Dienstag, 11. Juni 2019

KI zwischen Utopie und Distopie

Kaum ein anderes Thema beschäftigt die fachliche wie die öffentliche Diskussion in diesen Tagen in vergleichbarem Umfang wie die Künstliche Intelligenz (Abk. KI, engl. artificial intelligence, Abk. AI). Nur das verwandte Thema Digitalisierung erreicht eine ähnliche Aufmerksamkeit. Beide Themen hatten ihren Ursprung im Fachlichen, haben diesen Bereich jedoch seit einigen Jahrenzehnten verlassen. Der Anlass für diesen Beitrag ist das Buch Künstliche Intelligenz (2018, 272 S.) der freien Wissenschaftsjournalistin und promovierten Philosophin Manuela Lenzen (Das Geburtsjahr der Autorin konnte ich nicht finden, dafür aber verrät sie uns, dass sie mit ihrer Familie und ‚ein paar Hühnern, Schafen, Kaninchen, Katzen, Goldfischen und was Kinder sonst noch so haben möchten‘ in einem alten Zieglerhaus im Lipperland lebt).

Wie in Deutschland üblich befasst sich das Buch gut zur Hälfte mit den Problemen, die uns die KI schon heute bereitet, aber vor allem in Zukunft bereiten kann. Das ist die Distopie. Nur ganz am Schluss gesteht die Autorin, dass KI eigentlich Stoff für eine Utopie sei. Als Techniker erlaube ich es mir, die Reihenfolge zu vertauschen.

Notwendige Utopien

Eine Utopie ist eine Welt, in der wir leben möchten. Techniker brauchen sie, ja alle Menschen brauchen sie. Wir möchten einen Verkehr, der sicher, pünktlich und individualisierbar ist. Wir möchten keine ungesunden und anstrengenden Arbeiten machen. Wir möchten eine Güterproduktion ohne lange Transportwege, wo Losgröße 1 möglich ist. Wir möchten eine Nahrungsmittelversorgung, die ohne Schäden für die Umwelt erfolgt und uns wohlbekommt. Wir möchten, dass alle Gifte und Abfälle, die der Umwelt überlassen werden, erkannt und beseitigt werden. Wir möchten, dass individuelle Erkrankungen früh erkannt und gezielt behandelt werden. Wir möchten kluge, energiesparende Häuser, Wohnungen und Betriebstätten, eine kluge und freundliche Stadt- und Staatsverwaltung. Wir möchten alle unsere Lernprozesse und die Entwicklung unserer Persönlichkeit individuell gestalten. Wir möchten auf öffentliche Datenbestände zugreifen können mit Suchmaschinen, die nicht betrügen. Wenn KI dies alles ermöglicht, dann - so die Autorin - bitte mit Prüfsiegel, das erklärt, was als zuverläßlich gilt.

Aufgebauschte Distopien

Ein selbstfahrendes Auto hat in Kalifornien einen Menschen getötet. Daran denkt jeder. Nicht jedoch denkt man an die zehn Menschen, die täglich auf deutschen Straßen sterben. Roboter seien schuld, wenn Automobilfabriken Arbeiter entlassen. Zur gleichen Zeit jammern fast alle Unternehmer über den Mangel an Fachkräften und die nicht besetzbaren Lehrstellen. Das Unkrautmittel Glyphosat verursacht angeblich Krebs. Früh erkannte Erbkrankheiten erhöhen die Zahl der Abtreibungen. Penible Wohnungs- und Betriebsüberwachung öffnet das Scheunentor für jede Form der politischen und gesellschaftlichen Überwachung. Individuelle Lehr- und Lernmethoden konterkarieren das Gleichheitsideal. Je mehr Daten über Menschen vorliegen, umso leichter sind diese zu manipulieren. Was China seinen Bürgern antut, dazu waren Nazis und DDR-Kommunisten zum Glück noch nicht in der Lage.

Schreckensbilder zu malen hat fast immer den Zweck, eine potentielle Gefahr zu verdeutlichen. Nur indem man auf sie aufmerksam macht, lässt sich eine Entwicklung abwenden, die unerwünscht ist. Das Abwägen von Vorteilen gegenüber Nachteilen ist Teil der normalen Tätigkeit eines Ingenieurs. Nichts ist unabänderlich, sagte Angela Merkel neulich zu den Absolventen von Harvard.

Ursprungsmythos eines Fachgebiets

So wie das Fachgebiet Software Engineering 1968 in Garmisch, so entsprang die KI  aus einem Treffen von Akademikern und Praktikern 1956 in Dartsmouth, MA. Zwei der Teilnehmer dieses Treffens sind den Lesern dieses Blogs bekannt. Es sind dies John McCarthy (1927-2011) und Nat Rochester (1919-2001). Um diese Zeit versuchte man sich bereits an der Programmierung von Spielen wie Dame (Arthur Samuel, Poughkeepsie, NY) und GO (Horst Remus, Böblingen). Andere Autoren befassten sich mit dem automatischen Erstellen mathematischer Beweise. Die Ergebnisse haben noch nicht sehr beeindruckt.

Einen Achtungserfolg erzielten Projekte, die sich als Expertensysteme ausgaben (Mycin, Dendral). Sie codierten das Spezialwissen eines Haut- oder Nervenarztes, um anderen Ärzten oder Laien die Möglichkeit zu verschaffen, sinnvolle Diagnosen zu machen. Meine Mitarbeiter wandten dieses Verfahren an, um Problemsituationen bei Betriebssystemen durch Nicht-Experten bearbeiten zu können. Die Erfolge waren sehr abhängig von der Art der Wissensquelle und der Stabilität des zu analysierenden Systems. Der Ansatz war leider nicht skalierbar, so dass das Interesse schnell verflog.

Da die Kunde von Misserfolgen sich schnell verbreitete, ließ bei den Sponsoren der akademischen Forschung das Interesse nach, weitere Mittel für die KI zu bewilligen. Es folgte, was weltweit als KI-Winter bezeichnet wurde. Die einzige Ausnahme war Deutschland, wo die Bundesregierung die Forschungsförderung in KI kontinuierlich aufstockte. Mit dem DFKI, das ich im September 2013 in diesem Blog vorstellte, entstand eine imposante Großforschungseinrichtung. Seit 2018 ist die Firma Google als Geschäftspartner und Investor am DFKI beteiligt.

Steter Fortschritt und Massenerfolg

Neue Fachgebiete entstehen meist durch Abspaltung aus einem älteren Fachgebiet, so wie die Physik einst aus der Philosophie und die Technik aus der Physik entand. Ursprünglich zur KI gehörten die Muster- und Spracherkennung mit dem maschinellen Übersetzen sowie die Robotik. Heute betreuen eigene Lehrstühle diese Gebiete. Der technische Fortschritt auf diesen Gebieten war enorm. Er erfolgte ziemlich kontinuierlich.

Anders war es mit dem Thema maschinelles Lernen (engl. machine learning, Abk. ML). Hier war der Fortschritt über lange Zeit sehr gering und sporadisch. Das änderte sich in den letzten Jahren, einerseits durch schwellenhaftes Anwachsen der Rechnerleistung und der digital und online verfügbaren Datenmengen, andererseits durch neue Methoden. Hier ist es vor allem das so genannte Tiefe Lernen (engl. deep learning), das der KI zu einem neuen Frühling verhalf. Geoffrey Hinton und seine zwei Kollegen, denen wir dieses Verfahren zu verdanken haben, wurden durch den diesjährigen Turing-Preis der ACM geehrt.

Es ist daher nicht verwunderlich, dass bei KI heute fast nur noch an ML gedacht wird. Wenn heute davon die Rede ist, dass wieder sehr viel in KI investiert wird, werden fast immer die fünf bis sechs Marktführer der IT-Branche (Apple, Amazon, Google, Facebook. Microsoft und IBM gefolgt von Alibaba, Baidu und Tencent) genannt. Akademische Projekte haben kaum noch Relevanz. Wer weiß was ML ist, der könne sich eines Stellenangebots von Google sicher sein – so heißt es.

Anthromorphismus und Konkurrenz zum Menschen

Wie erwartet, fühlt sich die Philosophin Lenzen sehr angesprochen von allen Versuchen, Vergleiche zum Menschen auszudrücken und zu bewerten. Das beginnt mit der Verwendung von Anthromorphismen. Überall liest man, dass Computer sehen, hören, sprechen, planen, denken, lernen, analysieren und handeln. Anstatt KI wäre ‚anthropomorphes Computing‘ für sie ein besser passender Begriff. Auch zwingt die KI uns dazu, die Begriffe Intelligenz, Autonomie, Kreativität, Gefühle und Bewusstsein besser zu verstehen.

