Nach zwei Beiträgen (am 10. Oktober und 18. Oktober), die möglicherweise das Selbstverständnis einiger
Informatikerinnen und Informatiker etwas ankratzten, drängt sich jetzt eine naheliegende
Ergänzung auf. Als Grenzgänger zwischen akademischer und praktischer Informatik
behandle ich gerne Themen, bei denen die unterschiedlichen Sichten zu
kollidieren scheinen. Wenn überhaupt die beiden Seiten miteinander reden, ̶ also Interesse für einander zeigen ̶
redet man auch schon mal aneinander
vorbei. Man muss sich dann anstrengen, um die unterschiedlichen Weltsichten
überhaupt zu verstehen. Es ist auch nicht damit getan, nur einer Seite den
Spiegel vorzuhalten. Wenn Dinge nicht so sind, wie sie sein sollten oder sein
könnten, fällt dies auf das gesamte Fachgebiet zurück. Viele Dinge, die ich
seit meiner beruflich aktiven Zeit bemerkte, benötigten die durch das Alter
gegebene Distanz, bevor ich sie anzusprechen wagte. Dieses ist ein solches
Thema.
Da das Thema etwas umstritten ist, möchte ich mich zunächst wieder hinter
einem prominenten Kollegen verstecken. In diesem Falle ist es Ernst
Denert [1], der bereits 1993 für das Teilgebiet Software Engineering die im
Titel gestellte Frage wie folgt beantwortet hatte:
Professoren für Software Engineering
müssen in der Wirtschaft Projekte gemacht haben. Das ist viel besser als eine Habilitation,
die m.E. sogar schädlich ist, sofern sie eine reichliche Praxiserfahrung
verhindert.
Obwohl sich durch den so genannten Bologna-Prozess in den letzten 20 Jahren
sehr gravierende Änderungen an den Hochschulen ergeben haben, blieb das Thema Habilitation
davon weitgehend unberührt. Noch erfüllte sich die Hoffnung, der Kollegen wie Jochen
Ludewig anhingen, dass nämlich die Informatik als Ganzes sich allmählich zu
einer konstruktiven Ingenieurdisziplin entwickeln würde. Da ich diese Auffassung
von Informatik im Wesentlichen teile, beschränke ich mich bei diesem Beitrag
absichtlich nicht auf Software Engineering. Im Titel betone ich erneut die Gemeinsamkeiten
zwischen Informatik und Ingenieurwesen.
Damit ich eine klare Ausgangsbasis habe, zitiere ich zunächst einige
Passagen aus der Habilitations-Ordnung
der Universität Stuttgart. Über den Zweck einer Habilitation heißt es dort:
Die
Habilitation ist die Anerkennung einer besonderen Befähigung für Forschung und
Lehre in einem bestimmten Fach oder Fachgebiet.
Man beachte, das Wort Anerkennung. Die Habilitation wird in
Stuttgart nicht (mehr) als Voraussetzung für die Ausübung einer akademischen
Lehrtätigkeit angesehen. Man erwirbt lediglich den Titel Dr. habil. Für die Habilitation sind dreierlei Leistungen zu
erbringen (1) eine Habilitationsschrift (2) ein wissenschaftlicher Vortrag und
(3) eine studienbezogene Lehrveranstaltung. Am ausführlichsten wird die
Habilitationsschrift behandelt. Erforderlich ist eine:
… in der Regel in deutscher oder
englischer Sprache abgefassten Habilitationsschrift oder – bei kumulativer
Habilitationsleistung – die Vorlage nach der Promotion erstellter und im thematischen
Zusammenhang mit dem Fach oder Fachgebiet, für welches die Lehrbefugnis
verliehen werden soll, stehender wissenschaftlicher Veröffentlichungen, aus
denen die Eignung der Bewerberin bzw. des Bewerbers zu der der
Professorenschaft aufgegebenen Forschungstätigkeit hervorgeht.
Während die Leistungen (2) und (3) die didaktische und pädagogische
Seite der späteren Lehrtätigkeit betreffen, soll durch Leistung (1) die Eignung
für die Forschungstätigkeit nachgewiesen werden. Das Problem ist, dass dies nur
aufgrund von (papiernen) Veröffentlichungen in besonders hochgeschätzten
Journalen für möglich gehalten wird. Bei Technischen Universitäten, wie dies
Stuttgart eine ist, nehme ich an, dass dort Patente als Veröffentlichungen
behandelt werden. Dass ein prämierter Entwurf, den ein Architekt vorlegte, als
Veröffentlichung zählt, glaube ich schon. Realisierte Produktkonzepte, egal ob
in Hardware oder Software müssten eigentlich die gleiche Rolle spielen. Da habe
ich jedoch große Zweifel. Wenn der Begriff Veröffentlichungen in dieser allgemeineren
Weise (also etwas ingenieur-freundlicher) interpretiert würde, hätte ich an den
Kriterien nichts auszusetzen. Als einzige Frage bleibt, wie man am besten und
schnellsten zu guten Ingenieurleistungen kommt. Es wäre fatal, wenn die Meinung
vorherrschen würde, dass dies nur durch Ausharren im Dienste eines Lehrstuhls oder
einer Universität möglich ist. Dann wäre Aufklärung und Umdenken dringend
nötig.
