Ich
setzte heute die etwas unangenehme Diskussion fort, die ich vor einer Woche in
diesem Blog wieder aufgegriffen
habe. Damals war der Anlass die Frage, wer den Hochschulangehörigen ihre
Veröffentlichungen bezahlen soll – sie selbst, die Steuerzahler oder die Leser?
Die
Frage, die im heutigen Titel steckt, scheint auf einen ungeheuerlichen Verdacht
hinzuweisen. Ich rüttele bei vielen an einer Glaubensgewissheit. Dass einzelne
Studierende oder Altersgruppen an der Hochschule auf die schiefe Bahn geraten
können, dafür gab es immer wieder Indizien, nicht nur in den 1960er Jahren. Es
gibt dabei Unterschiede zwischen Universitätsstädten und Fächern. Berlin,
Frankfurt und Freiburg waren schlimmer als Aachen, Karlsruhe und Eichstätt; die
Geistes- und Sozialwissenschaftler waren stärker gefährdet als die Ingenieure
und Physiker. Dass die staatlichen Hochschulen als Einrichtung aber dem
Gemeinwesen schaden könnten, das sie alimentiert, passt nicht in die
landläufige Vorstellung.
Mein Kollege
Peter Mertens, Emeritus einer bekannten deutschen Universität, brachte mich auf
die Idee, meine Leser einmal etwas zu schockieren. Er wies mich dieser Tage zum
wiederholten Male daraufhin, dass den Hochschulen von staatlicher Seite in
wesentlichen Aspekten falsche Anreize gegeben werden. In einem Vortrag [1], den
er im letzten Jahr in Zürich hielt, belegte er dies zwar nur mit vielen eher anekdotischen
Fallbeispielen, aber doch sehr überzeugend. Er zeigte, dass in seinem Fach, der
Wirtschaftsinformatik, die deutschen Hochschulen Gefahr laufen, dem Wirtschaftsstandort
Deutschland Schaden zuzufügen.
Ich
werde jetzt diese neue Gruselgeschichte nicht Schritt für Schritt erklären,
sondern verweise auf die Arbeit von Mertens. Nur so viel: Die falschen Anreize
ergeben sich primär daraus, dass Bewerber für Planstellen an Hochschulen
vielfach nur nach einem einzigen Kriterium bewertet werden, den Veröffentlichungen
in internationalen Fachjournalen (mit AAA-Bewertung). Dem gegenüber stellen die
Anforderungen an einen Lehrstuhlinhaber so etwas wie die Disziplinen eines Zehnkampfs dar. Für die Auswahl des
akademischen Nachwuchses benutze man vielfach eine Zielfunktion
mit den
Variablen xi und den Gewichten gi. Die zehn
Variablen xi sind in der folgenden Tabelle beschrieben. Alle
erhalten das Gewicht 1 nur x3 erhält Gewicht 91. Wo solche
Bewertungen angewandt werden, ̶ meint Kollege Mertens ̶ wäre
jemand schlecht beraten, wenn er sich für Forschungsprobleme interessieren würde,
die nur für Deutschland relevant sind. Außerdem kann er davon ausgehen, wenn er
in Englisch veröffentlicht, dass seine Ergebnisse früher in Ländern zur
Anwendung kommen, die mit uns im Wettbewerb stehen, als zuhause in Deutschland.
Was Mertens
für die Wirtschaftsinformatik konstatiert, gilt meines Erachtens erst recht für
einen Professor der Informatik, der Ingenieurwissenschaften, der Architektur
oder gar der Kunst. Hier kommt noch hinzu, woran ich im früheren Blog erinnerte,
dass nämlich die Leistungen eines Fachmanns auf diesen Gebieten nicht an seinen
Publikationen bewertet werden (sollten), sondern an Entwürfen, Erfindungen und
Produktideen, einschließlich deren Realisierung. Wäre es so und gäbe es eine Einheit
von Forschung und Lehre (‚Humboldt 2.0‘ nennt es Mertens), dann brauchte man
sich in diesen Fächern um den Nachwuchs keine Sorgen zu machen.
Nach
Mertens schaden die falschen Anreize seinem akademischen Fachgebiet. Irgendwann
bleiben Studenten weg und damit die öffentlichen Mittel. Diese Sorge ist aus
seiner Sicht verständlich. Die Konsequenzen, die ich befürchte, sind allerdings
erheblich gravierender. Zerstört wird nicht nur ein einzelnes universitäres
Lehrgebiet, sondern die Wirtschaft des Landes wird geschädigt, und damit unser
Wohlstand. Deshalb habe ich die Darstellung möglicher Konsequenzen von Peter Mertens etwas
modifiziert. Ein Land, dem fähige und motivierte Entwickler fehlen, wird im
internationalen Wettbewerb zurückfallen. Aus dem Exportüberschuss wird ein
Defizit. Ein zu großes Defizit führt zu Sparmaßnahmen und zur Rezession. Die
globale Wirtschaft verschiebt nämlich laufend den Ort ihrer Wertschöpfung, und zwar
nicht nur bei der Suche nach Bodenschätzen und Kostenvorteilen (z.B. niedrige
Löhne und Steuern), sondern auch entsprechend den zur Verfügung stehenden technisch
qualifizierten Arbeitskräften.