Wir wissen, dass Computer heute bereits viele Dinge besser können als der Mensch, genauer gesagt, als einzelne Menschen. Es kann sehr sinnvoll sein, derartige Spezialfähigkeiten weiter zu steigern. Schlecht schneiden Computer immer da ab, wo verschiedene Fähigkeiten zusammenspielen oder wo allgemeines Weltwissen gefragt ist. Das Cyc-System, an dem Douglas Lenat (*1950) seit über 30 Jahren arbeitet, hat inzwischen 500.000 Begriffe, 17.000 Beziehungen und 7 Millionen Sätze. Es hatte bisher weniger Erfolg als das System Watson, das sein Wissen aus nicht-formatierten Daten gewinnt. Es muss von Fachgebiet zu Fachgebiet neutrainiert werden, was nicht immer überzeugend war. Das System Watson macht ausführlichen Gebrauch von einem Hypothesen-Generator, der anschließend bewertet und eliminiert.

Auch wurden die Fortschritte in der Sprachverarbeitung nicht durch bessere linguistische Methoden und Analysen erzielt, sondern durch die massenhafte Verwendung von Musterübersetzungen aus dem europäischen und kanadischen Parlament. Bezeichnend ist das Zitat von Fred Jelinek, dem Leiter eines Projekts bei IBM: ‚Jedes Mal wenn ich einen Linguisten feuere, verbessert sich die Sprachübersetzung‘.

Lernen heißt Hypothesen bilden und mit der Realität vergleichen

Dass wir überhaupt lernen können, verdanken wir der Tatsache, dass die Welt nicht chaotisch ist. Wir müssen nicht wissen, wie und warum etwas funktioniert, um es beherrschen zu lernen. Moderne maschinelle Lernverfahren benötigen sehr viele Daten, weil dies die künstlichen neuronale Netzte (Abk. KNN) erfordern. Dass Spielprogramme sich verbessern, indem sie gegen sich selbst spielen, klingt geradezu nach ‚Science Fiction‘. Ein Roboter ist umso flexibler, je differenzierter sein Weltbild ist. Mehrere Roboter können in dasselbe KNN hinein lernen.

Die Frage, die John Searle (*1932) einst stellte, ist auch bei Googles Alexa weiterhin offen, Es ist zu bestreiten, dass Computer je Texte so ‚verstehen', wie wir Menschen sie verstehen. Manuela Lenzen hält dieses Frage für zweitrangig.

Auch Big Data hat Grenzen

Die KI hat das Potential, auch der Wissenschaft zu mehr Durchblick zu verhelfen. Sie kann dabei helfen, große Datenmengen zu sichten und Hypothesen aufzustellen. Das klingt ganz gut. Es ist nämlich meist kein Problem Korrelationen in den Daten zu finden. Korrelationen dürfen aber nicht als Kausalitäten missverstanden werden, wie das Beispiel Störche und Kleinkinder erklärt.

Je mehr in der Medizin die Patientendaten anonymisiert werden, desto weniger wertvoll seien sie. Dennoch versucht in Deutschland die medizinische Informatik verstärkt Patientendaten zu sammeln, die sie bis 2022 verfügbar machen will. Es ist vorstellbar, dass demnächst eine von Computern erstellte Diagnose genauer ist als die eines Arztes. Damit ist dieser Beruf in keinster Weise gefährdet.

Prognosen zum Arbeitsmarkt und zur Evolution

Manuela Lenzen hält die Idee, dass wegen KI die Arbeit ausgeht, für absurd. Dass es jedoch zu Veränderungen kommt, ist unvermeidlich. Es werden weniger niedrig qualifizierte, aber viele hoch qualifizierte Arbeitskräfte benötigt. Ein bedingungsloses Grundeinkommen (Abk. BGE) löse das falsche Problem, da der normale Mensch arbeiten will.

‚Kommt mal wieder auf den Teppich!‘ So ruft Manuela Lenzen ihren Lesern zu. Computer hätten keine Machtinstinkte. Sie sperren uns Menschen nicht in den Kaninchenstall. Unsere Wirtschaft wächst, da überall investiert wird, im Moment mit KI als starker Grund.

Dass Computer, wenn sie sich einmal selbst trainieren, mehr und schneller lernen als wir Menschen, mag Ängste erwecken. Da die Evolution durch das Zusammenwirken von Geschöpfen erfolgte, die Erworbenes vererben konnten, warum sollten wir nicht eines Tages in der Lage sein, unsere Computer zu beerben? Es gäbe dann eine Art gemeinsame Evolution. Mit Hilfe intelligenter Maschinen müssen wir uns und diese Maschinen immer wieder korrigieren und verbessern. Gut wäre es, wenn dies dezentral erfolgen würde.

Montag, 3. Juni 2019

Dieter Rombach über die digitale Ertüchtigung der westpfälzer Wirtschaft und Wissenschaft

Dieter Rombach (*1953) ist seit 2018 Senior Forschungsprofessor im Fachbereich Informatik der TU Kaiserslautern. Davor war er von1992 bis 2018 Professor für Software Engineering im Fachbereich Informatik der TU Kaiserslautern. Im Jahre 1996 gründete er das Fraunhofer-Institut für Experimentelles Software Engineering (IESE) in Kaiserslautern und war bis Ende 2015 dessen geschäftsführender Institutsleiter. Von 2015 bis 2018 war er Institutsleiter Business Development des Fraunhofer IESE, seit 2018 Executive Berater des IESE. Seit 2015 amtiert er ehrenamtlich als Vorstandsvorsitzender der Science & Innovation Alliance Kaiserslautern (SIAK) und seit 2018 als Chief Digital Officer (CDO) der Stadt Kaiserslautern. Rombachs Forschungsschwerpunkte lagen im Bereich ingenieursmäßigen Methoden zur Entwicklung von Software mit vorhersagbarer Qualität, quantitativen Methoden zum Messen und Bewerten von Softwareprodukten und -prozessen zum Zwecke des Projektmanagements und der Qualitätssicherung; ferner Sprachen, Methoden und Werkzeugen zur Erstellung und zum Management von Entwicklungsprozessen auf der Basis expliziter Softwareprozessmodelle; sowie empirischen Methoden und deren Anwendung zur Bestimmung der Effekte von Methoden der Softwareentwicklung. Im Jahr 2009 ehrte die finnische Universität Oulu ihn für sein Lebenswerk als Softwareingenieur mit der Ehrendoktorwürde. Im gleichen Jahr wurde er mit dem Verdienstkreuz am Bande der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet. Rombach ist Fellow der ACM (seit 2010) und der IEEE Computer Society (seit 2003). Rombach ist Autor von mehr als 200 wissenschaftlichen Veröffentlichungen.



Bertal Dresen (BD): Das IESE lernte ich in seiner Gründungs- und Aufbauphase kennen. Seine damalige Forschungsrichtung wurde sehr stark von Vic Basili und seinen Kollegen beeinflusst, die an der University of Maryland die empirischen Methoden des Software Engineering populär machten. Das IESE ist heute eine Forschungseinrichtung mit etwa 250 Mitarbeitern. Die Themenspanne reicht von Automobil- und Transportsystemen über Automatisierung und Anlagenbau, Energiemanagement, Informationssysteme und Gesundheitswesen bis hin zu Softwaresystemen für den öffentlichen Sektor. Folgende Schlagworte stehen auf der Homepage: Smart Rural Areas, Smart Ecosystems, Industrie 4.0, Big Data, Cloud Computing und Business Goes Mobile. Können Sie mir erklären, was diese phänomenale Entwicklung und Ausweitung bewirkte. Was ist der gemeinsame rote Faden, der alle diese Aktivitäten verbindet, wenn wir einmal davon ausgehen, dass heute fast auf allen Gebieten der Technik Software-Strukturen und Software-Qualität eine gewisse Rolle spielt?

Dieter Rombach (DR): Das Erfolgsrezept des Fraunhofer IESE war es, von Anfang an auf skalierbare und Fakten-basierte Software-Entwicklungsmethoden zu setzen. Alle unsere Methoden sind sowohl für kleinere als auch grössere Softwaresysteme robust einsetzbar und darüber hinaus haben wir (über experimentelle Ansätze) Fakten zur Effektivität und Effizienz unserer Methoden in unterschiedlichen Kontexten verfügbar. Damit haben wir den ingenieurmässigen Anspruch umgesetzt, nämlich „Prozess-Produkt-Einflüsse“ quantifizieren zu können. Dies reduziert das Einführungsrisiko neuer Methoden in das industrielle Umfeld signifikant. Durch die wachsende Bedeutung der Digitalen Transformation wurden unsere Angebote in allen Sektoren der Wirtschaft und Gesellschaft benötigt, und die Ausweitung auf System Engineering durch meinen Nachfolger Peter Liggesmeyer hat ein Übriges bewirkt. Heute ist das Fraunhofer IESE bundesweit führend bei der Entwicklung von Middleware-Plattformen für Industrie 4.0 (siehe BaSYS4.0) und kognitive Landwirtschaft (COGNAC).