Ergänzen möchte ich noch, dass der Begriff Forschen zurzeit inflationär
missbraucht wird. Nicht alles, was Hochschulleute tun, ist Forschung. Wenn sie
ihre Studenten befragen, ob ihnen das Mensaessen schmeckt oder ob die
Bildschirme hell genug sind, kann dies je nach Situation bereits Forschung
sein. In einem Industriebetrieb würde man dasselbe als Teil der
Arbeitsplatzgestaltung ansehen. Böse Zungen berichten von Leuten, die sich zehn
Jahre lang als Forscher ausgaben, ohne dabei etwas entdeckt oder erfunden zu
haben. Die Frage ist, wer die Maßstäbe festlegt. Es ist sicher nicht optimal,
wenn dies die Forscher selbst tun. So wie man den Studentenausweis gerne
behält, um an billige Fahrkarten zu kommen, betreiben manche Leute Forschung,
weil es dafür öffentliche Gelder gibt.
Ob die Habilitation schädlich ist, muss man aus zwei Perspektiven
beantworten. Einmal ist es das Interesse des Fachgebiets, andererseits die Sicht
des Individuums. Im ersten Falle gäbe es eine Reihe von Fragen:
- Hat die für notwendig gehaltene Habilitation Kandidaten von einer akademischen Laufbahn abgehalten, die geeignet gewesen wären, die Aufgaben eines Professors (d.h. die Zehnkampf-Disziplinen von Mertens) gut zu erfüllen?
- Hat die Habilitation jemanden davon abgehalten, sich mit für das Fachgebiet wichtigeren Problemen zu beschäftigen, sofern dies eine Option gewesen wäre?
- Hat die Habilitation öffentliche Mittel verschlungen, die besser für etwas anderes hätten eingesetzt werden können?
- Wurden Leute, weil sie sich habilitiert hatten, andern Kandidaten gegenüber vorgezogen, die besser qualifiziert waren?
Die Sicht des Individuums kommt bei den folgenden Fragen zur Geltung.
- Verführt der traditionelle Weg über eine Habilitation junge Menschen dazu, in ihrer Lebensplanung bzw. in ihrer Karriere unverantwortbare Umwege einzulegen?
- Führt eine Tätigkeit in der Industrie dazu, dass man den wissenschaftlichen Gehalt seiner Arbeit nicht erkennt bzw. dass er nicht anerkannt wird?
Diese Fragen können nur von Fall zu Fall beantwortet werden. Obwohl sie
im Allgemeinen zu verneinen sind, gibt es jedoch immer wieder Konfliktsituationen,
d.h. Menschen, die sich durch das "Gepenst" Habilitation unter Druck
gesetzt fühlen, sich dennoch nicht von ‚wichtigeren‘ Aufgaben und ‚sinnvolleren‘
Arbeiten abhalten lassen, und – wie mir ein Kollege versicherte – dies dann als
Entschuldigung bei Berufungsgesprächen anführen.
Ich möchte dem Kollegen Denert nicht widersprechen, möchte jedoch etwas
differenzierter argumentieren. Eine akademische Stellenausschreibung sollte sagen,
welche Qualifikation erforderlich ist und nicht wie sie erworben wurde. Viel
wichtiger als das Wort Habilitation zu vermeiden ist es, wenn die Informatik
anerkennen würde, dass einem Lehrer ohne eigene Erfahrungen in der Entwicklung
von Anwendungssystemen oder ̶ noch besser ̶ von Produkten doch Einiges fehlt. Wissen aus
zweiter Hand wird von jungen Menschen sofort als solches erkannt und
entsprechend gering geschätzt.
Die Bedeutung einer ‚klassischen‘ Habilitation ist in der Mathematik
groß, wo Anwendungen nur eine untergeordnete Rolle spielen. Genauso ist es in den Geisteswissenschaften.
Manche Informatiker mögen geglaubt haben, dass ihre Akzeptanz an allgemeinen Hochschulen
davon abhängt, welche Anerkennung sie bei Mathematikern und Philosophen finden.
Das gilt nicht für Technische Hochschulen, wo Ingenieure und Praktiker einen starken
Einfluss haben. Das Fach Informatik besitzt im Vergleich zu Fächern wie Maschinenbau
und Elektrotechnik eine relativ kurze Geschichte. Da es erste Lehrstühle erst
ab etwa 1970 gab, konnte sich bis dahin niemand in Informatik habilitieren. Entweder
wurden Mathematiker, Elektroingenieure oder Praktiker berufen. Hatte sich jemand
vorher habilitiert, dann in einem anderen Fach als der Informatik. Das änderte
sich in den 1980er Jahren, als die Informatik an vielen Universitäten und Technischen
Hochschulen fest etabliert war. Da Informatik an beiden Hochschultypen vertreten
ist, versucht sie beiden Traditionen gerecht zu werden. Es ergaben sich nicht
nur – im Vergleich zu Ingenieuren – sehr viele Promotionen, sondern auch eine beträchtliche
Anzahl von Habilitationen in Informatik.