Falsche Anreize und
ihre Folgen (frei nach Mertens [1])
Eng
verwandt mit der Frage, welche Anreize wir geben, ist die Frage nach anerkannten
Lehrmeistern und Vorbildern. Da wir leicht dazu neigen, nur auf das Ausland zu schauen,
habe ich mich in diesem Blog bemüht, auch in Deutschland einige Leitbilder zu
identifizieren. Sie finden sie vor allem in den folgenden beiden früheren Beiträgen
Unternehmer und Erfinder aus der
Informatik, Teil I und Teil II. Dies sind übrigens zwei meiner am meisten
gelesenen Beiträge. Aber auch die Kategorien: Erinnerungen an verstorbene Kollegen
und Interviews mit lebenden Kollegen dienen diesem Zweck.
Einen
Punkt aus dem Vortrag von Peter Mertens möchte ich noch kommentieren. Es ist
auch in der Industrie nicht üblich, dass Kollegen konstruieren, also entwerfen,
die nie ein Produkt gebaut oder getestet haben. Für Hochschulleute ist es deshalb
sehr empfehlenswert, mit dem vergleichenden Testen zu beginnen. Viele Kollegen
in der Industrie haben als Tester angefangen und wechselten später in die Entwicklung.
Sich in die Rolle eines Nutzers zu versetzen, kann sehr lehrreich sein. Von
echten Fehlern, die man dabei entdeckt, gelangt man zu Ideen für Erweiterungen
für neue Nutzergruppen. Es ist wichtig, auch an Hochschulen über technische Produkte
und professionelle Dienste nachzudenken. Man sollte dies nicht als unwissenschaftlich
abtun, als Fachhochschulniveau.
Zu dieser
kritischen Betrachtung, zu der mich Kollege Mertens ermunterte, möchte ich eine
zweite hinzufügen. Es geht dabei um die zwangshafte Verwissenschaftlichung der Ingenieurfächer. Ich kleide meine
Gedanken zunächst in die Worte meines früheren IBM-Kollegen Tom Simpson aus
Wheaton, MD. Er nahm an der Nachfolge-Tagung zu Garmisch teil, die 1969 in Rom
stattfand, und hatte einen Text eingereicht, der als ‚Masterpiece
Engineering‘
überschrieben ist. Brian Randell, der Schriftführer der beiden
NATO-Konferenzen, hat mehrmals versucht, diesen Text zu veröffentlichen. Er
wurde immer wieder daran gehindert. Er steht jetzt auf der Homepage seiner früheren
Universität (Newcastle upon Tyne). Die Geschichte spielt in Italien im 15. Jahrhundert.
Ich zitiere daraus in Englisch.
It seems that a group of people had gotten together to
discuss the problems posed by the numbers of art masterpieces being fabricated throughout
the world; at that time it was a very flourishing industry. They thought it
would be appropriate to find out if this process could be
"scientificized" so they held the "International Working
Conference on Masterpiece Engineering" to discuss the problem…
Production was still not reaching satisfactory levels
so they extended the range of masterpiece support techniques with some further
steps. One idea was to take a single canvas and pass it rapidly from painter to
painter. While one was applying the brush the others had time to think. The
next natural step to take was, of course, to double the number of painters but
before taking it they adopted a most interesting device. They decided to carry
out some proper measurement of productivity. Two weeks at the Institute were
spent in counting the number of brush strokes per day produced by one group of
painters, and this criterion was then promptly applied in assessing the value
to the enterprise of the rest. If a painter failed to turn in his twenty brush
strokes per day he was clearly under-productive.
Regrettably none of these advances in knowledge seemed
to have any real impact on masterpiece production and so, at length, the group
decided that the basic difficulty was clearly a management problem. One of the
brighter students (by the name of L. da Vinci) was instantly promoted to
manager of the project, putting him in charge of procuring paints, canvases and
brushes for the rest of the organization.
Die Moral dieser Geschichte lautet: Auch wenn man Farben,
Leinwände und Pinsel nach wissenschaftlichen Methoden herstellt oder beschafft,
und alle Arbeitsabläufe rational organisiert, heißt das nicht, dass automatisch Gemälde entstehen, die man als Kunstwerke
akzeptiert. Fortschritte des Wissens sind kein Allheilmittel. Oder anders gesagt: Ingenieure und Informatiker, die meinen durch 'bessere'
Methoden alle Probleme lösen zu können, werden enttäucht sein. Es bleibt ein Bereich, der sich der Wisssenschaft nur schwer erschließt. Hier hilft die Empirie, auch Management genannt. Empirisches
Wissen kann äußerst nützlich sein, auch wenn es keine erklärende Theorie dazu
gibt.