BD: Was sehen Sie als die herausragenden Ergebnisse Ihrer Tätigkeit am IESE an? Welches dieser Ergebnisse hat Sie am meisten überrascht? Wo ist der Nutzen besonders klar erkennbar?

DR: Herausragendes Ergebnis ist sicherlich die Tatsache, dass ein solches auf Wirtschaftskooperationen angewiesenes Fraunhofer-Institut in einer kleinen Großstadt wie Kaiserslautern aufblühen kann und nachhaltig  die Entwicklung ganzer Wirtschaftssektoren positiv beeinflussen kann. Ein weiteres herausragendes Ergebnis ist sicherlich der maßgebliche Beitrag zur Wirtschaftskonversion in Kaiserslautern. In den letzten 15 Jahren sind laut Wirtschaftsförderung der Stadt ca. 10.000 neue Arbeitsplätze entstanden und große Firmen wie John Deere haben Kaiserslautern (und insbesondere die Kooperationsmöglichkeiten mit dem Fraunhofer IESE) zum Anlass genommen hier Ihre Forschungs-und Entwicklung für Europa zu konzentrieren. Darüber hinaus hat das IESE inzwischen einen ausgezeichneten Ruf als Innovationsbeschleuniger bei vielen Firmen in Deutschland – aber auch weltweit. Wissenschaftler aus vielen Ländern tragen zum bunten Bild der Kulturen im IESE bei.

BD: In dem Interview im Jahre 2011 meinten Sie, dass noch sehr viel zu tun sei, bis empirische Modelle im Software Engineering (SE) sich durchsetzen. Täuscht mich mein Eindruck, dass das Interesse an SE als Wissenschaft und praktische Methodik auf dem Rückzug ist? Nehmen nicht wissenschaftlich weniger rigorose Ansätze die Aufmerksamkeit in Anspruch, nicht zuletzt die Methoden der Künstlichen Intelligenz (KI)? Was glauben Sie, was als Aufgabe für die SE-Forschung übrig bleibt?

DR: Empirisches Software Engineering existiert auch im Fraunhofer IESE nicht mehr als Forschungsgebiet. Statt dessen hat es sich als Querschnittsaufgabe in allen Abteilungen festgesetzt. Die grundlegende Forschung im empirischen Software Engineering wird seither im Universitätsumfeld durchgeführt und fokussiert im Kontext Big Data auf die Analyse heterogener Datensätze sowie deren Visualisierung. Allerdings ist es inzwischen breiter akzeptiert, dass – unabhängig welche Methoden und Technologien bei der Entwicklung eingesetzt werden – Kenntnis über deren Effekte Voraussetzung für ziel-orientiertes Management ist.

BD: In der einleitenden Beschreibung Ihrer Tätigkeit wird die Science & Innovation Alliance Kaiserslautern (SIAK) erwähnt. Sie versteht sich als ein Netzwerk für digitale Transformation, Zukunftsinnovationen und interdisziplinäre Spitzenforschung. Ihre Mitglieder sind Hochschulen und Forschungsinstitute sowie Wirtschaftsunternehmen – insbesondere aus dem Mittelstand. Ihr Ziel ist es, Kaiserslautern und die Westpfalz zu einen national und international herausragenden Standort zu machen. Welche konkreten Maßnahmen haben Sie ergriffen, um ihr Ziel zu erreichen? Wo sind erste Ergebnisse zu erkennen?

DR: Der Wissenschaftsstandort Kaiserslautern hat alle wesentlichen Kompetenzen zur Beschleunigung der Digitalen Transformation in hoher Qualität vertreten: (a) Ingenieurswissenschaften (z.B.: TU und IVW), Informationstechnik/Software (z.B.: Fraunhofer IESE und ITWM, Max-Planck-Institut für Software), Big Data und KI (z.B.: DFKI). Es gibt in Deutschland wenige Standorte mit einem solchen breiten Angebot – es gibt keinen Standort, der Max-Planck und Fraunhofer zu diesen Themen hat. Ziel der SIAK ist es, diese Kompetenzen weiter zu vernetzen und damit noch attraktiver für die Wirtschaft zu werden. Erste Erfolge sind die Ansiedlung der Europäischen Forschungszentrums von John Deere (ETIC) zu Fragen der Autonomie und daten-basierter Dienstleistungen, die deutsche Führerschaft bei der Entwicklung von industrie-weiten Plattformen für Industrie 4.0 (BaSYS4.0) und kognitiver Landwirtschaft (Cognac), aber auch die Erfolge und Führerschaft der „Herzlich Digitalen“ Stadt Kaiserslautern, deren erster CDO ich ehrenamtlich bin.

BD: Im oben erwähnten Interview sprachen Sie viel von einem saarländisch-pfälzisch-hessisch-badischen Forschungsverbund. Ist diese geografische Orientierung inzwischen überholt? Dank Ihrer fachlichen Verbindung zur University of Maryland schienen Sie thematische Gemeinsamkeiten stets hoch einzuschätzen.

DR: Ich bin überzeugt, dass nur interdisziplinäre und über Standorte vernetzte Zusammenarbeit den heutigen disruptiven Herausforderungen im Kontext der Digitalen Transformation gerecht werden kann. Dazu gehören Standort-Netzwerke wie die SIAK, regionale nationale Netzwerke wie der in Ihrer Frage angesprochen Softwarecluster zwischen dem Saarland, Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Hessen, aber auch internationale thematische Netzwerke mit den USA (z.B.: Maryland) und anderen Ländern in Europa und darüber hinaus. Gerade die internationalen Netzwerke sind durch die Kombination kulturell unterschiedlicher methodischer Herangehensweisen besonders fruchtbar.

BD: Noch keinen Niederschlag auf Ihrer Homepage hat das von Ihnen kürzlich angetretene Amt des Chief Digital Officers (CDO) der Stadt Kaiserslautern gefunden. Wie Ihr Oberbürgermeister der Presse sagte, erwartet er, dass Sie den Slogan „herzlich digital“ verwenden. Sie sollen die ‚Digitalisierung nicht um ihrer selbst willen betreiben, sondern an der Lebenswirklichkeit der Menschen ausrichten. Alle Projekte sollen einen nachgewiesenen Nutzen für die Bevölkerung erbringen‘. Abgesehen davon, dass Sie jetzt einen Arbeitsplatz im Rathaus haben, wie glauben Sie, wie Sie der Stadt helfen zu können, die sicherlich sehr hohen Erwartungen der Bürger zu erfüllen? Sind Ihre Ansprechpartner primär die Bürger, also die Privatleute der Stadt oder auch Behörden und Unternehmen?

DR: Meine Aufgabe als CDO ist es aufgrund meiner Erfahrungen in der Informatik aber auch meinen Erfahrungen bei der Umsetzung die Roadmap so zu gestalten, dass wir zum einen die technischen Möglichkeiten nutzen, aber dies zum Nutzen der Bevölkerung gestalten. „Herzlich digital“ bedeutet, dass jedes unserer Digitalisierungsprojekte einen messbaren Nutzen (hier ist also wieder Empirie notwendig!) für die Bevölkerung hat, dass mit persönlichen Daten verantwortlich umgegangen wird, dass die Finanzierung nachhaltig möglich ist, und dass in allen Bereichen eine Balance zwischen analogen und digitalen Alternativen erhalten bleibt. Mit diesem Ansatz haben wir eine enorme Akzeptanz und Unterstützung bei der Bürgern, Firmen und Behörden erzielt. Regelmässig tausche ich mich mit Bürgern über einen breit aufgestellten Beirat aus und berichte Ergebnisse an den Stadtrat.

BD: Bei dieser Geschichte fällt mir das Sprichwort ein: ‚Nach dem Rathaus ist man schlauer‘. Sind es im Grunde nichts mehr als gute Worte und Ratschläge, die Sie Ihren Besuchern geben können? Wo glauben Sie, dass Sie etwas bewirken können? Wird die Stadt Kaiserslautern demnächst nicht mehr wieder zu erkennen sein?