Untersuchungen über die tatsächliche Dauer von Habilitationsverfahren
sind mir nicht bekannt. In einer an der RWTH Aachen durchgeführten Befragung,
über die Manfred
Nagl berichtet, betrug das
Durchschnittsalter bei Promotionen in Ingenieurwissenschaften und Informatik 33
Jahre bei einer durchschnittlichen Promotionsdauer von 5,4 Jahren. Dies weicht
erheblich von Mathematik, Medizin und Geisteswissenschaften ab. In der Medizin
z.B. zählt man die Dauer einer Dissertation in Monaten statt Jahren. Rechnet
man etwa vier Jahre für eine Habilitation ergibt dies ein Lebensalter on 37-38
Jahren. Im Allgemeinen wissen Informatiker und Ingenieure ihre Lebenszeit recht
sinnvoll zu nutzen. Im Gegensatz zu einigen andern akademischen Berufen besteht
kein Mangel an Stellen.
Ob es überhaupt sinnvoll ist, eine so lange Zeit ausschließlich für die Berufsvorbereitung anzusetzen, darf hinterfragt werden. Viele moderne Berufe verändern innerhalb von 30 Jahren ihr Profil, also den erforderlichen Wissensstand. Es gibt natürlich auch Ausnahmen, wo Wissen zeitlos ist. Einige Vertreter dieser Fächer sind als wahrhaft große Dulder bekannt, z.B. Kunsthistoriker, Ornithologen und Assyriologen. Natürlich hat eine Habilitation in der Medizin, wo etwa 60% der Absolventen promovieren, einen andern Stellenwert als in den Ingenieurwissenschaften, wo weniger als 10% promovieren. Informatiker liegen in diesem Punkt näher an den Ingenieuren als an den Medizinern.
Ob es überhaupt sinnvoll ist, eine so lange Zeit ausschließlich für die Berufsvorbereitung anzusetzen, darf hinterfragt werden. Viele moderne Berufe verändern innerhalb von 30 Jahren ihr Profil, also den erforderlichen Wissensstand. Es gibt natürlich auch Ausnahmen, wo Wissen zeitlos ist. Einige Vertreter dieser Fächer sind als wahrhaft große Dulder bekannt, z.B. Kunsthistoriker, Ornithologen und Assyriologen. Natürlich hat eine Habilitation in der Medizin, wo etwa 60% der Absolventen promovieren, einen andern Stellenwert als in den Ingenieurwissenschaften, wo weniger als 10% promovieren. Informatiker liegen in diesem Punkt näher an den Ingenieuren als an den Medizinern.
Als Alternative zur Habilitation wurde in einigen Bundesländern die
Juniorprofessur eingeführt. Daher ist die
folgende Aussage eines ehemaligen Juniorprofessors
an der Uni Konstanz interessant. Es handelt sich um einen Geisteswissenschaftler.
Die Habilitation erfreut sich nicht nur
fröhlicher Urständ, sondern ist in den Geisteswissenschaften deutlich gestärkt
gegenüber der Juniorprofessur, die nur dann irgendeine Bewerbungsqualität aufweist,
wenn sie mit einer Habilitation verbunden ist oder aber genau die gleiche
Leistung erbracht wurde, die für eine Habilitation notwendig ist.
Es ist mein Eindruck, dass in der Informatik die Juniorprofessur
durchaus als Alternative zur Habilitation akzeptiert wird. Vielleicht ist es möglich,
dass sich die Informatik an Technischen Universitäten und allgemeinen Universitäten
unterschiedlich weiterentwickelt. An allgemeinen Universitäten achtet man auf
akademische Titel, bei technischen Universitäten ist man eher zu sachbestimmten
Lösungen bereit. Zu sehr auseinanderdriften sollten sie jedoch nicht. Das Für
und Wider der Habilitation wird auch sehr ausführlich in Wikipedia behandelt. Es
geht dabei um die Rolle der Habilitation ganz allgemein, ohne Blick auf die
Informatik.
Zusätzliche Referenzen:
- Denert, E.: Software-Engineering in Wissenschaft und Wirtschaft: Wie breit ist die Kluft? Informatik-Spektrum 16,5 (1993), 295-299
- Den Kollegen Rul Gunzenhäuser und Hartmut Wedekind danke ich für anregende Diskussionen zu diesem Thema. Die Verantwortung für evtl. Fehlinterpretationen übernimmt der Autor
Am 26.10.2012 schrieb Jochen Ludewig aus Stuttgart:
AntwortenLöschenIch sehe die Habilitation in der Tat als schädlich an, wenn sie in einem praktischen Fach angefertigt wird. Denn es ist ja nicht nur so, dass die Habilitierten etliche Zeit aufgewendet haben für diese Formalübung. Sie haben sich damit auch auf eine akademische Welt eingelassen, die mit der Praxis wenig zu tun hat. Kennen Sie einen einzigen habilitierten Hochschullehrer, der nennenswerte Zeit in der Industrie verbracht hat? Für Theoretiker mag das ja akzeptabel sein, aber für einen Software-Ingenieur?