Studierende der Informatik und der
Ingenieurwissenschaften müssen lernen, zuerst nach Problemen, Anwendungen und Produktideen
zu suchen, dann nach Methoden, die bei der Lösung bzw. Realisierung helfen –
nicht umgekehrt. Methoden sind das Mittel, Produkte und Dienstleistungen der
Zweck. Würden wir nur noch Leute haben, die über Probleme und Methoden zu ihrer Lösung debattieren, aber keine,
die Probleme auch lösen, also die besten Wissenschaftler der Welt und die
schlechtesten Unternehmer, wäre dies nicht optimal für das Land. Die dauernde Privilegierung
der Wissenschaft gegenüber andern Bereichen der Gesellschaft kann – im
Extremfalle – diese Situation herbeiführen. Eine Wirtschaft, die nur Banker und
keine Auto- und Maschinenbauer mehr kennt, wäre leichter zu verkraften.
Probleme können durch Anwendungen an ein Fachgebiet
von außen herangetragen werden. Das muss sein und ist wichtig. Nur ist das
nicht die einzige Quelle. Das Fachgebiet Informatik kennt sehr viele Probleme
und Aufgaben, die sich von innerhalb des Fachgebiets ergeben. Alles, was mit
der Anpassbarkeit, der Benutzbarkeit, den Kosten, der Lebensdauer, den Nebenwirkungen,
der Sicherheit, der Wartbarkeit, der Zuverlässigkeit unserer Produkte und
Dienste zu tun hat, ist ein dem Fachgebiet inhärentes Problem.
Schließlich ist Verwissenschaftlichung in den technischen
Fächern auch nicht mit Mathematisierung gleichzusetzen. Wie schon des Öftern gesagt,
dienen Mathematik und Formale Methoden zur Beschreibung von Phänomen oder Problemen,
nicht zu deren Erklärung bzw. Lösung. Damit Sie aber nicht glauben, ich sei gegen die Wissenschaft oder gegen die wissenschaftliche Methode, möchte ich Sie beruhigen. In einem früheren Eintrag dieses Blogs sagte ich: Die Menschheit hat nichts Besseres, um ihr Verständnis der Welt zu verbessern und um viele ihrer Probleme zu lösen.
Zusätzliche
Referenz
1. Mertens, P.: Die Zielfunktion des
Universitätslehrers der Wirtschaftsinformatik – Setzen wir falsche Anreize? 10th
International Conference on Wirtschaftsinformatik. 16.-18. Februar 2011, Zürich.
Ein Video des Vortrags gibt es auch.
Nachtrag am 24.10.2012:
Die folgende Passage in den VDI-Nachrichten,
dem Sprachrohr der Ingenieure, sollte zur Besorgnis Anlass geben:
Gewandelt haben sich in den vergangenen
Jahren aber andere Anforderungen der Universitäten. „Die Qualität der
Publikationen war bislang kein zentraler Faktor, jetzt wird es immer
wichtiger“, hat Jeschke festgestellt. Ursache dafür ist die von der Deutschen
Forschungsgemeinschaft (DFG) und dem Wissenschaftsrat begleitete
Exzellenzinitiative. „Universitäten suchen Forscherpersönlichkeiten, die in der
Lage sind, in der Spitzenliga deutscher Universitäten mitzuspielen. Die
Publikationsliste ist bei der Auswahl ein zentraler Benchmark“, sagt sie.
Nachtrag vom 29.10.2012:
Mit seinem Kommentar in diesem
Blog lieferte Gerhard Goos ungewollt einen Beweis für meinen Verdacht, dass
die Tätigkeit der Hochschulen uns nicht immer zum Segen gereicht.
Kollege Goos erwähnte mit Recht, dass ich fast mein gesamtes Fachwissen
nicht an Hochschulen erworben habe. Als Folge davon neige ich nicht dazu
alles, was Hochschullehrer sagen, von Vorherein für Gold zu halten und alles,
was von außen kommt, für Blech zu erklären. Ich bin in diesem Punkte total unverbildet
und werde es auch bleiben.
Manchmal könnte man meinen, es gäbe eine Art
von Verschwörung. Indem man nur das, was in AAA-Journalen publiziert wird, für Wissenschaftler
als wissenswert erklärt, ist alles andere per Definition unwissenschaftlich. Da
junge Gehirne leicht zu beeinflussen sind, glauben einige von diesen, dass es reicht,
nur ‚wissenschaftlich‘ gebildet zu sein. So vererbt sich die Kurzsichtigkeit.
Mit Goethe möchte ich ausrufen: Mehr Licht! Hinterfragt, was man Euch sagt. Lasst Euch nichts vormachen. Fragt nach den wahren Innovatoren
und Erfindern Eures Faches, also auch nach denen, die nicht alles in AAA-Journalen
veröffentlichten.
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