DR: Schlaue Sprüche würden eher das Gegenteil bewirken. Wir nehmen die Bürger aktiv mit, indem wir in Arbeitsgruppen gemeinsam neue Digitalisierungsangebote identifizieren. Heute bereits ist Kaiserslautern Vorreiter in Rheinland-Pfalz (offiziell so durch die Landesregierung bezeichnet), einige unserer digitalen Verwaltungsangebote haben bundesweit in Wettbewerben erste Preise erhalten, und auch bundesweit werden wir anerkannt. Wir arbeiten daran, dass schrittweise die Stadt in allen Bereichen digitalisiert wird.

BD: Laut unserem Kollegen Manfred Broy ist die Digitalisierung eine Art von Revolution, die kaum Vergleichbares in der Vergangenheit hatte. Sie sei die ‚größte technologische Veränderung in Wirtschaft, Gesellschaft, aber auch Politik in der letzten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts und der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts‘. Sehen Sie dies auch so? Werden Aktionen, wie die der Stadt Kaiserslautern, diesem Ereignis gerecht?

DR: Dieser Einschätzung des Kollegen Broy kann ich nur ohne Vorbehalt zustimmen. Der revolutionäre Charakter kommt zum einen durch die ungeheuere Geschwindigkeit der technischen Revolutionen, zum anderen durch die Auswirkungen auf alle Bereich von Wirtschaft und Gesellschaft zustande. Dies stellt natürlich auch für uns in Kaiserslautern eine große Herausforderung dar. Wir glauben allerdings, dass die nutzen-orientierte Vorgehensweise (Herzlich Digital), die Nutzung der breiten technisch wissenschaftlichen Ressourcen vor Ort (SIAK), aber auch unsere sozial-wissenschaftliche Begleitforschung zur Mitnahme breiter Kreise der Bevölkerung (Projekt „Dialog Zivilgesellschaft“) diesen Herausforderungen gerecht werden.

BD: Lieber Herr Rombach, haben Sie vielen Dank, dass Sie mir und meinen Lesern diesen Einblick gewähren in die Vielzahl der Tätigkeitten, mit denen Sie sich in Ihrer Stadt und in Ihrem Bundesland engagieren. Mögen diese Aktivitäten Ihnen Freude und Zufriedenheit bereiten!

Freitag, 24. Mai 2019

War der Europa-Wahlkampf doch kein Langweiler?

Der Wahlkampf zur bevorstehenden Europa-Wahl erschien vielen Kommentatoren ein Nicht-Ereignis zu sein. Da ich nicht draußen herumlaufe oder herumfahre, konnten mir keine plakatierten Stadtstraßen und Alleen auffallen. Ob diese Art der Geldverschwendung und Umweltverschmutzung überhaupt stattfand, entging mir. Außerdem ging ich zu keiner einzigen Wahlveranstaltung, etwas was ich in den letzten 50-60 Jahren ohnehin nie tat. Dennoch habe ich nie eine Wahl ausgelassen.

Klassisches TV-Geplänkel

Was etwas dahinplätscherte, waren ein paar Fernseh-Diskussionen, in denen nationale Politiker ihre allseits bekannten Meinungen von sich gaben. Eine gewisse Ausnahme bildete das Paar der europäischen Spitzenkandidaten. Manfred Weber für die Konservativen und Frans Timmermanns für die Sozialisten stellten sich mehrmals den Fragen von Journalisten oder Zuschauern. Weber schlug sich brav und provozierte kaum. Timmermanns wirkte engagierter, etwa so wie seinerzeit Martin Schulz. Er beeindruckte mit einem akzentfreien Hochdeutsch und stellte damit sein bayrisches Gegenüber oft in den Schatten. Manchmal variierte er das Tempo und die Lautstärke und verriet seine Leidenschaft für einige der Themen, mit denen er als Stellvertreter von Jean Claude Juncker schon bisher zu kämpfen hatte. Viktor Orban war ein Beispiel.

In den letzten Wochen hat der Wahlkampf mindestens zwei Höhepunkte gebracht, mit denen wohl kaum jemand gerechnet hatte. Sie fielen medientechnisch etwas aus dem Rahmen. Sie betrafen zuerst unser Nachbarland Österreich, dann die jungen Deutschen.

Austria-Krimi

Der eine Vorfall wurde durch ein Video ausgelöst, das im Jahre 2017 in einer Finca auf Ibiza aufgenommen wurde. Darin ließ sich Heinz-Christian Strache, der Vorsitzende der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) schon vor den Wahlen in feucht fröhlicher Runde zu markanten, aber ungeschickten Aussagen verleiten. Wer diesen Plot ausgeheckt und durchgezogen hatte, ist bisher unbekannt. Da das Material nicht schon vor zwei Jahren veröffentlicht worden war, erschien die Europawahl als die wohl letzte Gelegenheit, um noch Wirkung zu erzielen.

Die Wirkung blieb nicht aus. Alle FPÖ-Politiker mussten die Regierung von Sebastian Kurz verlassen. Ihre Ämter wurden mit parteilosen Experten besetzt und Neuwahlen für September angekündigt. Alle an der Affäre nicht beteiligten Parteien erhoffen sich Vorteile bei der Europa-Wahl.

Macht der Blogger

Für Deutschland hat der Youtube-Blogger Rezo mit seinem Video Die Zerstörung der CDU den Europa-Wahlkampf in letzter Minute noch angeheizt. Das Video wurde bereits mehr als eine Million Mal angeklickt. Es fand in allen namhaften klassischen Medien Erwähnung und provozierte einige Youtube-Videos mit Gegendarstellungen.

Rezo war mir, dem Grufti, kein Begriff. Sein Video dauert eine Stunde. Das ist selbst für jugendliche Zuschauer eine Zumutung. Er hatte offensichtlich sehr viel Material analysiert und wollte Einiges davon unterbringen. Als Seelenverwandter von Greta Thunberg schien Klima sein Hauptanliegen zu sein. Die Bundesregierung, getragen von Union und SPD, habe viel versprochen und wenig davon gehalten. Dabei sorgt das Pariser Klimaabkommen dafür, dass man sich nicht auf andere beziehen kann, wenn man selbst versagt. Beim CO2-Ausstoß stünde Großbritannien um Klassen besser da als Deutschland. Den beiden Koalitionsparteien wird nur die Unfähigkeit vorgeworfen, den Worten auch Taten folgen zu lassen, so liegt es bei der Alternativen für Deutschland (AfD) anders. Ihre Vertreter bestreiten, was Tausende von Wissenschaftlern als Fakten ermittelt haben. Eines ihrer prominentesten Mitglieder wird als echt bescheuert dargestellt. Wer glaube, dass die Erde zu warm würde, solle die Sonne bitten, etwas weniger stark zu strahlen.

Die CDU/CSU sei schuld, dass die Reichen reicher und die Armen ärmer würden. Auch würde es die allerhöchste Zeit, die Amerikaner dazu zu bewegen, keine Drohnen mehr vom Stützpunkt Ramstein in der Pfalz aus durch die ganze Welt zu schicken. Die CDU habe jemand als Drogenbeauftragte ernannt, die sich fachlich nicht auskenne [die Forschungsministerin scheint ihn dagegen nicht zu interessieren. Hier verantwortet eine Hotelfachfrau das Milliardenprogramm]. Überhaupt sei Inkompetenz und Verantwortungslosigkeit bei allen etablierten Parteien unübersehbar. Man könne daher keine von ihnen wählen, eventuell mit Ausnahme der Grünen.

Wahltag bringt Klarheit

In Deutschland und Österreich findet die Wahl am Sonntag statt, also Übermorgen. In den Niederlanden wurde gestern gewählt. Nach ersten Mitteilungen erreichte die Wahlbeteiligung einen neuen Tiefpunkt. Die Partei von Frans Timmermans soll als Sieger hervorgegangen sein.

Als notorischer Briefwähler habe ich vor der Anheizung der letzten Tage meine Stimme abgegeben. Das Besondere an der aktuellen Wahl ist, dass der Stimmzettel in unserer Region 40 Parteien anbietet. Wenn dort für Jungwähler nichts dabei ist, weiß ich nicht, wie man ihnen entgegenkommen kann. Warten wir ab! Am Montag wissen wir mehr.

Montag, 20. Mai 2019

Wunder gibt es immer wieder, auch in der Informatik − glaubt man Juraj Hromkovič

Vor gut zwei Jahren stieß ich zufällig auf das Buch ‚Sieben Wunder der Informatik‘ von Juraj Hromkovič. Ich las es mit Vergnügen, fand aber den Titel etwas daneben. Behandelt wurden sieben mathematische Algorithmen und man suggerierte, dass dies der wesentliche Kern des Fachgebiets Informatik sei. Das konnte ich natürlich nicht unwidersprochen stehen lassen. Jetzt begegnete ich Hromkovič wieder, und zwar als der Gastherausgeber eines Themenhefts Bildung des Informatik Spektrums (2/2019).

