Prozeßsynchronisierung wäre um Jahrzehnte verzögert worden.
Allgemeiner gilt: Die Industrie lebt von Produkten und dazu gehörigen Dienstleistungen. Die gesellschaftliche Aufgabe von Hochschulen ist es, geistes-, natur- und ingenieurwissenschaftliche Erkenntnisse zu produzieren und solche Erkenntnisse an andere weiterzugeben. Letzteres kann auch durch Produkt- oder Prototypenentwicklung unterstützt werden. Aber wissenschaftliche Erkenntnis, das gilt auch für die Ingenieurwissenschaften, ist frei; die Universität darf sie nicht einseitig ausschließlich an eine Firma verkaufen wollen.
Ein Musterbeispiel, wie das zu verstehen ist, bildet das WZL (Werkzeugmaschinenlabor) der RWTH Aachen. 1906 gegründet und von Prof. Herwart Opitz bis 1973 ausgebaut ist das WZL samt zugehöriger FhG-Institute mit heute vermutlich über 1000 Mitarbeitern und 6 Ordinarien der international bewunderte Kern der deutschen Werkzeugmaschinen- und Maschinenbauindustrie. Die Forschung ist frei, ihre Ergebnisse werden veröffentlicht. Die Industrie lebt von den Ideen, die am WZL entwickelt und getestet wurden, und hilft entsprechend großzügig bei der Modernisierung und dem Ausbau.
Im Kleinen kennen wir das auch in der Informatik. Wenn sich das MPI in Saarbrücken um geometrische Algorithmen bemüht oder mein Karlsruher Kollege Sanders demonstriert, wie man effizient 100 Millionen Datensätze sortiert, so sind das keine Produktentwicklungen, sondern zuerst einmal Machbarkeitsstudien. Die abstrakten zugrundeliegenden Verfahren werden veröffentlicht. Diese Verfahren mit allen unschönen realen Randbedingungen umzusetzen und dabei die stetig wechselnden Arbeitsbedingungen verschiedener Parallelrechnergenerationen zu berücksichtigen ist Aufgabe der Industrie.
Dann gibt es da noch das im Ingenieurwesen wie in der Informatik unverzichtbare Thema "Messen". Wenn eine Firma die Leistung ihres Produkts misst, so ist das Ergebnis geheim und höchstens für Werbung öffentlich. Aber wer vergleicht die Leistungen konkurrierender Produkte, veröffentlicht den Vergleich und hilft damit den potentiellen Kunden, vor allem aber auch dem Fortschritt, der das zugrundeliegende Prinzip des Leistungsbesten auszeichnet?
Schließlich sollte man auch die historische Betrachtung nicht übersehen. Die Ihnen wohl bekannte Frau Fran Allen erhielt den Turing-Preis für Ihre Beiträge zum Übersetzerbau. Die Produkte, zu denen sie beigetragen hat, oder für deren Konstruktion sie die Verantwortung trug, sind, angefangen vom Fortran H - Übersetzer vom Markt verschwunden und zumindest in ihrer Urform vermutlich nicht einmal mehr als Programmtext verfügbar. Der Fortschritt, der durch diese Produkte realisiert wurde, schlägt sich heute in den Publikationen der damaligen Entwickler und, darauf aufbauend, in Lehrbüchern nieder. Wissenschaftliche Erkenntnis und technischer Fortschritt wird von Menschen erzielt, nicht von Firmen. Produkte illustrieren diesen Fortschritt, aber sie sind selbst nicht der Fortschritt.
Nachbemerkung (Bertal
Dresen):
Leider
unterliegt Kollege Goos demselben fatalen Denkfehler, den viele Kollegen machen. Sie
betrachten Patente nicht als bleibende Veröffentlichung, sondern eher als bewusste
Geheimhaltung. Statt ihre Vorlesungen und Lehrbücher auf relevanten Dokumenten
der Patentämter zu basieren (Kellerprinzip, MP3), halten sie nur das für zitierfähig,
was bei Verlagen gedruckt wurde. Dabei schützen Patente lediglich gegen die Nutzung
in kommerziellen Produkten. Daraus folgt die ebenso falsche Schlussfolgerung,
dass Fortschritt nur das ist, was nicht patentiert wurde. Genau gegen diese
Fehleinschätzung kämpfe ich seit Jahren.
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