Erfinderinnen und Entwicklerinnen ausbilden

Bilden wir die Erfinderinnen, Gestalter und Entwicklerinnen digitaler Technologie aus und nicht nur ihre Konsumenten! So überschreibt Hromkovič seinen Leitartikel. Er bezieht sich darin auf das so genannte Dagstuhl-Dreieck, das die Ausbildung in Informatik auf eine Reflexion über Technologien reduziert. Gestaltung und Entwicklung kämen darin nicht vor, meint er. Da spricht mir jemand aus der Seele, so dachte ich, ziemlich lange hat es gedauert.

Im anschließenden Hauptbeitrag definiert Hromkovič drei Wurzeln der Informatik, nämlich digitale Informationsdarstellung, Automatisierung per Algorithmen und Computertechnologie. Die Digitalisierung habe ihren Anfang vor rund 5.400 Jahren in Mesopotamien gehabt, als Steuerdaten von Millionen Einwohnern erfasst und außerhalb des menschlichen Gehirns gespeichert wurden. Algorithmik betrieben die Schüler des Pythagoras, als sie Dreiecke mit den Seitenlängen 3, 4 und 5 erzeugten, um zu rechten Winkeln zu kommen. Nur die Computertechnologie ist jüngeren Datums. Dass Hromkovič zwei weitere Wurzeln der Informatik anerkennt, grenzt fast an ein Wunder. Tontafeln mit Keilschrift als digitales Medium anzusehen, verwundert etwas.

Die Ausbildung Jugendlicher sollte informatisches Denken vermitteln, nicht nur das Drücken von Knöpfen. Im Gegensatz zur Mathematik kenne die Informatik meist verschiedene Lösungswege für ein Problem. Es gehe darum einen auszuwählen, zu implementieren und die Korrektheit der Implementierung nachzuweisen. Ein Informatiker muss drei Techniken beherrschen, das Erschaffen von Schriften aus Zeichen und Symbolen, das Bilden von Sprachen aus Wörtern und Sätzen und die Durchführung einer Kommunikation mittels einer Sprache. Ihre Fortschritte erzielte die Menschheit nicht nur durch die Erzeugung neuen Wissens, sondern auch durch die Entwicklung konstruktiver Vorgehensweisen im Falle fehlenden oder unvollständigen Wissens. Genau das ist es, was von jedem Informatiker verlangt wird. Nach Hromkovič, der seine Schulzeit in der ehemaligen Tschechoslowakei verbrachte, sind die Schüler im Ostblock offensichtlich dem Werteverfall entgangen, der sich im oben erwähnten Dagstuhl-Dreieck manifestierte. Mir kommt das wie ein weiteres Wunder vor.

Hromkovič hat seine Ideen in einem Lehrbuch Einfach Informatik dokumentiert, anhand dessen ein spiralförmiger Lehrplan (Spiralcurriculum) für die Informatik in Grundschulen und Gymnasien abgeleitet werden kann. Er bescheinigt sich selbst, dass diese Lehrmethode das kreative Potential der Schüler weckt, das Verständnis der Welt fördert und eine wichtige Kulturtechnik vermittelt. Im Vergleich zu meiner ersten Begegnung mit Hromkovič ist mein Eindruck dieses Mal ausgesprochen positiv. Ich kann fast jeden seiner Sätze unterschreiben, von einigen wunderhaften Extremen abgesehen.

Unglückliche Verknüpfung mit dem Mathe-Unterricht

Einige der weiteren Beiträge dieses Themenheftes bestätigen meinen früheren Verdacht, dass sich die Informatik keinen Gefallen tut, wenn sie eine zu starke Verwandtschaft zur Mathematik postuliert. Wenigstens vier Beiträge des Heftes befassen sich mit der Gefahr, die besteht, wenn Schüler mit Konzepten aus dem Mathematik-Unterricht in den Informatik-Unterricht wechseln. Die Rolle des Zeichen ‚=‘ mal als Gleichheit und mal als Zuweisung ist nur das trivialste Beispiel. Der Beitrag Kohn/Komm ist allein diesem Problem gewidmet. Auch die beiden Beiträge Hauser/Komm/Serafini behandeln eine Gruppe von Anwendungen, bei denen die mathematische Denk- oder Herangehensweise zu unnötigen Problemen führt.

Der Beitrag von Gallenbacher erinnert an die von Charles Sanders Peirce (1839-1914) eingeführte Abduktion. Als Gegenstück zur allseits bekannten Deduktion gestattet sie es, aus Fakten Theorien zu bilden. Wie alle Künstler und Ingenieure würden Informatiker als weiteren Begriff den der Konstruktion verwenden. Damit würden neue Fakten geschaffen. Der Informatik-Unterricht sei daher die Gelegenheit, um diesen philosophischen Begriff einzuführen.

Meine Ideen zu Informatik im Schulunterricht

Die Themen Informatik in der Schule oder Informatik als Allgemeinbildung waren mehrmals Gegenstand eines Beitrags in diesem Blog. Der Beitrag vom Juni 2013 befasste sich speziell mit den Ansichten von englischen, französischen und schweizerischen Kollegen. Nach der Kommodifizierung der Informatik in den 1980er Jahren wird vielfach von einer Zweiteilung gesprochen. Man käme nur weiter, wenn man trennen würde zwischen der Qualifizierung der Massen (engl. computer literacy) und der Fachausbildung der Spezialisten (engl. professional training). Quer dazu liegt die Frage, welche Informatik-Inhalte verdienen es als Teil der modernen Allgemeinbildung angesehen zu werden. Mir scheint es, als ob Hromkovič dazu neigt, hier den Beitrag der Informatik sehr hoch anzusetzen. Ich selbst neige eher dazu, hier etwas zurückhaltend zu sein.

Rechner in ihrer derzeitigen Ausprägung als Smartphones haben wirklich das Potential sich zu universell einsetzbaren Hilfsmitteln des täglichen Lebens zu entwickeln. Obwohl Autos oder Fahrräder ebenso wenig wegzudenken sind, was die räumliche Fortbewegung betrifft, ist bisher niemand auf die Idee gekommen zu verlangen, dass möglichst viele Menschen es lernen sollten, Autos oder Fahrräder zu bauen. Sie benutzen zu können, und auch einige Notsituationen selbst beheben zu können, ist jedoch wünschenswert. Die Arbeitsteilung ist ein Prinzip, das in der gesamten Wirtschaft zu gesteigerten Leistungen führte. Sie ermöglicht es, Fähigkeiten zu entwickeln und aktuell zu halten, die über das hinausgehen, was ein einzelner Mensch oder ein einzelner Betrieb benötigt und rechtfertigen kann.

Jeder Informatiker, der seine Tätigkeit professiohell ausübt, sollte sich einer Art von kategorischem Imperativ unterwerfen. Wenn man einen Vorgang automatisiert - sei es in der Wirtschaft oder im Privaten - dann sollte man dies so tun, dass niemand mehr dasselbe nochmals machen muss. Studentische Übungen sind ausgenommen. Mit dieser Haltung haben Hasso Plattner und seine Kollegen die Anwendungen eines britischen Chemiekonzerns (ICI) angegangen, bevor sie SAP gründeten. Im übrigen gibt es keinen besseren Ansatz, um das immerwährende Fachkräfte-Problem in den Griff zu bekommen.

Donnerstag, 9. Mai 2019

Interventionspolitik der USA unter Woodrow Wilson und FDR

Aus Anlass des hundertjährigen Jubiläums der deutschen Kapitulation nach dem Ersten Weltkrieg bietet das Luxemburger Nationalarchiv eine Online-Ausstellung an, die an dieses Ereignis erinnert. Besonders faszinierten mich dabei neun kurze Filme aus amerikanischen Quellen, die den Einmarsch amerikanischer Truppen im November 1918 in Luxemburg und in das Rheinland dokumentierten. Mein Vater sowie seine Geschwister hatten dies persönlich erlebt und erzählten öfters davon. Meine Geschwister und ich wurden im Februar 1945 Zeugen eines zweiten Einmarschs amerikanischer Truppen. Sie legten die Basis für die Welt, in der wir heute leben.

Woodrow Wilson vor dem Ersten Weltkrieg

Woodrow Wilson (1856-1924) entstammte einer presbyterianischen Pfarrersfamilie aus den Südstaaten. Er wurde in Virginia geboren und wuchs in Georgia (Augusta) auf. Er studierte in Princeton, NJ, und kehrte 1890 als Professor für Politische Ökonomie und Jurisprudenz dorthin zurück. Er schrieb Bücher über die Verfassung der USA (engl. constitutional government) und den Bürgerkrieg. Seine Vorbilder waren Edmund Burke (1729-1797) und der englische Parlamentarismus. Burke hatte eine Analyse der Französischen Revolution verfasst, die großen Eindruck hinterließ. Seiner Sichtweise kann ich mich heute noch voll anschließen: ‚Es ist besser und einfacher zu reformieren als niederzureißen und hinterher aufzubauen‘, so folgerte Burke.

Wilson wurde alsbald Präsident seiner Universität und baute diese zu einer der Spitzenschulen der USA aus. Er ließ jüdische Studenten und Professoren zu, aber keine Afroamerikaner. Im Jahre 1910 wechselte er in die Politik und wurde Gouverneur von New Jersey. Im Jahre 1912 wurde er Kandidat für die US-Präsidentschaft der Demokraten und gewann gegen Theodore Roosevelt (1858-1919) und William Taft [Teddy Roosevelt hatte eine eigene Partei gegründet]. Wilson galt als guter Redner und glaubte fest an eine Sonderrolle der USA, den amerikanischen Exzeptionalismus.

In der Innenpolitik ging Wilson den Weg vom Manchester-Liberalen zum Progressiven. Er erließ Gesetze gegen Kinderarbeit und führte eine Unfallversicherung für Bundesbedienstete ein. Er tat jedoch nichts gegen die soziale Ungleichheit und den Rassismus. In der Außenpolitik galt die Monroe-Doktrin. Sie galt seit Präsident James Monroe (1758-1831) und besagte, dass die Vereinigten Staaten sich in keine europäischen Konflikte einmischen würden und umgekehrt die Europäer die westliche Hemisphäre den Amerikanern zu überlassen haben. Sie war 1904 durch Teddy Roosevelt dahingehend ergänzt worden, dass die USA sich zum Eingreifen verpflichtet sahen, falls die Lage irgendwo in Amerika instabil zu werden drohte. In diesem Sinne unternahmen die USA 1914 einen Angriff auf die Hafenstadt Veracruz, um in die mexikanische Revolution einzugreifen.

Erschwerte Neutralität und propagandistische Profilierung

Das Ringen um die Aufgabe der Neutralität bezüglich des europäischen Schlachtfelds zog sich über Jahre. Weil deutsche U-Boote im Atlantik auch neutrale Schiffe attackierten, baute sich in den USA eine Deutschland feindlich gesinnte Stimmung auf. Einen Höhepunkt bildete die Versenkung der HMS Lusitania im Mai 1915, wobei 1200 Personen den Tod fanden. Zu denen, die damals eine Kriegserklärung an Deutschland forderten, gehörte der junge Franklin D. Roosevelt (FDR). Er übte in Wilsons Regierung damals das Amt des Staatssekretärs im Marineministerium aus. Wilson plädierte weiter für die Beibehaltung der Neutralität.


Wilsons 14 Punkte von 1917

Zum großen Leidwesen, sowohl der Franzosen wie der Engländer, sah sich Wilson weniger als Kriegsverbündeter denn als Mahner und Schiedsrichter. Sein 14-Punkte-Programm, das er im Januar 1918 im US-Kongress vorstellte, löste daher gemischte Reaktionen aus. Frankreichs stets scharf formulierender Georges Clemenceau (1841-1929) lästerte, dass Moses mit 10 statt mit 14 Geboten ausgekommen sei. Der britische Premier David Lloyd George (1863-1945) meinte später, Wilson sei ruhmvoll gescheitert. Mit den 14 Punkten habe er zu den Sternen gegriffen. Wilsons amerikanische Widersacher Theodore Roosevelt und Henry Cabot Lodge senior (1850-1924) bezeichneten das Dokument als wolkige Rhetorik und Heuchelei. Noch vor Ende des Krieges schloss England mit Italien Geheimverträge ab auf Kosten Österreichs und des Osmanischen Reiches.

Die endgültige Wende zum Eingreifen kam, als im April 1917 Deutschland den U-Boot-Krieg wiederaufnahm und gleichzeitig der Staatssekretär Zimmermann im deutschen Auswärtigen Amt die Regierung Mexikos aufforderte, die USA anzugreifen, um dadurch Texas, Arizona und Neu-Mexiko wiederzugewinnen. Das bewog den US-Kongress, Deutschland den Krieg zu erklären. Die USA gaben den Grundsatz der Nichteinmischung auf. Man wolle die Welt sicherer machen für die Demokratie – so hieß es − und zwar für alle Völker, auch für Deutschland.

Militärische Expedition nach Europa

Präsident Wilson ernannte im Mai 1917 Generalmajor John Joseph Pershing (1860-1948) zum Kommandeur der amerikanischen Eingreiftruppen (engl.: american expeditionary forces, Abk. AEF). Pershing bestand darauf, dass die US-Truppen nicht nur dazu benutzt wurden, um Lücken in der französischen und britischen Armee zu schließen − wie dies die Alliierten wünschten − sondern dass sie als eigene Kampfeinheiten auftreten sollten. Dies erklärt teilweise die relativ hohen Verluste, welche die AEF zu beklagen hatte. Über 100.000 Tote blieben auf dem Schlachtfeld, weitere 20.000 fielen danach der Spanischen Grippe zum Opfer (im Zweiten Weltkrieg waren es über 400.000 Tote).

Die ersten amerikanischen Truppen landeten im Juni 1917 in Europa. Die AEF beteiligte sich jedoch erst ab Oktober 1917 an den Kampfhandlungen, und zwar in der Nähe von Nancy. Den Hauptschlag versetzte die AEF Anfang 1918 an der Verdun-Front. Dort verdrängte sie die deutschen Einheiten aus ihren seit drei Jahren gehaltenen Stellungen. Die Verschiffung von über einer Million Soldaten über den Atlantik wurde zu einer großen logistischen Aufgabe. Sie zu bewältigen verhalf der amerikanischen Wirtschaft zu bisher nicht gekannter Stärke. Bis zum Ende des Krieges hatten auch über 350.000 Afroamerikaner an der Westfront gedient. Sie wurden jedoch getrennten Einheiten zugewiesen, die von weißen Offizieren befehligt wurden. Sie wurden hauptsächlich mit Nachschubaufgaben betraut.

Wilson auf Pariser Friedenskongress

Nachdem ein Waffenstillstand vereinbart worden war, begann im Januar 1919 der berühmte Friedenskongress von Versailles. Es nahmen über 10.000 Personen teil. Geleitet wurde der Kongress von dem aus Clemenceau, Lloyd George, dem italienischen Minister Vittorio Orlando und Wilson gebildeten 'Rat der Vier'.

Rat der Vier, Paris 1919
Da die Republikaner die Kongresswahlen 1918 gewonnen hatten, bestritten sie Wilson das Recht, die USA in Paris zu vertreten. Er fuhr trotzdem hin. Sein Einfluss wirkte durchaus mäßigend auf den Vertrag, der im Mai Deutschland zur Annahme übergeben wurde. Wilson konnte die 14 Punkte nur zum Teil und in entscheidenden Punkten nicht durchsetzen. Das lag daran, dass Clemenceau das französische Revanchebedürfnis befriedigen und auch Orlando in Südtirol die italienischen Annexionswünsche durchsetzen wollte. Wilson wurde 1919 der Friedensnobelpreis verliehen.

Wilsons Scheitern und politisches Ende

Wie andere ausländische Politiker so unterschied auch Wilson zwischen dem deutschen Volke und seiner militärischen Führung. Nach dem harten Frieden von Brest-Litowsk, den Deutschland Russland Anfang 1918 aufgezwungen hatte und den die deutsche Opposition nicht verurteilt hatte, soll sich Wilsons Auffassung geändert haben. Bekannt ist auch seine Bemerkung Lloyd George gegenüber, dass ihn die deutsche Fachliteratur auf seinem Fachgebiet, dem Staatsrecht, immer enttäuscht habe.

Der US-Kongress lehnte den mit dem Versailler Vertrag verbundenen Beitritt zum Völkerbund ab. Der Republikaner Warren Harding (1865-1923) gewann 1920 die Präsidentenwahl, indem er sich unter anderem gegen die missionarische Rhetorik und die Selbststilisierung Wilsons wandte. Unter ihm und seinem Nachfolger Coolidge kam es wieder zur Abkehr vom Interventionismus und einer vom Isolationismus geprägten Außenpolitik.

FDR vor dem Zweiten Weltkrieg

Auch Franklin D. Roosevelt (1882-1945) gehörte wie Wilson der Demokratischen Partei an. Er entstammte einer bekannten und wohlhabenden Familie holländischer Abstammung aus dem Staat New York. Sein Geburtsort und zugleich sein lebenslanger Wohnort war Hyde Park, nördlich von Poughkeepsie, NY, direkt am Hudson gelegen. Seine Mutter Sara Delano, die bis 1941 bei ihm wohnte, hatte großen Einfluss auf ihn. Sie entstammte der in Leiden ansässigen Familie De Lannoy, deren Namensträger seit dem Mittelalter zum flämischen Uradel gehörten. [Ein Ferdinand de Lannoy (1520-1579) stand im Dienst Karl V. und Philipp II. und war der Statthalter der Provinz Holland in den spanischen Niederlanden. Eine Stéphanie de Lannoy (*1946) ist die Gemahlin des Erbherzogs Guillaume von Luxemburg]. Franklins Ehefrau Eleonore war eine entfernte Verwandte aus der in Oyster Bay, NY, beheimateten Familie des Theodore Roosevelt.

Nach einem Studium der Jurisprudenz wurde FDR 1910 in den Senat des Staates New York in Albany gewählt. Woodrow Wilson machte ihn von 1913 bis 1921 zum Staatssekretär im Marineministerium. Im August 1921 erkrankte er an Kinderlähmung; er war fortan von der Hüfte ab weitgehend gelähmt und konnte kaum selbstständig gehen. Er nahm 1928 seine politische Karriere wieder auf und wurde zum Gouverneur von New York gewählt. Dieses Amt übte er bis 1932 aus und konnte dort wichtige Reformen zur Bekämpfung der Großen Depression umsetzen.

Bei den Wahlen zur US-Präsidentschaft von 1932 besiegte er den Amtsinhaber Herbert Hoover. Nach seiner ersten Amtszeit wurde er dreimal (1936, 1940 und 1944) wiedergewählt – er ist damit der einzige US-Präsident, der länger als zwei Wahlperioden amtierte. FDRs Präsidentschaft war vor allem durch innenpolitische Reformen unter dem Schlagwort New Deal zur Bekämpfung der Weltwirtschaftskrise geprägt. Seine Politik setzte die Leitlinie zum regulierenden Eingreifen der amerikanischen Regierung ins wirtschaftliche Geschehen, um bestimmte, im allgemeinen Interesse bestehende Ziele durchzusetzen. Zudem brachten die Einführung der Sozialversicherung und eines bundesweiten Mindestlohns nachhaltige Veränderungen im Sozialwesen des Landes mit sich – so sieht es Wikipedia.

Eintritt in den Zweiten Weltkrieg  − pazifischer Teil

Roosevelt hatte 1940 die Wahl mit dem Versprechen gewonnen, sein Land aus dem gerade ausgebrochenen Krieg in Europa herauszuhalten. Der Überfall der Japaner im Dezember 1941 auf Pearl Harbor machte dieses Versprechen obsolet. Nicht nur waren über 2400 Amerikaner ums Leben gekommen. Japans Verbündeter Deutschland erklärte den USA am darauf folgenden Tag den Krieg. Der Überfall erwies sich nicht nur für Japan sondern auch für Deutschland als fatal. Angesichts des enormen Industriepotentials der USA wandte sich das Blatt jetzt zugunsten der Alliierten.

Da die öffentliche Meinung in den USA einen Gegenangriff auf Japan erwartete, wurden ab 1942 Truppen in den Pazifik entsandt. Die Japaner erwiesen sich als äußerst kompromissloser Gegner, was auf beiden Seiten zu vielen Kriegsverbrechen und hohen Verlusten führte. Die Schlacht um Midway im Juni 1942 erbrachte einen klaren Sieg der Amerikanern, der sowohl in militärischer Hinsicht als auch für die Kampfmoral der US-Streitkräfte von hoher Bedeutung war.

Europäischer Feldzug

Einem Wunsch Stalins entsprechend sahen sich Churchill und Roosevelt veranlasst, amerikanische Einheiten in Marokko zu landen. Sie sollten das in Libyen operierende deutsche Afrikakorps in die Zange nehmen. Die im November 1942 durchgeführte Invasion erwies sich als Erfolg. Churchill schlug nun vor, das Deutsche Reich vom Mittelmeer aus anzugreifen. FDR zeigte sich beim Treffen der beiden in Casablanca im Januar 1943 nicht sehr angetan, stimmte aber der Landung in Sizilien zu. Sie wurde im Juli 1943  durchgeführt. Stalin forderte einen Angriff auf Deutschland unmittelbar vom Atlantik aus. Nur das könnte seine Truppen entlasten.

Unterdessen begannen ab 1943 die Streitkräfte der USA und des Vereinigten Königreiches mit ausgedehnten Luftangriffen gegen Ziele in Deutschland und Japan. Hier zeigte vor allem die Überlegenheit der amerikanischen Luftwaffe große Erfolge. Durch die Bombardierung großer Städte kam es jedoch sowohl in Deutschland als auch Japan zu hohen Verlusten in der Zivilbevölkerung. Anders als im Ersten Weltkrieg hatten sich die Alliierten früh darauf verständigt, den Krieg bis zur bedingungslosen Kapitulation der Achsenmächte fortzuführen.

Endkampf beginnend in der Normandie

Während von Süden her amerikanische und britische Einheiten sich durch Italien hochkämpften, drang von Osten her die Rote Armee immer weiter vor. Im Juni 1944 begannen Amerikaner und Briten, unterstützt von kanadischen Truppen, mit der als D-Day bekannt gewordenen Invasion in der Normandie (Operation Overlord). Mit der militärischen Planung und Durchführung des Unterfangens hatte Roosevelt den General und späteren US-Präsidenten Dwight D. Eisenhower (1890-1969) beauftragt. Trotz hoher Verluste auf beiden Seiten erwies sich auch diese Operation als voller Erfolg. Nun war eine zweite Front gegen die Wehrmacht eröffnet. Sowohl Briten und Amerikaner als auch die Sowjets konnten die deutschen Verbände jetzt rasch zurückdrängen. Bereits im August des Jahres gelang den westlichen Alliierten der Einzug in Paris.

Da der Sieg der Alliierten sich langsam abzeichnete, trat die Frage der Nachkriegsordnung auf den Plan. Eine erste Konferenz, die sich damit beschäftigte, fand Anfang 1943 in Teheran statt. Es war die erste persönliche Begegnung zwischen FDR und Stalin. Stalin bestand bei den Gesprächen in Teheran darauf, jene polnischen Gebiete zu behalten, die er sich im Rahmen des Hitler-Stalin-Pakts von 1939 angeeignet hatte. FDR stimmte dem zu, um so Stalin die Zustimmung zur Gründung der Vereinten Nationen (UN) abringen zu können. FDR hatte Wilsons Vision wiederaufgegriffen, eine weltweite Organisation zu schaffen, mit deren Hilfe künftige Konflikte auf diplomatischen Wegen gelöst werden könnten. Dabei sollten den USA, der Sowjetunion, dem Vereinigten Königreich, Frankreich und der Republik China eine Schlüsselrolle zufallen, indem ihnen im Weltsicherheitsrat, dem höchsten Organ der Institution, ein Vetorecht eingeräumt würde. Stalin gab seine Zustimmung, da die Mitgliedschaft im Weltsicherheitsrat seinem Land einen Platz am Tisch der mächtigsten Nationen gab.

Morgenthaus Plan

Roosevelts Finanzminister Henry Morgenthau (1891-1967) schlug vor, Deutschland nach dem Sieg der Alliierten in einen Agrarstaat umzuwandeln, um so zu verhindern, dass von Deutschland je wieder ein Angriffskrieg ausgehen könnte. Die deutsche Wirtschaft sollte etwas das Niveau von 1870 haben. Die industriellen Zentren sollten demontiert und die maschinellen Einrichtungen an Russland als Reparationen geliefert werden. Der Morgenthau-Plan gelangte jedoch nicht in ein konkretes Planungsstadium. In Deutschland weckte er tiefes Misstrauen gegen die USA, was bei Wilsons 14 Punkten ganz anders war.

FDR stimmte zwar der vollständigen Entwaffnung Deutschlands und der Zerstörung der gesamten Rüstungsindustrie zu, allerdings verwarf er den Morgenthau-Plan ausdrücklich bereits im Oktober 1944. Stattdessen solle die Ideologie des Nationalsozialismus vernichtet, die NS-Funktionäre für ihre Taten bestraft und Deutschland ein demokratischer und friedlicher Rechtsstaat werden. Um dauerhaften Frieden auf dem Kontinent zu erreichen, sprach er sogar von der Notwendigkeit des europäischen Zusammenschlusses, genau wie Churchill dies tat. Nach dem Kriegsende ersetzte Harry Truman Morgenthau als Finanzminister.

Von Jalta zur vierten Amtszeit

Als Herausforderer Roosevelts trat 1944 der republikanische Gouverneur von New York, Thomas E. Dewey (1902-1971), in den Ring. Um Gerüchten vorzubeugen, sein Gesundheitszustand habe sich verschlechtert, bestand Roosevelt auf einer energischen Wahlkampagne. So unternahm er ausgedehnte Reisen durchs Land, hielt mehrere Reden und fuhr in offenem Wagen durch die Städte, um Hände zu schütteln. FDR gewann die Wahl – seine vierte.

Große Drei, Jalta 1945
Kurz nach seiner Vereidigung begab er sich auf die Reise nach Jalta, um sich Anfang Februar 1945 mit Stalin und Churchill über die Nachkriegsordnung zu beraten. Die 'Großen Drei' verabredeten die Aufteilung Deutschlands und Österreichs in vier Besatzungszonen (neben den drei Hauptalliierten wurde später auch Frankreich eine Zone zugestanden). Für Stalin war es ein Erfolg, dass man die Tschechoslowakei und die baltischen Staaten seinem Einflussbereich zuschlug. Einigkeit bestand jedoch in der Bestrebung, die Vereinten Nationen zu gründen.

In den Wochen bis zur Kapitulation Deutschlands traten die ideologischen Gegensätze der Westmächte und der Sowjetunion mehr und mehr zutage. William Averell Harriman (1891-1986), der US-Botschafter in Moskau, lenkte in einem Memorandum Roosevelts Aufmerksamkeit auf die geänderte Situation. „Wir müssen klar erkennen, dass das sowjetische Programm die Einrichtung totalitärer Regime ist, das Ende von persönlicher Freiheit und Demokratie, so wie wir sie kennen“ schrieb er.

Nur wenige Wochen vor der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht starb der gesundheitlich angeschlagene FDR im April 1945 an einer Hirnblutung. Die Nachfolge als Präsident trat sein Stellvertreter Harry S. Truman (1884-1972) an. FDR ist in Amerika wegen seiner progressiven Reformpolitik des New Deal in hohem Ansehen, allerdings nur in den eher links gerichteten Kreisen der Ostküsten-Demokraten. Das gleiche gilt für seine Außenpolitik. Er versuchte anstelle eines Nationalismus dem Gedanken der globalen Abhängigkeit aller von allen Geltung zu verschaffen. Ausdruck wurde dem 1945 durch die Gründung der Vereinten Nationen (UN) verliehen, die FDR maßgeblich vorangetrieben hatte. Seine Politik des Interventionismus und des Internationalismus war nie unangefochten. Der Isolationismus ist in den USA eine latente Option, die jederzeit mit neuer Stärke in Erscheinung treten kann.

PS. Zwei Bücher liegen diesem Beitrag zugrunde, Manfred Bergs Woodrow Wilson (2017, 277 S.) und Roy Jenkins‘ Franklin D. Roosevelt (2004, 208 S.). Auch Wikipedia war wieder eine ergiebige Quelle.

Samstag, 4. Mai 2019

Sozialistische Tagträumereien, frei nach Juso-Chef Kevin Kühnert

Die Mitglieder der Jugendorganisation der SPD, die Jusos, fallen hin und wieder auf. Meist hat dann einer ihrer Aktiven etwas gesagt oder getan, was nicht in die Tagespolitik der Mutterpartei passt. Dieser Tage bereitete die ZEIT Kevin Kühnert eine Plattform, um sich auszulassen. Kühnert ist bundesweit bekannt geworden durch seinen Widerstand gegen den Eintritt der SPD in die Große Koalition. Zwei Aussagen hatten es dieses Mal in sich. (a) Man solle Firmen wie BMW endlich in Kollektivbesitz überführen und (b) Man solle kein Eigentum an Wohnungen zulassen, die man nicht selbst bewohnt.

Reaktion der SPD und der Gewerkschaften

Es war nicht zu verwundern, dass alle rechts von der SPD stehenden politischen Gruppierungen sich nur dadurch unterschieden, mit welchen Worten sie ihre Abscheu zum Ausdruck brachten. Erwähnenswert ist nur die Reaktion der SPD. Der rechte Seeheimer Kreis der SPD unter einem Johannes Kahrs sprach vom Verdacht auf Rauschmittelgenuss. Der Finanzminister Olaf Scholz erinnerte an seine eigenen Jugendsünden vor 40 Jahren. Der ewige Linke vom Dienst und Parteivize Ralf Stegner meinte, Nachdenken sei doch kein Fehler.  Andrea Nahles schien zunächst sprachlos. Dann sagte sie, das was Kühnert wolle, sei nicht die derzeitige Politik der Partei.

Da der Betriebsratsvorsitzende von BMW sich direkt angesprochen fühlte, reagierte er auch am klarsten. Manfred Schoch meinte sogar: „Für Arbeiter deutscher Unternehmen ist diese SPD nicht mehr wählbar.“ Bei kaum einem anderen Unternehmen in Deutschland seien die Arbeitsplätze so sicher und gut bezahlt, die Renten so hoch und die Arbeitsbedingungen und die Arbeitszeitmodelle so fortschrittlich wie bei BMW.

Als süddeutscher Beobachter möchte ich noch hinzufügen, dass ein Berliner Student, auch wenn er 29 Jahre alt ist, es generell schwer hat, wenn er bayrischen Werktätigen Ratschläge erteilt.

Peter Hiemann aus Grasse schrieb:

Ich interpretiere den Vorschlag der Kollektivierung und 'hysterische' politischen Reaktionen als nicht ernst zu nehmender Aktionen, die am Ende nichts bewirken. Das gut geführte Unternehmen BMW als Ziel wirtschaftlicher Umgestaltungen vorzuschlagen, ist purer Unsinn. Es ist historisch erwiesen (Russland, China), dass Kollektivierung von Produktionsmitteln kontraproduktiv ist.

Gesellschaftliche Bewegungen wie  'Fridays for Future' (ausgegangen von Schweden), 'Extinction Rebellion' (ausgegangen von London) und 'Gilets jaunes' in Frankreich werden von Politikern und Journalisten eher ernst genommen. Ob sie am Ende etwas bewirken, ist eher unwahrscheinlich. Gesellschaftliche Bewegungen, verursacht durch gravierend neue technische Entwicklungen und gesellschaftliche Möglichkeiten, werden von allen ernst genommen. Einige existierende Computersysteme bewirken bereits  Änderungen menschlicher Denk- und Verhaltensweisen. Existierende Umweltprobleme, unerwünschte Kapitalkonzentrationen und eine voraussehbare wirtschaftliche Finanzkrise könnten  Anlass sein, Kapital 'intelligenter' einzusetzen als derzeit üblich und gewohnt.

Zur Erinnerung: Im 20. Jahrhundert verursachte die Weltwirtschaftskrise, dass es in den Vereinigten Staaten zu einen großen Umbruch in politischen, wirtschaftlichen und sozialen Systemen kam. Präsident Franklin D. Roosevelt (FDR) setzte umfangreiche Wirtschafts- und Sozialreformen durch, die als New Deal bezeichnet wurden.

Franklin Delano Roosevelt  (1882 – 1945)  war von 1933 bis zu seinem Tod 1945 der 32. Präsident der Vereinigten Staaten. Er gehörte der Demokratischen Partei an. Seine Politik setzte die Leitlinie zum regulierenden Eingreifen der amerikanischen Regierung ins wirtschaftliche Geschehen, um bestimmte, im allgemeinen Interesse bestehende Ziele durchzusetzen. Zudem brachten die Einführung der Sozialversicherung und eines bundesweiten Mindestlohns nachhaltige Veränderungen im Sozialwesen des Landes mit sich.

PS: Mit zwei US-Präsidenten, die ähnliche Situationen zu meistern hatten, wird sich einer meiner nächsten Beiträge befassen, mit Woodrow Wilson und FDR.


Klaus Küspert aus St. Leon-Rot schrieb:

'Ungerechtigkeit ist nicht nur ein Gefühl' meint der DIW-Präsident Marcel Fratzscher im Handelsblatt. Er ist sicher nicht als verkappter Marxist einzustufen ;-) [Ich meine doch. BD]